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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Nur der eine Augenblick ...!

© Leander Wonhalla


Es begab sich in der Nacht zum 2. Februar 2002. Ich behaupte, dass die Ereignisse dieses nasskalten Februarmorgens, eine entscheidende Wende in meinem bisherigen Leben bewirkt haben. "Aber was war es, das mein Leben bis heute noch so nachhaltig beeinflussen sollte? ", werden Sie sich fragen. Eine rationale Erklärung dafür habe ich nicht. Dennoch schwingen die Erlebnisse jeden Tag in mir und zuweilen zweifle ich daran, ob sie sich so oder so ähnlich zugetragen haben. Doch urteilen Sie selbst, lieber Leser.
Die vorangegangenen Tage des Ereignisses waren durchzogen von meiner Sucht nach Geltung, Sucht nach Anerkennung, Sucht nach Liebe und Zuneigung und der Sucht nach Alkohol. Nachts wankte ich durch die Strassen meiner "Wahl"-Kleinstadt . Immer auf der Suche nach einer offenen Kneipe, bei der ich noch Kredit hatte, es sei denn, ich hätte ihn nicht bereits durch rüdes Verhalten verspielt. Tags drauf, so gegen die Mittagszeit erwachte ich dann in meinem Dümpel. Inmitten eines Chaos von leeren Flaschen, abgegessenen und ungespülten Tellern, herumliegenden Klamotten und einer trüben Aussicht aus dem Fenster meiner kleinen Dachgeschosswohnung. Darüber grübelnd, was wohl am Vorabend geschehen sei und ob ich vielleicht in meiner Trunkwut jemanden erschlagen hätte. Über die Schrammen an meinem Körper wagte ich erst gar nicht nachzudenken, da sie entweder ein Souvenir oder eine Mahnmal einer unliebsamen Begegnung gewesen sein mussten. "Business as usual…!", dachte ich dann so bei mir. Wenn ich aus dem Fenster blickte, wanderten die Reste meiner halbwegs klaren Gedanken blickgerichtet in die Gassen, die man von meinem Fenster einsehen kann. Da erblickte ich geschäftiges Treiben von Menschen, die ihren Lebensinhalten nachgingen und beneidete sogar jede Katze, die nach erfolgreicher Jagd, einen Bissen vom reich gedeckten Tisch der Natur, ergattern konnte. "Soviel Lebenskraft, soviel Lebenswille...!", schloss ich meine Betrachtungen und sah mich Hilfe suchend nach Trinkbaren um. Auch überfielen mich wieder dieses nie endend wollende Zittern und die Schmerzen in meinen Eingeweiden. In mir keimte die Angst auf, jetzt wieder raus zu müssen, um Nachschub zu holen. Immer diese hämischen Blicke, wenn ich zitternd mein Kleingeld zählte um den erlösenden Schnaps endlich in Empfang zu nehmen. Ich wusste was "Sie" dachten und es beschämte mich immer noch. Immer dann, wenn ich nicht betrunken genug war, um es zu ignorieren oder gar noch wahr zu nehmen. Wieder fand ich einen Rest in einer havarierten Flasche ohne Hals und ließ mir das Zeug durch den Leib gluggern. Danach das rituelle Erbrechen, wenn ich die WC-Schüssel gerade noch rechtzeitig erreicht hatte. Sogar beim Würgen gingen mir groteske Betrachtungen durch den Kopf. Ich sah mich drei Jahre zuvor, wie ich Frau und Kind wegen einer "Anderen" verlassen hatte und erinnerte die traurigen Blicke meiner Frau und meines Sohnes, als ich mich zu einem letzten Gruss noch einmal nach ihnen umsah. Inzwischen hatte mich meine neue Eroberung auch verlassen und wieder hinterlies ich ein Beziehungschaos. Die Gedanken wühlten heftig in meinem Innersten und Schnaps war der einzige Trost, den ich hatte. Ich hatte es bereits einmal geschafft elf Jahre meines Lebens trocken zu überstehen. Dann brach alles über mich hinein. Wieder verlor ich meine Arbeit, stieß Menschen vor den Kopf, die mir viel bedeutet hatten und warf mein sicheres Leben einfach weg. Auch Ermahnungen von inzwischen neu geknüpften Freundschaften erwiesen sich bei mir als sinnlos. Ich hörte zwar die Schüsse, registrierte aber die Einschläge nicht. So war ich am Ende völlig allein. Allein mit mir, meiner Flasche und voll von ungetröstetem Selbstmitleid. Eigentlich wollte ich auch nicht mehr so richtig leben. Es fiel mir aber schwer, eine klare Entscheidung zu treffen. Insbesondere als ich an einem der Vorabende mit einer brennenden Zigarette in meinem Suff eingenickt war und plötzlich rücklings auf meinem Fußboden erwachte und einen brenzligen Geruch wahrnahm. Ich konnte mich nicht rühren und so richtig einordnen, was geschehen war. Ich spürte nur wie mich etwas oder jemand von hinten mit einer fremdartigen Leichtigkeit anhob und mir auf die Beine half. Dann erst registrierte ich die Zigarette neben mir auf dem Boden, die sich allmählich in den Teppich fraß und einen schwelend beißenden Geruch verbreitete. Erschrocken sah ich mich um und hob die Zigarette auf, um sie im Aschenbecher zu erdrücken. Unsicher und ängstlich ging ich im Raum umher; aber niemand außer mir war in diesem Raum. Ich spürte nur, wie etwas in mir sagte: " Es ist jetzt gut. Setz Dich und ruhe Dich aus. Wir werden dann weiter sehen." Seit diesem Ereignis, spürte ich wie sich etwas "Übergeordnetes" in mein Leben einzumischen suchte und Gedanken nach "Aufgeben..." sehr erschwerten. Bis der Morgen des 2. Februar hereinbrach.
Seltsamerweise hatte ich aus welchen Gründen auch immer am Vorabend nichts Alkoholisches zu mir genommen. Ich saß nur da und starrte an die Decke und gab mich keinem Gedanken hin. Plötzlich tauchte sich die Zimmerdecke in ein unbeschreibliches Blau und an allen Stellen der blau überzogenen Decke blitzten kleine goldene Funken auf. Ich sah wie sie sich zu Figuren formierten. Immer in konzentrischer Bewegung. Nach und nach wurden die kleinen Blitze zu sich drehenden Rosetten, die so golden waren, wie ich sie nur annähernd beschreiben kann. Einige davon bildeten eine Kette, die sich in spiralförmiger Figur vor meinen Augen zum Zentrum meiner Decke erklärten. Dann verdunkelter sich der ganze Raum und mit einer Farbexplosion von Gold und Blau erstrahlte die Zimmerdecke zu einem offenem Firmament. Und eine gewaltige Stimme erhob sich aus dem Schauspiel von Farbe und Choreographie. Ich wurde mit einem lauten, aber gütig schwingendem Lachen aus meiner "Hypnose" geweckt und hörte die Stimme sagen: " Na..., wie lange willst Du Dich und andere noch zum Narren halten?" Ich hörte mich nur sagen: "Ich wusste, dass Du kommst, um mich das zu fragen. Ich habe auch keine Antwort vorbereitet. Zu sehr ängstigte mich das alles hier!" "Hast Du denn jetzt Angst?", erwiderte die Stimme. "Nein....", gab ich nach einer Pause zurück. " Das ist gut!", sagte die Stimme und es war als hatte mich etwas in den Arm genommen, wie man es mich in meinem ganzen Leben noch nicht fühlen ließ. Je mehr "Es" mit mir sprach, desto klarer wurde mir mein bisheriges Leben. Nichts von Vorwürfen, nichts von zurückbleibender Wut und Trauer. Ich spürte die Intension des Augenblicks, der uns miteinander verband und plötzlich war alles ganz leicht und von einer wunderschönen Ernsthaftigkeit wie ich sie noch nie zuvor erfahren habe. Alle Gesetzte der Physik schienen ausgehebelt zu sein. Es war als schwebte ich auf jedem Gedanken, den wir austauschten. "Wieso fühle ich mich so unbeschwert?", hörte ich mich fragen. "Weil nur der Augenblick zählt und frei von Last ist von dem was hinter und vor Dir liegt", kam die Antwort. Und einer großen Geste gleich, erschloss sich mir mein Leben, als ich in das flimmernde Firmament blickte. Ich sah Menschen, Situationen und Dinge, die mir soviel bedeutet hatten und heute noch bedeuten. Ich sah viele Missverständnisse und dadurch Verkettungen ungewollter Ereignisse. Und das alles nur, weil der Augenblick nicht zählen durfte. Jetzt spürte ich ihn ganz deutlich. Frei von Zeit und Raum und so wahrhaftig, dass ich überwältigt war. Mir wurde bewusst, dass meine Existenz durch andere bedingt wurde, so wie ich die Existenz anderer bedinge. Wenn auch oft für die meisten unbemerkt, ungehört oder sogar verschmäht. Es bleibt die Wahrheit, die sich in jedem Augenblick vollzieht, wie sie wahrer nicht sein kann. Ich begriff, dass ich lernen musste, die Angst vor dem Augenblick zu überwinden um die Gelegenheit zu ergreifen, diesem Quäntchen, das sich in unser aller Leben vollzieht, so klar und deutlich wie nur irgend möglich, eine Gestalt zu geben. "Denn nur was Du klar benennen kannst, hat auch Deine Aufmerksamkeit und Hingabe", war eine der Botschaften dieser wundersamen Wesenheit. Wir schwebten bis in die frühen Morgenstunden in mir so fremden und doch vertrauten Sphären des 2. Februar und ich spürte wie mich eine Müdigkeit voll inneren Friedens überkam und ich mich zum ersten mal, wohlig in eine Decke von Geborgenheit und Zuneigung hüllen konnte, weil ich es auch durfte.
Ich erwachte wenige Stunden danach auf meiner Couch und fühlte zum ersten mal seit vielen Monaten, eine ungeheure Entspannung. Ich zitterte nicht, fühlte mich körperlich und geistig intakt. Ich sah mich in diesem selbst hervorgebrachtem Chaos meiner Unzulänglichkeit in meinen Räumen um und sagte zu mir: "Das bist Du nicht. Jetzt lebe, wer oder was Du bist!" Ich machte mich an die Arbeit und begann meine Wohnung meiner inneren Überzeugung anzupassen. Ich ging wieder am Tage auf die Strasse. Traf Bekannte und lebte nach dem mir immer präsentem Gefühl, den Augenblick zu beherzigen und die Dinge nicht so anzuschauen, wie sie scheinen. Seit diesem Februarmorgen rührte ich keinen Tropfen mehr an und lernte die Dinge und Menschen auszuhalten, wenn sie belastend wirkten. Immer wieder einmal passiert es, dass ich vergesse, was in jener Nacht geschehen war. Doch erinnere mich stets gut an diese liebevolle Stimme, die mich in viel mehr Augenblicken meines jetzigen Lebens zuweilen begleitet und mich in gewisser Weise im Miteinader führt. So führt sie mich in einer Selbsthilfegruppe und als Vorsitzender in einem gemeinnützigen Verein von Alkoholsucht betroffener Menschen und deren Angehörigen. So weit führten mich meine bisherigen intensiveren Augenblicke meines neuen Lebens.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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