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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Kaninchen mit schwarzem Stups
© Bernadette Jessulat
Ihre Kaninchen hatten immer diesen schwarzen Stups über der Nase.
Manchmal eine große, schwarze Seeräuberklappe, sanft auslaufend zur Nase hin, in einem kleinen Stups endend, manchmal nur ein kleiner schwarzer Fleck. Aber immer dieser Stups.
Das wievielte war es jetzt? Das dritte?, das vierte? So genau wusste sie es nicht mehr. Starb das eine, so packten ihre Eltern die Schwester ins Auto und holten das nächste. Und dann lag wieder ein Neues in den Armen der Schwester, heftig atmend, mit zittrigem Schnurrbart, und großen spiegelblanken Augen.
Sie beobachtete das kleine Wesen, das jetzt fast asthmatisch atmete. Die Hand ihrer Schwester war im Fell verkrallt. Die Finger hoben und senkten sich im Takt des atmenden Bäuchleins. Es war das vierte, da war sie sich jetzt ziemlich sicher.
Ihre Schwester war noch ziemlich klein, als sie ausgezogen war. Das erste Kaninchen kam ins Haus, da wohnte sie schon bei Emilio.
Ihre Schwester drückte jetzt kräftig auf den Kaninchenrücken und lachte.
Gleich würde sie ihr das Kaninchen wegnehmen. Das Gesicht der Schwester strahlte, kleine Spuckebläschen bildete sich im rechten Mundwinkel.
Als die Krankheit offensichtlich wurde, die Beine Schienen, der Rücken ein Korsett brauchte, es klar wurde, das ihre Schwester niemals Freunde auf der Straße haben würde, oder auch nur einmal alleine auf dem Spielplatz gehen könnte, da rieten die Ärzte zu einem Tier. Und der Rat der Ärzte war für ihre Eltern Gesetz. Sozialverhalten trainieren nannten sie das. Kaninchen für Kaninchen und immer wieder neu. Dieses ewige Befummeln der Tiers, sie hatte es nicht ertragen können. Sie wusste: die Kaninchen wurden totgeliebt.
Aber sie war dann bald ausgezogen. Noch ziemlich jung mit siebzehn oder genauer siebzehneinhalb. Ihr Zuhause war nicht mehr ihr Zuhause, so dachte sie damals. Sie spürte ganz deutlich, das ihre Eltern mehr erleichtert als in Sorge waren. Die jüngste Tochter brauchte all ihre Kraft. Viel Wärme und Geborgenheit blieb da nicht für sie übrig.
Also holte sie sie sich woanders. Erst bei Emilio, dann bei Francesco, bei Honta und jetzt zuletzt bei Friedel. Bei Friedel spürte sie wieder dieses vibrierende Gefühl im Magen. Irgendetwas schien an die Magenwände zu klopfen, ohne Unterlass und beim Namen Friedhelm, schienen Trommelwirbel sich von Magenwand zu Magenwand fortzupflanzen, ihr Herz zum Klopfen zu bringen, bis dann der Trommelwirbel in ihrem Hals herumhüpfte und jedes Schlucken zur Qual machte.
Friedel - bei ihm hatte sie erstmals gedacht, sie wäre angekommen.
Friedel war ihr wie der wahre Märchenprinz erschienen. Ein Mann der wirklich alles hatte. Stark, intelligent, lieb, verständnisvoll und furchtbar kuschelig. Sie hatte noch nie einen Mann gekannt, der so gerne kuschelte. Stundenlang hatte sie in seiner Armbeuge gelegen, die Nase an seine Rippen gedrückt. Tief und selig hatte sie geatmet. Vor lauter Wohlbefinden hatte sie geschnurrt, und wenn er sie dann kräftig drückte, dann wollte ihr Herz zerspringen vor Glück.
Aber nun saß sie jetzt wieder in ihrem alten Kinderzimmer, schaute auf die alte verblichene Blümchengardine und dachte an ihre Jungmädchenträume vom Traumprinzen und vom Märchenglück.
Mit zwei Koffern und ihrem Nestfarn hatte sie gestern vor der Tür gestanden, denn so sehr sich Friedel auch um die Menschen kümmerte, Blumen gingen bei ihm regelmäßig ein. Gut gemeint aber tot gegossen sagte ihre Floristenfreundin, 98% aller Pflanzen würden tot gegossen.
Manchmal war sie sich noch nicht mal sicher, ob er es gut meinte mit ihren Blumen. Auch ihre Freundinnen waren immer weniger geworden. Dabei waren sie doch zunächst richtig besoffen von ihm gewesen. Hatten sie beglückwünscht, ja richtig neidisch waren sie auf ihren Friedel gewesen.
Aber dann wollten sie sich nur noch in Cafes mit ihr treffen. Und das ging natürlich nicht oft. Friedel liebte es, wenn sie Zuhause war. Wenn ihre Freundinnen kamen, dann kochte er, deckte den Tisch. Machte wirklich alles, damit sich ihre Freundinnen auch wohl fühlten. Warum sollte sie dann in ein teures Cafe gehen, zumal er ihre Freundinnen wirklich nett unterhielt mit seinen Geschichten und dann saß er da mit seinem Dackelblick und las ihnen jeden Wunsch von den Augen ab. Aber ihre Freundinnen, die erst aufgeblüht
waren bei diesem Umsorgen, wurden merklich stiller, ließen die Schultern hängen, verkümmerten wie ihre Blumen und irgendwann blieben sie weg.
Wenn sie ehrlich war, so hatten sie ihr nicht sehr gefehlt. Sie war gerne zuhause und mit Friedel allein, und wenn er sie dann ganz fest an sich drückte, dann wusste sie wieder, nur sie beide zählten.
Jetzt musste sie doch ein bisschen schnüffeln. Ihre Schwester blickte erstaunt auf. Das Kaninchen hatte sich jetzt aus den Händen herausgewunden. Mit einem riesigen Satz sprang es auf den Boden. Dort blieb es unbeweglich sitzen und hechelte. Das weiße Fell verschwamm fast mit dem weißen Wollteppich. Nur der große schwarze Stups signalisierte, hier sitzt das Kaninchen. Warum hoppelte es nicht unter den Schrank?
Bildete sie sich das nur ein, oder sah das Kaninchen schon wieder so abgeliebt aus?
Ihre Schwester quengelte. Trotzdem nahm sie das Kaninchen und sperrte es in den Stall. Ein durchdringendes Heulen drang nun aus dem Rollstuhl.
Sie holte eine Flasche Pustefix aus dem Schlafzimmer und blies einen Schwung Seifenblasen in die Luft. Das wirkte fast immer. Auch jetzt war ihre Schwester still und starrte mit großen Augen in die Luft.
Gestern hatten sie am Küchentisch gesessen. Friedel hatte diese weiche, sahnige Lasagne gemacht, nach seinem Spezialrezept. Diese Lasagne ließ sie normalerweise vor Glück aufstöhnen, aber gestern hatte sie an den Nudelplatten gekaut, als wären sie Schuhsohlen. Wie gebannt hatte sie auf Friedhelms vollen, erstaunlich roten und immer etwas feuchten Lippen geschaut, mit den großen Zähnen dahinter. Die Zähne waren eindeutig überproportioniert, Warum er sie beim Essen überhaupt zeigen musste war ihr ein ewiges Rätsel.
Er biss quasi in jedes Essen. Selbst diese weiche Lasagne wurde mit großen Happen von der Gabel abgebissen. Sie hatte weiter auf die im Takt mahlenden Zähne gestarrt. Ein Klacks Tomatensoße hatte sich über seinem Mundwinkel breit gemacht, hüpfte mit jeder Mahlbewegung rauf und runter. Wie ein Stups hatte sie gedacht und dann konnte sie an nichts anderes mehr denken. Ein Stups, genau an der Stelle, an der sie ihr Muttermal hatte.
Sie nahm den Kaninchenstall an seinen eisernen Griff. Die Wegners hatten sich bereit erklärt, noch ein weiteres Kaninchen in das Freilaufgehege mit aufzunehmen.
Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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