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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Zeit des Wartens

© Hella Sieg


Charlotte wollte nur schnell die Zeitung aus dem Briefkasten im Hausflur holen, als es passierte. Ein kühler Luftzug durch die sich öffnende Haustür, das offene Fenster in ihrem Wohnzimmer und schon fiel ihre Wohnungstür mit einem lauten Knall zu, noch ehe sie diese erreichen konnte.
"Na klasse" dachte sie, "das passt ja!" Eigentlich meinte sie genau das Gegenteil, denn sie war noch nicht angezogen an diesem Morgen. Genau genommen hatte sie es sich angewöhnt, immer lange im Schlafanzug herumzulaufen. Sie hatte ja keine Eile. Ihre schulterlangen rotblonden Haare nahm sie einfach nach hinten, drehte sie um sich selbst und klemmte sie lässig am Hinterkopf fest. Heute Morgen war sie mit üblen Kopfschmerzen aufgewacht, die über ihrer rechten Schläfe pochten.
Also, mal ganz ruhig und logisch überlegen, wer hat noch einen Schlüssel? Karl, ihr Mann, natürlich. Doch der befand sich gerade beruflich in Baden-Baden und konnte ihr hier nicht helfen. Blieben nur der Hausmeister, der jedoch nie präsent war oder der Schlüsseldienst, der immens teuer war...
Charlotte konnte von Glück sagen, dass sich ihr Handy noch in der Tasche ihres orangefarbenen Bademantels befand, in die sie es achtlos hatte gleiten lassen, nachdem Karl sie heute Morgen angerufen hatte. Der Hausmeister war für mehrere Gebäude zuständig, aber für alle Fälle hatte sie seine Handy-Nummer gespeichert.
"Herr Pleschke, hier ist Charlotte Hoffmann, Königstr. 102, 1. Stock. Ich habe mich aus meiner Wohnung ausgesperrt. Könnten Sie herkommen und aufschließen?"
"Heute Morgen ist wirklich der Teufel los. Ich repariere hier gerade die Wasserleitung am Poetenweg und von der Kuhlmannstraße hatte ich auch einen Anruf, weil irgendwas mit den Mülltonnen nicht stimmt. So schnell hab ich keine Zeit." Wenn man was von ihm wollte, war er immer erst mal brummig. Das kannte sie schon.
"Ich stehe hier im Schlafanzug im Flur. Es wäre schon wichtig, dass Sie schnell kommen, ehe ich mir eine Lungenentzündung hole."
"Hm, mal sehen," brummte Pleschke, schon etwas freundlicher. "Wenn ich hier fertig bin, komme ich zwischendurch bei Ihnen vorbei." Die Leitung war tot - aufgelegt.
Sie setzte sich auf die Fensterbank, die den Blick zum Hinterhof des Hauses freigab. Eine Topfpflanze stand dort in einem blauen Plastikübertopf. Hatte sie die überhaupt schon jemals gegossen? Eigentlich hatte sie gar nicht so richtig gewusst, dass sie hier vor ihrer Haustür stand. Die Pflanze steckte in trockener, verkrusteter Erde, einsam, kraftlos und verblüht.
Auf einmal dachte sie an ihr Leben. Das wollte sie gar nicht, nachdenken. Sonst konnte sie es vermeiden, hatte immer etwas zu tun, was sie davon ablenkte. Doch hier und jetzt hatte sie eine Pause. Sie konnte gar nichts anderes tun als zu denken. Sie dachte an ihre Ehe. Wie sie begann. Es war Liebe. Als Werbekauffrau war sie gut gewesen, hatte Erfolge, war auf dem Sprung Karriere zu machen.
Doch dann war nur die Liebe wichtig, mit Karl zusammen zu sein und sich ein gemütliches Zuhause zu schaffen. Sie wollten eine Familie gründen. Daher hatte sie ihre Arbeit damals aufgegeben.
Doch ganz allmählich änderte sich alles. Karl musste sich zeitlich mehr engagieren in der Firma. Sie konnte nichts mehr mit sich und ihrer Zeit anfangen. Das war die Zeit, in der der Alltag grau in grau wurde. Karl ging arbeiten und sie blieb zu Hause. Charlotte fühlte sich zunehmend kraftlos und allein.
Auch jetzt saß sie tatenlos auf der Fensterbank, rieb sich die schmerzende Schläfe und wartete, dass der Hausmeister etwas machte. Es war so typisch für ihr Leben. Heute kam es ihr so vor, als wartete sie ständig. Worauf eigentlich? Wann hatte das Warten begonnen? Als die Verliebtheit vorbei war und sie sich fragte, was nun stattdessen kommen würde?
Als sie feststellten, dass Charlotte einfach nicht schwanger wurde? Ja, da wartete sie noch gemeinsam mit Karl jeden Monat auf den glücklichen Moment. Oder als der Arzt durch eine Laboruntersuchung feststellte, dass sie kein gemeinsames Kind haben würden, da Karl unfruchtbar war? Da wartete sie auf Tränen, die nicht kamen. Sie wartete rücksichtsvoll darauf, dass Karl soweit sein würde. War wohl zu schmerzlich, die Auseinandersetzung mit dem Ergebnis, denn eine Aussprache darüber blieb aus.
Er blieb immer öfter und länger weg jetzt. Und sie wartete. Darauf, dass er wiederkam, anrief, zur Vernunft kam. Doch das geschah nicht. Sie ging nur noch nach draußen um einzukaufen. Sonst fühlte sie sich in den eigenen vier Wänden am sichersten. Drinnen wartete es sich besser. Sie konnte sich ganz darauf konzentrieren, musste mit niemandem über ihre Situation reden. Karl und sie entfremdeten sich immer mehr. Sie fand Spuren einer anderen Frau. Dennoch wartete sie darauf, dass er sich wieder an ihre Liebe erinnern würde um sie neu aufleben zu lassen.
Die Pflanze war bei näherer Betrachtung staubig. Jemand hatte sie arg vernachlässigt. Kein Wunder, wenn sie hier draußen steht und darauf angewiesen ist, dass eine freundliche Seele vorbeikommt, dachte Charlotte.
Manchmal fühlte sie sich auch so vergessen wie diese vernachlässigte Pflanze auf der Fensterbank. Irgendwie fühlte sie sich ihr verbunden.
Ihre Freundschaften hatte sie alle so nach und nach einschlafen lassen. Am Anfang ihrer Ehe war der Kontakt noch da, doch ihr Mann wollte sie am liebsten nur für sich haben. So war das am Anfang ihrer Liebe. Sie genügten sich selbst zu der Zeit. Für die Anderen gab es keinen Platz mehr in ihrem Leben. Immer seltener traf sie sich mit den Freunden und früheren Kollegen aus der Werbeagentur. Sie lebte jetzt in einer anderen Realität, in einer anderen Welt. Bald blieb das Telefon still.
Charlotte beugte sich zu der Pflanze hinunter und wischte mit der Hand oberflächlich den Staub ab. Darunter sahen einige der Blätter etwas besser aus. Es kam ein matter Grünton zum Vorschein.
Letzte Woche hatte sie dann das Warten zum ersten Mal unterbrochen, nur kurz. Sie war wieder einmal allein. Ihr Handy war defekt. Da es fast ihren letzten Kontakt zur Außenwelt darstellte, beschloss sie, es reparieren zu lassen. Als sie in das Geschäft kam, musste sie in der Schlange vor dem Annahmeschalter warten.
Plötzlich tippte jemand von hinten auf ihre Schulter und rief: "Mensch, Charly, bist du es wirklich?"
Es war Hanna, ihre ehemals beste Freundin und Arbeitskollegin aus der Zeit, als sie noch nicht darauf wartete, dass das Leben zu ihr zurückkäme. Ambivalente Gefühle erfassten sie. Ein Erschrecken, die Angst vor Vorhaltungen oder zu intensiven Fragen, aber auch ein warmes Glücksgefühl. Es tat so gut, Hanna zu begegnen. Es war ein klarer Märzmorgen und die Sonne konnte schon Laune und Gesichtsfarbe beleben. Ein laues Lüftchen umwehte die beiden Frauen, als sie spontan beschlossen, ein Cafe aufzusuchen. Sie ließen sich an einem runden Marmortischchen nieder. Hanna schälte sich aus diversen wärmenden Kleiderschichten, verwuschelte sich ihre kurzen braunen Haare und setzte sich ihr gegenüber. Sie schaute Charlotte mit einem langen Blick an als sie sagte: "Ein bisschen blass um die Nase siehst du aus," und "ich habe dich so vermisst, Charly."
"Ich wusste es gar nicht, aber ich habe dich auch vermisst."
Hatte sie das wirklich gesagt?
Als Hanna im weiteren Gespräch erfuhr, dass Charlotte keine Arbeit hatte und die meiste Zeit allein zu Hause verbrachte, öffneten sich ihre sorgfältig nachgezogenen Lippen zu einem verheißungsvollen Lächeln. "Du musst unbedingt zurückkommen in die Agentur. Wir brauchen dich! Noch letzte Woche hat der Chef wehmütig gesagt, dass wir so eine wie dich finden müssten für die Werbeagentur. Eine mit Witz und Einfallsreichtum. Zwar kann er im Moment nur jemanden in Teilzeit einstellen, aber ich wette, deine Chancen auf eine ganze Stelle würden schnell steigen. Was sagst du?"
Charlotte war zwar erfreut zu hören, dass man sie brauchte, aber im Moment war sie gar nicht in der Lage, sich mit einer realen Umsetzung eines solchen Vorhabens auseinander zu setzen. Sie musste auch bald aufbrechen, denn sie erwartete Karl. Zwar kam er wahrscheinlich wieder nicht sofort nach Hause. Aber sie würde auf ihn warten...
Hanna schien ihr Zögern gar nicht zu bemerken und plapperte weiter: "Wir arbeiten wieder an einer Werbekampagne für "Schnörkel-Nudeln" und basteln seit Wochen an einem passenden Slogan für das Produkt. Na ja, du kennst das ja. Du weißt, wie anspruchsvoll der Auftraggeber ist. Stell dir vor, Heiner hat den Vorschlag gemacht "Sich schmausend besudeln mit Schnörkel-Nudeln" oder so ähnlich. Du kennst ja Heiner. Die ganze Agentur kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen. Aber du hattest immer so originelle Ideen! Dir fiele bestimmt so einiges ein."
Erst jetzt erinnerte sie sich wieder daran, dass Hanna ohne Punkt und Komma reden konnte, wenn man sie ließ. Aber im Moment war es genau richtig. Solange sie redete, bemerkte sie vielleicht Charlottes Unsicherheit nicht.
Sie schaffte es sogar, sich ohne irgendwelche Zusagen oder Eingeständnisse aus der Affäre zu ziehen. Sie zahlte ihren Cappuccino und verabschiedete sich bald von Hanna.
Aber die Begegnung hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Das erste Mal in zwei Jahren dachte sie darüber nach, wie das wohl sein würde, wieder zu arbeiten? Selber aktiv zu werden. Selber diejenige zu sein, auf die jemand wartet. Kunden, Arbeitskollegen, Freunde oder sogar Karl?
Als sie wieder zu Hause ankam und ihren Mantel aufgehängt hatte, war sie mit den Gedanken schon wieder woanders. Ihr Mann würde hoffentlich bald kommen. Sie wollte das Essen für ihn vorbereiten. Lammkoteletts, grüne Bohnen und Salzkartoffeln. Karl machte ihr oft Vorhaltungen. Sie mache sich zu abhängig von ihm. Sie sei eine Klette und er solle ihr Alleinunterhalter sein. Andere Dinge blieben unausgesprochen.
Bei näherer Betrachtung hatte die Pflanze einige abgestorbene, vertrocknete braune Blätter. Vielleicht sollte sie die Blume einfach wegwerfen. Es wäre ganz leicht, sie nach unten zu tragen und in die Biotonne zu werfen. Aber war das da nicht ein kleiner Trieb, der sich schwankend erhob und versuchte, sich dem Licht entgegenzurecken. Charlotte betrachtete ihn fasziniert. Jetzt zupfte sie vorsichtig die vertrockneten Blätter ab, damit die Pflanze wieder mehr Luft bekam.
Fast so, wie meine Gedanken darüber, wie es sein würde, wieder am Leben draußen teilzunehmen, dachte sie. Hanna hatte diese Idee in ihren Kopf gepflanzt, vielleicht könnte sich ja auch ein frischer Trieb entwickeln?
Plötzlich war sie bereit, sich ernsthaft auf den Gedanken einzulassen und ihre Ängste und Bedenken beiseite zu schieben. Sie war doch kein willenloses Wesen, dass nur darauf warten musste, dass andere für sie die Entscheidungen trafen, sogar die kleinen. Nur weil sie die Mutterrolle nicht wie geplant leben konnte, hieß das doch nicht, dass es keine andere Aufgabe mehr für sie geben könnte. Und sei es, einen Slogan für Nudeln zu finden, dachte sie mit einem Anflug von Humor. Sie müsste nur den Mut haben, auf ihre eigenen Erfahrungen zu vertrauen. An das zu denken, was sie schon geleistet hat im Leben. Ihr Leben hatte einen Wert - SIE hatte einen Wert. Es müsste ihr nur gelingen, ihre eigene Lethargie zu überwinden...
Je länger sie die Pflanze betrachtete, desto mehr Neues konnte sie sehen. Eben jetzt entdeckte sie doch tatsächlich eine Knospe. Man musste schon genau hinsehen, denn sie war noch vollständig unter einem der unteren Blätter verborgen. Aber bald schon würde sie gut zu sehen sein. Gut, dass sie die Pflanze noch nicht aufgegeben hatte.
Charlotte fuhr erschrocken zusammen, als sie hörte, wie unten jemand die Haustür aufschloss. Die Zeit war jetzt doch schnell vergangen. Die Kopfschmerzen hatten sich verzogen, stellte sie plötzlich fest. Ein frischer Wind kam ins Haus geweht, als der Hausmeister hereinkam und schwerfällig die Treppe hochstieg. Er hatte Arthrose in den Knien, wie er ihr einmal anvertraut hatte und konnte die Stufen mal besser, mal schlechter bewältigen. Als Charlotte in sein Blickfeld kam, verzog sich sein grobes Gesicht zu einem freundlichen Grinsen. "Ich hoffe, Sie haben sich nicht erkältet. Schneller konnte ich leider nicht kommen."
Herr Pleschke zog einen Schlüsselbund hervor, ließ ihn klirren und klappern, als er den richtigen Schlüssel suchte und fand. Er schloss auf, öffnete die Wohnungstür weit und versuchte es noch einmal: "Hoffentlich mussten Sie jetzt nicht zu lange auf mich warten..."
Sie dachte kurz darüber nach. Dann erwiderte sie sein Lächeln als sie erklärte: "Dieses Mal war das Warten zu etwas gut, Herr Pleschke, machen Sie sich mal keine Gedanken." Die Verwirrung war ihm ins Gesicht geschrieben. Aber sie dachte gar nicht daran, ihm den tieferen, ganz persönlichen Sinn ihrer Worte näher zu erklären.
Sie beschloss, wenn sie wieder in die Wohnung kam, als erstes die Gießkanne mit frischem Wasser zu füllen und die Pflanze im Hausflur zu gießen. Alles was sie brauchte, war ein wenig Ermutigung. Es grenzte an ein Wunder, dass sie so lange durchgehalten hatte. Es wurde Zeit, dass sie sich um sie kümmerte.
Danach hatte sie viel zu tun. Sie würde anfangen, sich um sich selbst zu kümmern.
Sie würde sich ankleiden und aufräumen. Dann hatte sie fest vor, der Werbeagentur einen Besuch abzustatten. Wenn es stimmte, was Hanna sagte, und sie Charlotte wirklich wiederhaben wollten, dann würde sie wieder dort arbeiten.
Sie würde ihr Leben wieder in die Hand nehmen und die Freundschaften, die noch zu retten waren, würde sie retten. Und wenn Karl damit zurechtkäme und auch bereit zu einem Neuanfang wäre, würde sie ihrer Ehe noch eine Chance geben. Und vielleicht würden sie auch endlich über ihren Verlust reden, die Unfähigkeit ein gemeinsames Kind zu bekommen. Einen Verlust, der ihre Lebensplanung völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Über Karls Schuldgefühle und ihre Flucht in die Isolation.
Nachdem Charlotte die Pflanze im Hausflur gegossen hatte, ging sie ins Bad und betrachtete ihr Gesicht von allen Seiten im Spiegel. Sie summte leise einen alten Schlager, während sie mit dem Zeigefinger der Kontur ihrer rechten Augenbraue folgte. Sie nahm die Spange aus dem Haar, schüttelte energisch den Kopf und zwinkerte sich selbst im Spiegel zu.
Das Warten war zu Ende.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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