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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Verpasste Chancen

© Fickus Hajo


warum habe ich damals nicht
es wäre doch so leicht gewesen
ich hätte doch

warum habe ich nie
es wäre ja vielleicht möglich gewesen
es wäre auf den versuch angekommen

aber heute
werde ich endlich
heute
werde ich wirklich

vielleicht

Wenn es einen Weltmeistertitel in der Disziplin "verpasste Chancen" gäbe, so müsse dieser ganz sicher ihm zugesprochen werden. Vorausgesetzt natürlich, dass er nicht den Bewerbungstermin versäume, was allerdings sehr wahrscheinlich sei.
Der mir dies unaufgefordert mitteilt, ist mein Sitznachbar im IC München - Hamburg; er ist wohl um die vierzig und sieht in seinem grauen Anzug so durchschnittlich und unauffällig aus, dass man es schon fast für eine beabsichtigte Tarnung halten könnte. Gerade hat ein anderer Fahrgast zum stillen Amüsement der Mitreisenden fast das Aussteigen in Augsburg verschlafen und ist erst buchstäblich in letzter Sekunde vom Zug gesprungen, und dies nimmt nun mein bisher wohltuend schweigsamer Nachbar zum Anlass mich anzureden. Ich mag es eigentlich nicht, von Fremden angesprochen zu werden, fühle mich beim aufgezwungenen Smalltalk eher unwohl, und die spontanen Herzensausgießungen mir Unbekannter sind mir zuwider, insbesondere an Orten ohne Fluchtmöglichkeit wie Intercity-Zügen; aber da ich meine gewohnte Zeitungslektüre schon beendet habe und von mir augenscheinlich nichts mehr als eine interessierte Miene erwartet wird, ermuntere ich ihn denn doch mit einem Lächeln zum Weiterreden.
Schon in der Schule sei er immer der gewesen, der zu lange mit der richtigen Antwort gezögert habe, die dann ein anderer, schnellerer Mitschüler dem fragenden Lehrer schon längst gegeben habe, wenn er selbst sich endlich gemeldet habe. Und so sei es sein ganzes Leben lang gewesen. Er habe immer zu lange gezögert, immer den richtigen Augenblick verpasst und die Gelegenheit verstreichen lassen; oft zu wenig Mut gehabt, einige Male aber auch zur falschen Zeit zu viel riskiert.
Trotz einiger Begabung nicht die Musikerkarriere eingeschlagen, sondern Betriebswirtschaft studiert; ausgerechnet beim wichtigsten von allen seinen Vorstellungsgesprächen - eine Spitzenposition in der damals aufstrebenden Computerindustrie - dann völlig und gegen seine Natur besonders "cool" und "modern" wirken wollen und dafür nur verständnisloses Kopfschütteln geerntet.
Hier muss mein gesprächiger Begleiter seine Erzählung unterbrechen, weil sein Handy klingelt - dass er "Für Elise" als Klingelzeichen eingestellt hat, macht ihn mir nicht gerade sympathischer - und irgendjemand ihm eine berufliche Terminverschiebung mitteilt. Nach dem Ende des kurzen Telefonats beginnt er aber sofort von neuem, ohne meinen inzwischen betont gelangweilten Gesichtsausdruck zu beachten.
Es sei ihm schließlich nur die mittlere Verwaltungslaufbahn geblieben, an für sich ein ruhiger Posten, aber vor einigen Monaten, an genau dem Tag, an dem er wegen einer Unpässlichkeit einmal nicht zur Arbeit ging - er möchte betonen, dass dies sehr selten vorkomme - an genau diesem Tag also habe völlig überraschend der übergeordnete Minister die Dienststelle besucht, um sich nach Vorgängen zu erkundigen, die eigentlich in seinen, des damals Kranken, Arbeitsbereich gehörten, die aber nun ein mit der Sachlage gar nicht vertrauter Kollege dem Minister präsentierte, dessen persönlicher Referent sich später sogar noch einmal schriftlich bei diesem Kollegen bedankt und ihm zwischen den Zeilen auch eine gewisse die Karriere fördernde Protektion in Aussicht gestellt habe.
Dass er ein Champion des Verpassten, des Versäumten, des Verbockten und des Vergeigten sei, habe er aber vor allem in seinem Liebesleben immer äußerst schmerzhaft erfahren; wobei von einem Liebesleben im eigentlichen Sinne aus genau diesem Grunde natürlich kaum eine Rede sein könne.
Zum Beispiel denke er noch heute immer wieder mit Scham und Trauer an jenen Abend seiner schon lange vergangenen Studentenzeit zurück, als er seine heimliche Lieblingskommilitonin Silvia nach einem abendlichen Seminar noch in eine Weinstube eingeladen und sie, nach drei Vierteln Rotwein und angeregtesten Gesprächen, dann später bis zu ihrer Haustüre begleitet habe, wo sie ihn, allerdings wirklich sehr leise, gefragt habe, ob er noch "mit hinauf" kommen wolle, was nach dem bisherigen Verlauf des Abends nur als eindeutig erotisch motivierte Einladung zu verstehen gewesen sei. Er sei sich aber in diesem Moment einfach zu unsicher gewesen, ob er sie akustisch richtig verstanden habe und habe deshalb mit "Wie bitte?" geantwortet, aber in der Aufregung seiner hormonell bedingten Wallungen sei ihm diese Frage irgendwie im Tonfall verrutscht, so dass sie fälschlicher Weise wie die erschreckte Abwehr eines um seine Keuschheit besorgten Dominikanermönchs geklungen habe. Silvia habe ihn dann auch nur ganz merkwürdig angesehen und ihre Einladung nicht wiederholt, sondern sei sehr schnell mit einem kühlen "Gute Nacht" in ihrem Haus verschwunden. Er habe das gut verstehen können, sie hätte ja schließlich nachts um halb zwölf ihre Bedürfnisse nach intimen Zärtlichkeiten nicht in die Tübinger Altstadt hinaus schreien können.
Und so sei es eigentlich immer gewesen; selbst wenn es denn einmal zu einer ernsthaften Beziehung zu einer Frau gekommen wäre, dann sei sie durch seine Ungeschicklichkeit immer sehr schnell wieder in die Brüche gegangen, weil er vor Eifersucht gerast habe, wenn stilles Verzeihen angebracht gewesen wäre, oder weil er sich umgekehrt als großzügig Schweigender präsentiert habe, wenn deutlicher sichtbare Emotionen als Liebesbeweis willkommen gewesen wären.
Und dennoch habe er immer wieder geglaubt, vielleicht doch einmal alles richtig machen zu können, erst kürzlich, bei Petra, der großen Liebe seines Lebens, er wolle mir jetzt gar keine der peinlichen Details erzählen, auf jeden Fall habe er es wieder einmal verpatzt, na ja, er sei eben ein ewiger Versager, ein Loser, am besten wäre es gewesen, er hätte sich schon vor Jahren, er wolle es gar nicht aussprechen, und dafür sei ja immer noch Zeit, er wolle mich ja auch nicht mit seinen Problemen belasten, aber es sei dennoch sehr nett von mir gewesen, dass ich ihm zugehört habe, er müsse jetzt leider aussteigen und wünsche mir noch eine gute Weiterfahrt.
Er, der jetzt in Göttingen aussteigt, hat am Ende immer schneller und undeutlicher gesprochen, mir, selbst wenn ich gewollt hätte, gar keine Gelegenheit zu Nachfragen oder Einwänden gegeben. Ich genieße jetzt die wieder hergestellte Ruhe, und erst als wieder diese unangenehm-elektronische Beethoven-Melodie erklingt, merke ich, dass er sein Handy auf seinem Sitz hat liegen lassen und dieses jetzt den Eingang einer SMS signalisiert. Ohne übertriebene Diskretion lasse ich mir den Text anzeigen: "Lieber Jürgen, bitte bitte verzeih mir!! Bitte melde dich!!!. Ich liebe dich!!!! Petra ".
Ich werde die Nachricht wohl löschen, bevor ich das Handy beim Zugschaffner abgebe.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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