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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Silencio
© Simone Burkhardt
Ich bin herumgegeistert im Früher. Jetzt schon geistere ich im Früher, man muss sich nur wundern darüber, wie viel Früher man in einem Leben anhäufen kann. Zeiten mit vielen Erinnerungen oder Erinnerungen aus Kinderzeiten. Sie sind es die mich hierher treiben, mich herumgeistern lassen, durch Überschreiten der Türschwelle. Alleine im Früher, es ist sehr schön. Es sieht anders aus, es hat sich in ein Heute verwandelt. Das ist gut, es ist viel freier und leerer geworden, weniger schützend, denn es bedarf dieses
Schutzes nicht mehr. Viel Liebe und erfahrene Freiheit stecken in dieser Wohnung, ich spüre und rieche es. Der Duft meiner Eltern ummantelt mich. Ich geistere weiter, tue Dinge die Früher sind. Nie wieder werde ich mein Kinderzimmer betreten können, denke ich noch, bevor ich die Tür öffne. Ich sehe ein Bett dort wo einmal mein Bett war, Gedanken und Bilder sausen nach Manier eines Daumenkinos durch meinen Kopf. Eine Pflanze steht mitten im Zimmer, sie nimmt fast den ganzen Raum ein. Sie will mehr, das verraten
ihre starken Arme, stetig wachsende Kraft durch Sonne, Wasser und Liebe. Es ist immer noch viel Leben in diesem Zimmer, denke ich schmunzelnd. Ich trete auf den Balkon und meine Augen schauen ins Früher, in dieselben Bäume in den selben Himmel. Geisterrauchschwaden steigen auf. Ein gutes Gefühl.
Es wurde oft gestritten bei uns Zuhause, dass lässt sich bei vier Personen die alle ihr Recht einfordern auch nicht vermeiden. Ich stritt mit meiner Schwester oder mit Vater und Mutter, meine Eltern stritten mit mir, meiner Schwester oder uns beiden. Mein Vater stritt mit meiner Mutter oder umgekehrt, oft gab es zwischen den beiden Auseinandersetzungen wegen uns, manchmal lieferten sie sich gegenseitig genug Grund dafür und wir Kinder waren aus dem Schneider. Trotz all dieser Streitereien hatte wahrscheinlich
keiner von uns je ernsthaft das Gefühl, dass das ganze belastend ausartete. Wir vertrugen uns meist sehr schnell und aus Geschrei wurden rasch klärende Gespräche und am Ende einigten wir uns, noch bevor der Tag zur Nacht wurde, den auch wenn wir alle keine konfrontationsscheuen Menschen sind haben wir uns, mit nur einigen Ausnahmen, immer an die Familienstreitregeln gehalten die besagten, dass man unversöhnt nicht zu Bett gehen sollte. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass eine derartige Regel jemals ausgesprochen
wurde, aber wir schienen sie trotzdem alle zu kennen und zu respektieren. Ein stillschweigendes Abkommen zwischen uns, dass unserer Streitkultur zu einem sicheren Rahmen verhalf. Ich erinnere mich daran, dass ich in einem kleinkindlichen Wutausbruch meiner Mutter eine Ohrfeige gab. Sie begann daraufhin bitterlich zu weinen, heute weiß ich, das sie nur so getan hat aber damals dachte ich, ich hätte sie unendlich traurig gemacht. Sicherlich war sie enttäuscht, denn derart hatte ich mich noch nie zur Wehr gesetzt,
aber ich selbst war noch viel mehr erschüttert über den Vorfall und fühlte mich so schlecht wie nie zuvor in meinem kurzem Leben. Ich wollte meine Mutter umarmen, ihr sagen wie sehr es mir leid tat, aber sie schob mich von sich weg und bestrafte mich mit Schweigen. Es hat nie mehr eine Erziehungsmaßnahme gegeben, die mich vergleichbar hart traf wie dieses enttäuschte Schweigen. Keine Strafe hätte schlimmer sein können oder mehr Schmerzen verursacht als diese Leere, diese Stille in der sie mi n lang werde ich
mich vermutlich an diesen Vorfall erinnern, an meinen ersten Kontakt mit dieser tödlichen Waffe die man Schweigen nennt.
Seit knapp 37 Stunden haben wir kein Wort mehr geredet, auf knapp 60 Quadratmeter eingeengt. Das Schweigen hat sich in jedes Zimmer verteilt, in der ganzen Wohnung steht dichter Nebel, der den Fußboden bedeckt und eiskalt die Fußknöchel umspielt, bis sie taub werden. Ich setze mich auf einen Stuhl und ziehe die Beine hoch auf die Sitzfläche, um sie mit den Händen zu massieren und zu wärmen. Die Schwaden folgen den Füßen und krauchen, als trügen Saugnäpfe sie voran, langsam am hölzernen Stuhlbein hoch. Mit den
Stunden zieht das Taubheitsgefühl von den Zehen- bis zu den Haarspitzen empor. Genauso habe ich mir das Gefühl vorgestellt, das einen überkommt in "den Sümpfen der Traurigkeit" die Michael Ende in seiner unendlichen Geschichte beschreibt. Die Traurigkeit legt sich auf ihre Opfer, wird schwer und schwerer und drückt sie hinunter in die Sümpfe in denen man an der Traurigkeit erstickt. Hier gibt es keinen Glanz, der mich schützen könnte. Es gibt nur Taubheit und matte Nebelschwaden die sich in alle Ritzen
schmiegen. Wir gehen uns aus dem Weg und ignorieren einander so gut es geht, erstaunlicher Weise geht es gut. Jedenfalls empfinde ich es so, er wird das wohl ähnlich sehen zumal er gerade ohnehin Träume sieht, oder schwarz. Eine kluge Maßnahme eigentlich den gemeinsamen Schlafrhythmus so zu versetzen, dass man sich gar nicht erst mit dem Schweigen, was in meinen Falle gleichbedeutend mit seiner Person ist, konfrontieren muss. Wenn er schläft ist die Situation entschärft, meine Gedanken können eine Pause machen
und der Nebel lässt ein wenig nach. Er ist noch da, aber nicht mehr so dicht. Ich kann den Terrazzoboden in der Küche wieder erkennen und die Füße frieren weniger. Dieses Mal ist es für mich erträglicher, denn ich wollte die Stille. Ich habe sie ihm entrissen, seine Waffe und richte sie nun gegen ihn. Das ist alles was mir noch bleibt. Stille.
Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.