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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Es lebe Lebenik!
© Andrea Sach
Müde schlurfte sie die Treppe in den Chemiesaal hinauf. Mit ihren Gedanken war sie noch beim neuen Men-in-Black-Film, den sie am Abend zuvor im Kino gesehen hatte. Es war wie so häufig zu spät geworden. Und jetzt musste sie auch noch eine Stunde Chemie mit dem unsäglichen Lebenik über sich ergehen lassen. Ein eigenartiger Lehrer. Er raubte einem wirklich den letzten Nerv mit seinem Stottern und Glucksen. Immer war sein schmuddeliger Kittel falsch geknöpft, und die fehlenden Zähne - ein Gräuel! Dabei soll er als
junger Mann ein genialer Wissenschaftler gewesen sein, ging es ihr durch den Kopf. Kaum zu glauben.
Lebenik war noch nicht da, die Schüler hatten noch Pause. Sie ließ sich in der hintersten Reihe neben ihrer Freundin Kerstin auf den Sitz fallen. Hier konnten sie wenigstens in Ruhe zusammen Käsekästchen spielen. Wenn Lebenik sie nicht wieder erwischte wie vor zwei Wochen. Da hatte er sie mit seinen traurigen Hundeaugen angesehen, als hätten sie ihn persönlich getroffen, weil sie sich nicht für die molekulare Zusammensetzung der Sexualduftstoffe von Mückenweibchen interessierten. Sie hing noch schmunzelnd dieser
Erinnerung nach, als plötzlich Jannik, der Klassenclown, in den Saal gestürmt kam. Was sagte er? Lebenik hatte heute Geburtstag? Geil, seine Idee: Die ganze Klasse solle ihm ein Ständchen bringen und ihm einzeln die Hand schütteln. Krass. Dann wäre die Stunde ja schon zur Hälfte vorbei. Und schon zauberte Kerstin eine Kerze aus ihrem Rucksack. War wohl noch von ihrem letzten Seance-Nachmittag im Jugendzentrum übrig geblieben. Kerstin ging nach vorn, postierte die Kerze hübsch auf dem Tisch und zündete sie an.
War eigentlich nicht erlaubt, hier im Chemiesaal, aber es war ja eine Ausnahme. Das Ganze sollte auch ein bisschen feierlich aussehen.
Als ihre Freundin sich wieder gesetzt hatte, klingelte es zur Stunde. "Jetzt seid alle ganz still", befahl Jannik. "Wenn er reinkommt, singen wir den blöden Geburtstagssong von Rolf Zukowski - alles klar?" Langsam verebbte das Gekicher. Schließlich war kein Ton mehr aus den sonst lärmenden Reihen zu hören. Nur das Ticken der Uhr an der Wand und ein gelegentliches Räuspern unterbrach die Stille. Endlich hörten sie draußen vor der Tür die schleppenden Schritte ihres Lehrers. Die Tür ging auf
und Lebenik erschien. Wie immer war sein weißer Kittel befleckt und verkehrt geknöpft, wie immer trug er seine alte, speckige Ledertasche unter dem linken Arm, wie immer hingen die grauen, dünnen Haare strähnchenweise an seinem fast kahlen Schädel herunter. Und wie immer entblößte der alte Mann verlegen grinsend sein Gebiss, dem einige Zähne fehlten - durch Skorbut im Kriegsgefangenenlager, wie manche gehört zu haben meinten. Eines jedoch war nicht wie immer: die Stille im Chemiesaal, die den Lehrer wie angewurzelt
in der Tür stehen bleiben ließ. Auf Janniks leises "1 - 2 - 3 - 4" fingen alle an zu singen: "Heute kann es regnen, stürmen oder schneien, denn du strahlst ja selber wie der Sonnenschein." Sie und Kerstin schmunzelten sich an. Lebenik aber starrte mit offenem Mund: auf die Kerze, auf die singenden Schüler, wieder auf die Kerze. Nur manchmal zuckte sein linkes Auge, als hätte es ein Eigenleben. Und als der Chor bei "wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst"
angelangt war und die ersten Schüler begannen, dem verdutzten Lebenik die Hand zu schütteln und zu gratulieren, begannen Tränen an seinen Wangen herunter zu laufen. Betreten schaute sie auf Kerstin, doch die machte gerade Anstalten, nach vorn zu gehen. Sollte sie sich wirklich anschließen? Zweifelnd runzelte sie die Stirn, doch dann ging sie pflichtbewusst und tapfer auf ihren Lehrer zu. Als sie an der Reihe war, ihm zu gratulieren, nahm er ihre Hand in seine beiden Hände. Trocken und gleichzeitig saftig fühlten
sie sich an, und sie spürte das Zittern in seinen Fingern. Schließlich hob sie den Kopf und erwiderte seinen tränennassen Blick. Die Worte, die er flüsterte, waren kaum verständlich, und sie wurden begleitet von winzigen Abwärtsbewegungen seines mageren, gebeugten Körpers. Der alte Mann machte kleine Dankesdiener.
Als alle wieder auf ihren Plätzen saßen, ließ sie ihren Blick durch die leicht beschlagenen Fensterscheiben nach draußen schweifen. Kerstin mochte sie jetzt nicht anschauen. Ihr war heiß, und sie wusste, dass ihr Gesicht glühte. Still war es noch immer im Chemiesaal, nur die Stimme Lebeniks, jetzt wieder lauter, aber wie immer stotternd, drang aus der Ferne in ihr Ohr. Auf dem Dach des gegenüberliegenden Fahrradunterstandes, das von einem plötzlichen Sonnenstrahl erhellt wurde, hüpfte eine Amsel pickend auf der
Suche nach Futter. Vielleicht, dachte sie, kann ich den Duftstoffen des Mückenweibchens doch noch etwas abgewinnen. Dann drehte sie sich zur Tafel und lauschte.
Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.