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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Schlüsselerlebnisse
© Bettina Boetschi
Als an diesem Morgen der Schlüssel nicht zu finden war, haben wir uns nicht viel dabei gedacht. Natürlich waren wir ungeduldig, nervös und gereizt, aber nichts deutete auf einen außergewöhnlichen Tag, auf den Beginn einer neuen Aera hin. Meine Mutter, hier genannt Hannah, pflegte mit schöner Regelmäßigkeit ihre Schlüssel zu verlieren. Heute also die Autoschlüssel. Und wir hatten es eilig, wir mussten in die Schule. Wir regten uns also kaum auf, sondern setzten uns auf die Treppe und warteten.
"Im Klo", schlug ich Hannah vor, die gerade die Treppe hoch hetzte. "War ich schon", sagte sie.
Anne stand auf und untersuchte sämtliche Jackentaschen an der Garderobe, seufzte und setzte sich wieder. Sie wäre gerne rechtzeitig in die Schule gekommen um noch die Hausaufgaben bei ihrer Freundin abzuschreiben.
"Hast du schon in deiner Tasche nachgesehen?", fragte Manu bereits zum zweiten Mal. Er hatte Recht, denn in den allermeisten Fällen befand sich der Schlüssel plötzlich doch in der Handtasche. Hannah fegte an uns vorbei, schaute in die Küchenschubladen, in den Brotkasten, in das Aquarium, ging in die Knie und wischte unter der Anrichte entlang.
"Hast du schon in der Handtasche ...", begann Manu zum dritten Mal. "Natürlich hab` ich!", schrie Hannah erbost, "und wenn du mir nicht glauben willst, bitte, dann überzeug dich selbst." Sie ergriff ihre Tasche, drehte sie auf den Kopf und der Inhalt ergoss sich auf die Fliesen. Das Portemonnaie sprang auf, Münzen kullerten umher, der Lippenstift rollte unter den Tisch, die Tampons unter die Anrichte, Hustenbonbons, Taschentücher, Bürste und Quittungen verstreuten sich.
"Siehst du" sie schüttelte die Tasche vehement, wie ein Indianer seinen Skalp, es machte kling und ein Autoschlüssel fiel heraus.
Ohne ein Wort wurde alles zusammengerafft und in die Tasche gestopft, die Haustür knallte ins Schloss und der 2CV sprang schon beim dritten Versuch an, obwohl es Winter war. Der Schnee türmte sich in großen, grauen Matschklumpen an den Straßenrändern und Hannah schoss mit bewundernswerter Selbstsicherheit aus der Ausfahrt. Wir sausten durch die Vorstadt und an unserer Tankstelle vorbei.
Keine Zeit mehr, murmelte Hannah. Wir tauschten einen Blick, denn wie bei den Schlüsseln, gingen wir teilweise der erforderlichen Menge an Benzin verlustig. Ich warf einen Blick auf den Tankanzeiger. Der pendelte etwas oberhalb des roten Strichs hin und her und nun begann es auch noch zu schneien. Hannah schaltete Charles-und-Diana an und mit ihrem üblichen Singsang wischten die beiden über die Scheibe.
Wir waren gerade vor der großen Kreuzung zwischen Icker und Rulle als der Wagen zu stottern begann Er schaffte es noch bis in die Mitte und soff dann endgültig ab.
"Alles `raus!", kommandierte Hannah, schieben! Wir fügten uns. Es gab nichts, was ich mehr hasste als das Schieben, wenn wir wieder einmal auf irgendeiner Kreuzung stehen geblieben waren. Lastwagenfahrer hupten drohend, Kinder grinsten hämisch, Opas umrundeten uns verbittert und ich starrte auf das rote Blech vor mir und versuchte nichts zu sehen.
Als wir den Wagen über die Kreuzung geschoben hatten, stiegen wir wieder ein. Was hätten wir auch sonst tun sollen? Der Ersatzkanister war leer; er war noch vom letzten Mal leer. Die nächste Tankstelle war 2 km entfernt. Wir kannten alle Tankstellen auf der Strecke.
"Jetzt brauch ich die Aufgaben jedenfalls nicht mehr abzuschreiben.", sagte Anne. "Aber ich sollte heute Morgen in der 6A Vertretung machen.", antwortete Hannah. "Was mach ich bloß?" Sie versuchte erfolglos den Wagen zu starten.
"Na, dann nicht", sagte sie trotzig. "Gebt mir `mal den Ersatzkanister." Sie stieg aus, stellte sich vor den Wagen und begann mit dem Kanister zu winken. Das erste Auto fuhr vorbei, das zweite ebenfalls. Das dritte war ein Bus, der sie mit reichlich Matschwasser bespritzte. Hannah lüftete den Rock um den Schaden zu besehen. Ihre langen Beine, heute in kniehohen Stiefeln kamen zum Vorschein und da bremste auch schon ein Auto und hielt ein paar Meter vor uns am Straßenrand.
"Toller Schlitten", sagte Manu, "280-er Bentley." "Bescheuertes Jackett", meinte Anne, "wetten das ist ein Lehrer." "Nicht mit dem Auto", antwortete Manu.
Ich fand Hannah auch hübsch, wie sie da stand mit ihrem zersausten Pagenkopf, der Baskenmütze und ihren von Kälte und Hetze geröteten Wangen. Der Mann nahm seinen Ersatzkanister aus dem Kofferraum und sie kamen zu uns. Anscheinend passte der Einfüllstutzen nicht, ich hörte ihn sagen, er würde es ohne versuchen und schließlich gluckerte es vielversprechend in den Tank. Danach brachten sie gemeinsam den Kanister zu seinem Kofferraum zurück. Hannah stiefelte anmutig über die dreckigen Schneehaufen und zog schwungvoll
ihre Handschuhe aus der Manteltasche. Etwas Silbernes sprang in den Schnee. Er bückte sich und reichte ihr einen Schlüssel. Sie erklärte, dann brachen sie in Gelächter aus. Seit mein Vater vor ein paar Monaten für unbestimmte Zeit nach Südamerika verschwunden war, hatte ich sie nicht mehr so fröhlich lachen sehen. Er hielt ihr etwas Weißes hin und nahm einen Stift aus der Jacketttasche.
"Sag ich doch, Lehrer!", meinte Anne abfällig.
Ich hupte, Hannah kritzelte und kam schließlich hoch erhobenen Hauptes zum Wagen zurück.
"Bis morgen Abend", rief der Typ ihr nach. "Der geht aber `ran", sagte Manu. "Der heißt Dieter", verbesserte Hannah, besah sich kurz im Rückspiegel, "und er ist Dozent für Soziologie an der Uni." "Na bitte", sagte Anne.
Dieter blieb uns erhalten, bis der Sommer kam.
An einem verregneten Sonntagmorgen im Mai, beschlossen wir ins Schwimmbad zu gehen. Dieter hatte Schnupfen und blieb Zuhause. Im Bad war es voll. Anne und Manu übten Kopfsprung im Sprungbecken, Hannah zog ihre schiefe Bahnen und wurde ständig von rechts und links überholt. Anschließend legte sie sich in einen Liegestuhl und las. Dann gingen wir in die Cafeteria und bekamen ein Eis. Es war ein ganz gewöhnlicher Hallenbad-Sonntagmorgen und nichts deutete darauf hin, dass sich etwas Bedeutsames ereignen könnte.
In der Umkleidekabine hörte ich Hannah leise nebenan fluchen. Sie schien zu kramen.
"Wo ist er denn?", sagte sie laut. "Nicht schon wieder", war als nächstes zu hören.
"Kinder!", rief sie viel zu laut, "habt ihr meinen Schlüssel gesehen? Er hat ein rotes Band."
Nein, hatten wir natürlich nicht, aber wir wurden zum Suchen ausgeschickt. Manu in die Cafeteria, Anne zu den Duschen und ich bei den Liegestühlen. Dort war zwar nichts zu entdecken, aber als die Schwimmer alle auf der einen Seite waren, entdeckte ich etwas Rotes am Grunde des großen Beckens, dort wo es am tiefsten ist.
Kurze Zeit schauten wir dem Bademeister zu, der versuchte den Schlüssel mit einem Netz aus der Tiefe zu fischen. Aber der Schlüssel erwischte penetrant, bis er endlich am Abfluss hängen blieb und sich nicht mehr rührte.
"Dann muss wohl einer von euch `runtertauchen", sagte der Bademeister. Manu versuchte es prompt, schaffte aber noch nicht einmal die Hälfte der Strecke.
"Darf isch Ihnen be`ilfreisch sein?", sagte plötzlich eine Stimme hinter uns. Mit einem eleganten Kopfsprung schnellte der Herr vom Beckenrand ins Wasser. Er tauchte gleich weiter, schräg durch das ganze Becken. Sein Gestalt flimmerte weiß vor den dunklen Kacheln. Dann schoss er steil in die Höhe und seine Faust mit dem Schlüssel stieß als erstes aus dem Wasser. Hannahs Augen glitzerten und die Zuschauer klatschten Beifall. Monsieur schwang sich elegant an Land, überreichte meiner Mutter den Schlüssel
mit einer Verbeugung und lud sie zu einem Café ein. Wörtlich sagte er:
"Mademoiselle, wenn dies ist die Schlüssel zu ihre `erzen, darf isch Sie einladen zu einem kleinen Café?"
Er durfte und das war der Anfang der Aera Jean-Claude. Mit Dieter waren wir oft ins Theater gegangen. Damit war es nun aus. Jean-Claude ging lieber ins Kino. Außerdem kochte er wunderbar, erfand Rezepte, die wir ausprobieren mussten und verfasste Kochbücher. Da er außerdem ab und zu für den >Gourmet< die Restaurants der Umgebung auf ihre Tauglichkeit überprüfen musste, wurden wir in dieser Zeit um einige Kilo schwerer. "Wir sind die Schrecken aller Kösche der Umgebung, lachte Jean-Claude."
Leider hörte Hannah nicht auf ihre Schlüssel zu verlieren. So traten Ulrich mit dem wiedergefundenen Haustürschlüssel, dann Georg mit der Rückeroberung des Garagenschlüssels aus dem Gulli in unser Leben.
Das wäre sicher so weiter gegangen, wenn wir nicht wieder nach Amrum gefahren wären. Wir fahren in den Sommerferien immer nach Amrum. Dort kann man sich entspannen, es gibt weniger Schlüssel, die Hannah verlieren kann. Den Wohnungstürschlüssel legen wir unter die Fußmatte und damit hat`s sich. Unsere Wohnung liegt im 1.Stock eines spitzgiebeligen Backsteinhäuschen. Unten wohnt Frau Demut mit Ali, ihrem großen Kater, der im Sommer nicht hinaus darf, weil das Haus direkt am Naturschutzgebiet liegt. Also muss Ali
an der Leine spazieren geführt werden, und in den Ferien übernehmen wir das. Am dritten Tag sagte Hannah: "Kommt, wir nehmen Ali und statten dem Leuchtturm einen Besuch ab." Sie sang laut vor sich hin, setzte ihren grünen Tüpfelhut auf, mit dem sie aussieht wie Elizabeth Taylor in jungen Jahren und nahm ihre gelben Turnschuhe in die Hand. Sie trägt ihre Schuhe lieber in der Hand als an den Füßen.
Der Schlüssel kam unter die Matte und wir marschierten kurz darauf munter den Deich entlang, nicht ahnend, was die nächsten Stunden bringen würden. Hannah sang und mir war es ausnahmsweise nicht peinlich. Mochte sie singen und tanzen, hier sah es keiner. Plötzlich blieb sie stehen, hob etwas auf und betrachtete es eingehend.
"Schaut, was ich gefunden habe!" Es war ein Schlüsselbund mit vier Schlüsseln. Ergriffen starrte sie das Schlüsselbund an.
"Kein Name, kein Anhänger, gehört wahrscheinlich einem Mann. Was meint ihr, wie der jetzt wohl sucht, der Arme", sagte sie voller Mitgefühl. "Kommt Kinder! Wir müssen ihn sofort finden!"
"Aber wie willst du ihn denn finden?", wandte ich ein. "Du hast keine Ahnung, wer er ist, wie er aussieht, wo er wohnt, rein gar nichts weißt du!"
"Also, er fährt einen Saab", sagte Manu, "und dies", er tippte auf den kleinsten Schlüssel, "gehört zu einem Fahrradschloss, meiner sieht genauso aus." "Der hier", unterbrach Hannah ihn, "gehört eindeutig zu einer Haustür. Nur den großen kann ich nicht einordnen. Macht nichts! Wir gehen erst mal nach Nebel und fragen alle, die wir treffen."
Mir graute es. In Nebel blieb ich so weit wie möglich hinter den anderen zurück. Sollten die sich lächerlich machen, ich gehörte nicht dazu.
Hannah steuerte zielbewusst jeden Mann an, den sie erblickte und mit den Worten:
"Haben Sie vielleicht ein Schlüsselbund verloren?", hielt sie ihn auf. Anne und Manu standen daneben und feixten.
Hannah fragte sich die Hauptstraße entlang, klapperte anschließend die Strandkörbe ab, ging die Promenade hinauf und schwenkte das Schlüsselbund trophäenartig über dem Kopf. Endlich hatten nicht nur wir Kinder, sondern auch Ali an seiner Leine die Nase voll und Hannah hatte ein Einsehen. Wir konnten sie überreden uns ein Eis zu spendieren. Im Restaurant setzten wir uns ans Fenster und banden Ali am Tischbein fest. Er bekam Vanilleeis im Becher.
Hinter uns saß ein Pärchen, das gerade Streit hatte. "Es tut mir doch leid", sagte der Mann. "Bitte Lorraine, es war doch bestimmt nicht meine Absicht..." Sie zischte etwas... Er beschwichtigte wieder. "Das wird sich schon wieder einrenken lassen." Er stand auf. "Ich bringe dir einen Eiscafé."
Kurz darauf kam er mit einem großen Glas zurück, in dem zwei Strohhalme steckten.
Es war ebenfalls nicht seine Absicht, dass er über Hannahs Turnschuhe stolperte, die sie neben, statt unter dem Tisch postiert hatte. Auch dass Ali unter dem Tisch hervorschoss und die Leine um seine Beine wickelte, geschah völlig absichtslos. Dennoch ergoss sich der gesamte Inhalt des Eiscafés in hohem Bogen über Lorraines faltenfreie Bluse. Schokolade tropfte zäh in ihren Schoß, Sahne klebte an ihren Ohren, die Streusel hätte er nicht besser dekorieren können.
Aber Lorraine reichte es jetzt, zumindest sagte sie das, bzw. sie keifte es. "Erst verpasst du die Fähre, weil dir das Benzin ausgeht, dann verlierst du deine Schlüssel und jetzt dies. Ich brauche jemanden auf den Verlass ist! Wenn ich einen Hanswurst sehen will, gehe ich in den Zirkus!" Damit stieß sie den Stuhl zurück und verließ das Restaurant, kerzengerade und die Sahne tropfte von ihren Ohrläppchen.
"Oh, flüsterte Hannah, der arme Mann! Wie furchtbar!" Der Mann hatte sich auf einen Stuhl fallen lassen und wischte gedankenvoll mit einer Serviette an den Flecken auf der Tischdecke herum.
"Entschuldigen Sie", sagte Hannah und fuhr in ihre Turnschuhe als wären es Schlappen. "Schon gut", beruhigte er sie, "wenn ich über etwas stolpern kann, dann tu ich es." Er fuhr sich verzweifelt durch seinen dicken blonden Haarschopf.
"Ja, ich auch", meinte Hannah, "deswegen ziehe ich auch immer meine Schuhe aus, wissen Sie, man hat dann mehr Bodenhaftung." "Tatsächlich?", er sah erstaunt aus. "Das muss ich auch ausprobieren. Bei Gelegenheit." Begeistert begann Hannah zu erzählen, was bei ihrer letzten Stolperorgie geschehen war, und Franz, inzwischen kannten wir seinen Vornamen, wusste seinerseits einiges beizutragen.
"Erzähl `mal, wie du immer die Milch verschüttest", mischte sich Manu ein. "Ja, aber das liegt an den Tüten", sagte Franz, "die KANN man gar nicht öffnen, ohne etwas zu verschütten." "Siehst du", Hannah triumphierte, "das sag ich seit Jahren!"
Franz melancholischer Ausdruck verflüchtigte sich zusehends. Er sah meine Mutter bewundernd an und sagte: "Ich würde sie ja gerne zu einer Bootsfahrt einladen, aber ich fürchte, ich hab meine Schlüssel verloren."
"Ach so", sagte Hannah, "der vierte Schlüssel ist also für ein Boot."
Als Meeresbiologe hatte Franz die Aufgabe übernommen, den Bestand der Kegelrobben und Trottellummen vor Amrum zu erforschen. Wir fuhren also mit ihm hinaus und es wurde noch ein wunderbarer Nachmittag. Mamas Hütchen wehte ins Wasser und Franz fischte es wieder heraus. Er trat auf ihre Sonnenbrille, sie bekleckerte ihn mit Sonnenmilch und sie verstanden sich immer besser.
Franz ist uns bis heute erhalten geblieben. Wir haben noch zwei Halbgeschwister bekommen und wenn Hannah ihre Schlüssel verliert, findet Franz sie schleunigst. Das haben wir ihm geraten.
Heute, fünf Jahre später, sitze ich in der Uni-Bibliothek und schaue auf die Fahrradständer hinunter. Mein Fahrrad steht auch dort, angekettet an das Eisen, versteht sich. Ich würde gerne nach Hause fahren, aber das geht nicht, weil ich nämlich meinen Schlüssel verloren habe. Jetzt kommt einer und setzt sich auf die kleine Mauer. Er scheint auf etwas zu warten. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, ob es Schlüsselgene gibt und wenn ja, ob sie vererbbar sind.
Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.