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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Sophie

© Rebecca Rothenbücher


Kinder? Nein. Kinder wollte ich nie. Gut, vielleicht im Grundschulalter, wenn ich Mutter, Vater, Kind spielte. Später mal dachte ich. Später würde ich einen reichen Mann heiraten, mit meinen sechs Kindern und einem weißen Pferd zusammen in einer Villa am Meer wohnen. Aber schnell, ich glaube schon in der fünften Klasse, als ich auf das Gymnasium wechselte stand für mich fest, dass ich Karriere machen wollte. Eine Familie kam für mich nicht in Frage. Ich war eine erfolgreiche Schülerin und meine Eltern, deren Firma ich später übernehmen sollte mächtig stolz auf mich. Ich bestand mein Abitur mit einem Durchschnitt von 1, 5 und im Fach Englisch war ich die Beste meines Jahrgangs. Meine Mutter lag mir mit Hochzeit in den Ohren und stellte mir einige erfolgreiche Geschäftsmänner vor. Meine Zukunft, so sagte sie solle gesichert sein, nur für den Fall der Fälle. Doch ernsthaftes Interesse konnte ich für keinen zeigen. Nicht etwa aus Grausamkeit meiner Mutter gegenüber, es war nur einfach nicht der Richtige dabei. So wirklich verliebt war ich noch nicht gewesen. Mag sein, dass ich zu hohe Ansprüche stellte. Doch unglücklich machte mich mein Single Dasein keines Wegs. Ich schickte noch vor Beendung meines Abschlussjahres einige Bewerbungen an die größten Firmen der Stadt, auch international bewarb ich mich. Eine Ausbildung unter dem eigenen Vater schien mir nicht die richtige Entscheidung. Zu vier Vorstellungsgesprächen wurde ich eingeladen, die Firmen zeigten wegen meiner guten Zeugnisse reges Interesse. Die Firma bei der ich letztendlich einen Vertrag unterschrieb hatte ihren Hauptsitz in den USA. Drei ein halb Jahre New York, für mich die große Chance. Mein Vater mietete mir ein Apartment nahe meinem Ausbildungsplatz, finanzierte mir den amerikanischen Führerschein und einen schicken Kleinwagen. Mir wurde zugegeben anfangs viel in den Schoß gelegt. Schnell lebte ich mich ein, knüpfte Kontakte zu anderen deutschen Mitarbeitern und absolvierte die Abschlussprüfung mit Bravour.
In den drei Jahren hatte ich so einige Männer kennen gelernt. Hoffnungslose Fälle, die ihre Depressionen im Alkohol ertranken, Studenten, Kellner und "Normalos". Einer von ihnen, von diesen "Normalos" war Georg. Was an ihm mich angesprochen hatte weiß ich heute nicht mehr so genau. Sein irischer Akzent, seine fransig ins Gesicht fallenden Haare waren es vermutlich nicht. Es war wohl das Abenteuer das ich suchte. Ich war neunzehn, völlig unerfahren und das schien dem reifen, durchaus charmanten Tagträumer zu genügen. Ein halbes Jahr ging unsere Affäre. Er war sehr einfühlsam, ließ mir Zeit, ich konnte eine Menge von ihm lernen. Er stellte keine Ansprüche, trug mich auf Händen und das schmeichelte mir. Doch Liebe? Liebe war nicht im Spiel.
Schließlich bekam ich nach meiner Ausbildung das Angebot weiterhin in dem Betrieb zu arbeiten. Bis ich die Firma meiner Eltern in Deutschland übernehmen sollte würden ohnehin noch ein paar Jahre verstreichen und Erfahrungen zu sammeln könnte mir sicher nicht schaden. So entschloss ich auf das Angebot einzugehen. Nur zwei Jahre später wurde ich befördert zur Chefsekretärin. Trotz dass ich die Firma nun gut kannte und mir den Posten durchaus zutraute, war ich sehr aufgeregt. Nun war es der Chef persönlich, für den ich den Papierkram erledigte. Doch was ich nicht ahnte war, dass sich von nun an nicht nur mein Gehalt ändern sollte. Mein ganzes Leben sollte von nun an andere Bahnen laufen. Wir verstehen uns, wenn ich sage, ich spreche nicht von beruflichen Bahnen.
Mein Chef war ein gut aussehender Mann, Anfang vierzig, gekleidet in Dolce und Gabana und gehüllt in Hugo Boss. Die schwarzen Haare nach hinten gegelt, aber keines Falls overdressed wirkend, eher etwas extravagant. So war auch sein Charakter, den ich bei einem, nun ja, ich sage mal Geschäftsessen kennen lernen durfte. Diese strahlend schönen Augen und diese Grübchen, dieser verführerische Duft und die großen Hände. Es war einfach alles perfekt an diesem Mann. Nun mag es ein Klischee sein, dass ich erfüllte, als ich ein Verhältnis mit ihm begann. Der Chef und die Sekretärin. Alles wie aus einem kitschigen Groschenheft gerissen. Doch die Beziehung zwischen Martin und mir war besonders. Keineswegs kitschig. Er nahm mich ernst, hörte mir zu und gab mir das Gefühl etwas wert zu sein. Er bekochte mich und er massierte meine Schultern nach einem verspannten Arbeitstag. Wir trafen uns nicht in einem Hotel. Er besuchte mich in meinem Apartment. Es schien persönlicher und in diesem Teil der Stadt hatten wir nichts zu befürchten. Er war mit Bricilla verheiratet, nun mehr vierzehn Jahre. Zusammen lebten sie in einem ländlichen Vorort. Sie hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Er liebte seine Kinder und auf eine bestimmte Weise liebte er auch seine Frau. Die Vergangenheit die er mit ihr teilte und das Leben dass sie zusammen aufgebaut hatten machten mich nicht eifersüchtig. Ich bewunderte ihn, für die Bemühung, Familie und Karriere gleichermaßen gerecht zu werden.
Ich hingegen war nach der Arbeit froh, wenn ich die Beine hochlegen und einfach relaxen konnte. Kein Mann der sagte "Schatz was gibt es zu essen?", kein weinendes Kind, dass mir den letzten Nerv raubte. Einfach nur Stille. Keine deprimierende Stille, eine entspannende Stille. Wannenbäder mit Champagner und im Fernsehen das Programm ansehen, für das nur ich mich entschied. Für Abwechslung jeden Mittwoch und hin und wieder am Wochenende sorgte Martin. Wenn es mir in den Sinn kam ging ich mit Freunden aus oder alleine ins Kino. Ich konnte mir teure Kleider und Schuhe kaufen, ohne Rücksicht nehmen zu müssen. Mein Leben war nicht langweilig, es war genau so wie ich es mir vorgestellt hatte.
Dann der Schock. Ich hatte seit Wochen so ein flaues Gefühl im Magen. Zum Arzt zu gehen sah ich anfangs nicht für dringend, erst als ich im Büro plötzlich zusammen klappte. Zu wenig getrunken dachte ich. Es war vielleicht in letzter Zeit auch etwas stressig auf der Arbeit, oft machte ich Überstunden um die Papierberge bewältigt zu bekommen. Martin gab mir den Mittag frei und bestellte mir ein Taxi zu einem der besten Ärzte der Stadt. "Lass dich lieber mal durchchecken Liebling, deine Person wird hier gebraucht", meinte er.
Die Praxis war schön hell, die Helferin freundlich und ich war direkt an der Reihe. Martin hatte es am Telefon wohl etwas übertrieben mit meinen Kreislaufproblemen.
"Mrs Sielers" meinte der Doktor, der mit einem Ultraschallgerät über meinen Bauch kreiste "Sie sollten sich in nächster Zeit etwas schonen."
"Ich verstehe nicht Recht. Ist es etwas Schlimmes?" Ich wollte schlucken, doch dazu fehlte mir in diesem Moment der Ungewissheit der Speichel. Der Mann in weiß, der stirnrunzelnd auf den Bildschirm blickte schüttelte den Kopf. "Oh nein, es ist ein freudiges Ereignis was sie erwartet. Sie tragen ein gesundes Baby unter ihrem Herzen."
"Freudiges Ereignis" ironischer hätte er es nicht treffen können, dachte ich mir, als ich das durchsichtige Gel mit einigen Küchentüchern von meinem Körper wischte und meine Hose zuknöpfte. Dazu würde es nicht kommen, zu diesem Ereignis, denn behalten würde ich das Baby auf keinen Fall. Ich nahm im Sprechzimmer Platz und starrte auf die Ultraschallbilder die der Arzt vor mir ausgebreitet hatte. "Sehen Sie, hier ist das Köpfchen und hier..." Ich hörte die Worte wie durch eine Schallmauer. Wie sollte ich das Martin erklären? Wie konnte das überhaupt möglich sein? Nun gut, einige Wochen war meine Periode schon überfällig, aber so genau wusste ich das auch nicht mehr und gewundert hatte ich mich darüber auch nicht. Der Stress war es auf den ich auch dieses Zeichen meines Körpers geschoben hatte.
"Die Möglichkeit einer Abtreibung können wir in Ihrem Fall ausschließen." Die Worte drang plötzlich wie ein Pfeil durch die Schallmauer zu mir hindurch. Fassungslos blickte ich auf. "Sie sind nun im vierten Monat, eine Abtreibung in diesem Drittel der Schwangerschaft ist gesetzlich verboten. Aber das käme für Sie wahrscheinlich auch nicht in Frage?" Und wie das in Frage käme. Was sollte ich denn mit einem Kind? Ich beschloss die Nachricht vor mir her zu schieben, sie Martin vorerst nicht mitzuteilen. Doch am Abend als er für mich kochte brach ich in Tränen aus und ich erzählte es ihm. Er schlug die Hände vor seinem Gesicht zusammen und knöpfte den oberen Knopf seines Hemdes auf.
"Darling, verstehe mich bitte nicht falsch. Du bedeutest mir alles, aber ein Kind..."
Zurück nach Deutschland wollte er mich schicken, so dass es in der Firma niemand mitbekommen würde und so dass er seine Ehe retten könne. Eine große Abfindung und monatlichen Unterhalt für das Kind versprach er mir. Wie ich mich fühlte schien ihm an diesem Abend zum ersten Mal egal.
Die OP für nächsten Monat, zum Aufspritzen der Lippen müsste ich Absagen. Überhaupt würde mein Aussehen auf das ich großen Wert legte leiden. Meine Karriere wäre nun Vergangenheit. Was sollte ich in Deutschland? Was sollte ich mit einem Kind? Und was um alles in der Welt würden meine Eltern sagen? Verleugnen würden sie mich. Ein uneheliches Kind in der Familie Sielers. Schande über mein Haupt.
Aus Liebe zu diesem Mann, mit dem ich die letzten Jahre verbracht hatte und aus Vernunft packte ich wenige Tage später meine Sachen, verabschiedete mich von Freunden und meinem schönen Apartment.
Vom Flughafen nahm ich ein Taxi und stand am Abend mit drei Koffern bei meiner Großmutter vor der Türe. Das war die, in meinen Augen geschickteste Lösung. Sie brachte mir Milch und Kekse wie früher und lies mich weinen. Sie richtete mir das Gästezimmer und brachte mir eine Tasse Tee ans Bett. Meine Großmutter war eine tolle Frau, als Kind mein Vorbild gewesen. Sie konnte Geschichten erfinden und Kuchen backen. Doch erreicht hatte sie in ihrem Leben nicht viel. Sie hatte in die Firma, die damals meinem Großvater gehörte eingeheiratet, vier Kinder groß gezogen und den Haushalt geführt. Nun sollte ich genauso enden wie sie. ICH Karrierefrau. Wer sollte die Firma übernehmen? Mein kleiner Bruder etwa, der gerade die neunte Klasse der Hauptschule gerade zum zweiten Mal besuchte?
Je runder mein Bauch wurde, desto größer wurde die Angst mit meinen Eltern zu sprechen. Diesmal würden sie mir nicht alles in den Schoß legen, diesmal würden sie mir das Leben zur Hölle machen.
Von der Abfindung kaufte ich mir eine Eigentumswohnung in der gleichen Straße wie auch Großmutters Haus stand. Ich besuchte sie oft und sie machte mir viel Mut. Sie war überzeugt, dass ich es schaffen würde. Eifrig strickte sie Babystrümpfe und schenkte mir Trost, als meine Eltern mir verkündeten sie bräuchte "Abstand".
Ein Mädchen würde es werden, meinte der Arzt. Eine kleine Sophie. Sophie nahm bald ganz schön viel Platz in meinem Bauch ein und ich bangte um mein Bindegewebe. Schwangerschaftsstreifen, Hängebusen das wäre mein Tod.
Dann strampelte Sophie zum ersten Mal so kräftig, dass ich es spürte. Auf einmal war da nicht mehr nur der Bauch, auf einmal spürte ich, dass sich in dem Bauch Leben entwickelte. Stolz meldete ich mich für den Geburtsvorbereitungskurs im Krankenhaus an. Ich ernährte mich gesund und spazierte stundenlang durch den Wald. Großmutter war oft mit ihrem Rollstuhl dabei. Mit ihrer Beichte, dass Helmut, der ältester Bruder meines Vaters auch unehelich geboren war, nahm sie mir etwas des schlechten Gewissens, dass ich gegenüber Sophie hegte.
Bei meiner nächsten Vorsorgeuntersuchung war mein Gynäkologe sichtlich aufgeregt. Er brummte etwas von ich sollte mir erst mal keine Sorgen machen aber möglicher Weise würde Sophie nicht gesund zur Welt kommen. Irgendetwas mit Chromosomen und Gesichtszügen murmelte er. Ich musste einer Fruchtwasseruntersuchung zustimmen, die Klarheit schaffen sollte. Das Warten machte mich verrückt. Ich würde doch spüren, wenn es Sophie nicht gut ginge. Sie war doch so ein munteres Wesen, lies sich durch die Spieluhr wecken und turnte fröhlich umher. Doch die moderne Technik machte es schließlich möglich, dass ich gerade Anfangs achten Monat, was für diese Diagnose eigentlich spät war erfuhr, dass Sophie kein gesundes Mädchen würde. Sie war geistig behindert, mongoloid. Tagelang weinte ich, auch Großmutter konnte mich nicht trösten. Was würde auf mich zukommen? Könnte ich ein behindertes Kind aufziehen? Ich zweifelte an meiner Kraft. Sie könnte nie eine normale Schule besuchen, würde von Kindern nicht akzeptiert. Vielleicht hätte sie Probleme mit dem Herzen und viele Mongoloiden sind doch auch aggressiv. Wie würde meine Umwelt mit Sophie umgehen? Vielleicht würde Sophie früh sterben. Ich hatte nun noch größere Ängste vor der Zukunft und die Beziehung zu der Kleinen litt enorm. Ich sprach nicht mehr mit ihr, machte sie meines Unglücks verantwortlich. Wenn sie strampelte begann ich zu weinen, manchmal schrie ich sie an. Die Wochen kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Der Arzt meinte vielleicht könne Sophie nicht auf normalem Wege auf die Welt kommen.
Doch es kam Tag X, ein heißer Sommertag. Meine Beine waren von Wassereinlagerungen geschwollen, der Bauch erschwerte mir jede Bewegung und auch Sophie wurde es nun zu eng. Ich rief ein Taxi zum Krankenhaus und versprach meiner Großmutter direkt anzurufen. Die Wehen waren erträglich und die Geburt verlief schnell. Die Schwester legte mir das blutverschmierte Bündel auf die Brust. Sophie war sichtlich geschwächt von der Geburt. Sie blickte mich an und ihre Fingerchen schoben sich unter meinen Ärmel, suchten Hautkontakt. Es war überwältigend, dieses Gefühl. Ich liebte dieses Kind, nichts könnte uns nun mehr trennen.
In den nächsten Jahren gründete ich eine Selbsthilfegruppe, traf mich mit anderen Betroffenen, die zu Spielkameraden von meiner Prinzessin wurden. Ich war stolz, als Sophie zum ersten mal Mama sagte und jeder Satz war ein Erfolgserlebnis. Sophie gab mir unheimlich viel Liebe und baute mich auf, wenn wir negatives durch Mitmenschen erlebten. Sie besucht nun die erste Klasse einer Sonderschule, kümmert sich rührend um ihre Katze Betty und ist ein lebensfroher Mensch. Ich habe einen neuen Lebenspartner gefunden, der mir zeigt was wahre Liebe ist. Er ist ein guter Vater und weiteren Nachwuchs schließen wir nicht aus. Sophie ist das Beste was mir im Leben passieren konnte, ein unglaublich dankbarer Mensch, der jeden Tag lebenswert macht.
Meine Eltern konnten mir nie verzeihen, die Firma leitet nun als Juniorchef mein Couseng.
Meine Großmutter wurde von Sophie mit "die beste Uromi der Welt" ausgezeichnet uns feiert nächsten Monat ihren zweiundneunzigsten. Martin zahlt regelmäßig Unterhalt, verweigerte jedoch jeden Kontakt.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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