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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Schlüsselkrieg

© Claudia Gürtler


Lehrstellen waren schon seit Jahren knapp, vor allem für junge Leute wie Daniel, die ihre Schulzeit verschlafen, verträumt und vertrödelt hatten, dies immer in der Hoffnung, dass sich Lebensträume so oder so erfüllen würden, wenn man sie nur leidenschaftlich genug träumte. In seinen Träumen war Daniel Meister in jedem Fach und ein ausgemachter Glückspilz dazu.
Die Wirklichkeit schließlich stellte ihn vor einen Scherbenhaufen in der Form eines unansehnlichen Abschlusszeugnisses, welches ihm mit hämischen Bemerkungen und vielen Ermahnungen, sich zu bessern und so vielleicht doch noch etwas aus seinem Leben zu machen, überreicht wurde. Dass seine Verwandtschaft weitläufig war, ging Daniel erst so richtig auf, als er das Zeugnis zu Hause präsentierte. Unwahrscheinlich viele nähere und entferntere Verwandte stellen ihm in der Folge während Wochen, ja sogar Monaten dieselbe Frage:
"Und? Hast du dich entschieden? Was willst du denn werden? Hast du schon eine Lehrstelle?" Daniel gewöhnte sich an, morgens lange auszuschlafen, um eine erste und vielleicht auch eine zweite Fragerunde zu verpassen. Abends ging er früh zu Bett, um weiteren Runden zu entgegen. Wäre sein Taschengeld - "wozu braucht ein Nichtstuer Geld?!" - großzügiger bemessen gewesen, so wäre er allabendlich ausgegangen.
Seine Aussichten waren, wie er sich selbst zögernd eingestand, düster. Ein Jahr nach seinem letzten Schultag waren sie kaum noch vorhanden, und dies, obwohl der Lehrling in spe täglich unter den gestrengen Blicken von Vater, Mutter, Großvater oder einer Tante die Zeitungen las, von der ersten bis zur letzten Seite. Halbherzig und mit sinkenden Hoffnungen bewarb er sich um Lehrstellen, von denen er nicht sicher war, dass er sie haben wollte und erhielt entweder gar keine Antworten oder aber Absagen, bis er eines Tages darauf verfiel, auch das Kleingedruckte zu lesen. Und da stand es, so winzig, dass er beim Lesen die Augen zusammenkneifen musste, aber dennoch schwarz auf weiß: "Wenn sie Daniel heißen und siebzehn Jahre alt sind, so machen sie mehr aus ihrem Leben - verzaubern sie es!"
Trotz des kaum aussagekräftigen Inseratetextes sandte Daniel sein unvorteilhaftes Zeugnis ein, seinen noch kurzen Lebenslauf, ein Foto, welches ein verschlafenes und leicht deprimiertes Gesicht zeigte und ein paar Zeilen zu seinen Zielen und Wünschen ans Leben. Die Aufforderung, sich vorzustellen und auch gleich einen gepackten Koffer mitzubringen, kam postwendend.
Daniel hatte eine Zugfahrt mit siebenfachem Umsteigen vor sich, und das Geld für die Fahrkarte borgte er sich von seiner Mutter, die darauf bestand, dass er den Betrag nach bestandener Lehrzeit zurückerstatte.
Und so wurde Daniel Zauberlehrling im ersten Lehrjahr. Er hatte tagsüber ebenso wie nachts weite, traurig dunkelviolette Pyjamas zu tragen, und er wurde umgetauft, denn Zauberer heißen nun mal nicht Daniel, sondern beispielsweise Bonifaz. Seinen Lehrmeister hatte Bonifaz mit ihre Majestät anzusprechen, und weil er nur nickte, aber nicht zuhörte, prasselten Kröten, Eiswürfel und Mäusedreck auf ihn hinunter, als er es wenig später mit "Herr Zauberer" versuchte.
Das erste Lehrjahr begann eine Minute nach dem Krötenregen und war nicht der Rede wert, denn es war wie alle Lehrjahre. Bonifaz lernte "ja" und "amen" sagen, sich jedes "nein" verkneifen, Böden fegen, Kaffee kochen, interessiert aussehen, auch wenn er sich tödlich langweilte und Pünktlichkeit, Pünktlichkeit, Pünktlichkeit.
Das zweite Jahr war schon besser, denn da durfte er die Zauberbücher abstauben, die seine Majestät schon länger nicht gebraucht hatte. Bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe gewöhnte er sich Gründlichkeit an, denn jedes vergessene Staubkörnen verwandelte sich in einen Floh, welcher sich zielstrebig den Zauberlehrling Bonifaz als Wirt und großen Freund aussuchte. Hämisch kicherte seine Majestät ob der verzweifelten Tänze des Gequälten.
Im dritten Jahr lernte Bonifaz, getürmte Zauberstäbe wieder einzufangen, auch wenn sie sämtliche Register zogen, und er erfuhr, dass die Lehrzeit eines Zauberers sieben Jahre dauert. Das hatte ihm eingangs keiner gesagt.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Daniel, alias Bonifaz breit und er fragte sich, ob er nicht besser Spengler geworden wäre.
Im vierten Lehrjahr durfte der Zauberlehrling Fragen stellen, erhielt aber keine Antworten.
Im fünften Jahr wagte er sich an einfache Übungen, verwandelte Suppe in Spaghetti, gratinierten Fenchel in Erdbeereis, die Türmatte in neue Schuhe, ein einfaches Glas in eine Flasche Wein, einen Hausierer, der es gewagt hatte, zu klingeln, in eine einäugige Katze und ein Zauberbuch, welches seiner Majestät besonders am Herzen lag, in ein Schinkenbrot, welches schnell gegessen, aber kaum verdaulich war. Seine Majestät beschloss großzügig, durch Sport nachzuhelfen und setzte eine kleine, aber aggressive und bissige Fledermaus auf Bonifaz' an. Sie hetzte den Lehrjungen mit gierigem Zähneklappern und hohlem, gespenstischem Pfeifen zwei Tage lang im Schloss treppauf und treppab, und es war reiner Zufall, dass es am Ende die Fledermaus war, die ganz plötzlich an Erschöpfung starb, und nicht der Zauberlehrling.
Zu Beginn des sechsten Lehrjahres wurde Bonifaz Zeuge eines großen und mächtigen Zaubers, der ihn sehr beeindruckte und ihn davon überzeugte, dass er es wirklich lernen wollte, das Zaubern. Seine Majestät hieß ihn eine Mohrrübe in eine Kreide verwandeln, was Bonifaz auch im zweiten Anlauf gelang. Gleich neben Bonifaz' Zimmertür malte der Meister mit kühnen Strichen eine zusätzliche Tür an die Wand. Er malte auch einen Schlüssel dazu, pflückte ihn von der Tapete, steckte ihn ins Schloss, drehte ihn knirschend um und verschwand in seinem neu geschaffenen Arbeitszimmer, zu welchem der kleine Zauberlehrling keinen Zutritt hatte. Bonifaz blieb nach dem Knallen der Tür noch eine ganze Weile benommen im Gang stehen.
Nach der Erschaffung des Zimmers hatte der Zauberer nur noch wenig Zeit für seinen Lehrling. Er verbrachte Tage hinter der geheimnisvollen Tür.
Geräusche und Gerüche drangen durchs Schlüsselloch, und Bonifaz gelangte rasch zu der Überzeugung, das wirkliche Leben finde hinter dieser Tür statt. Der arme kleine Lehrling darbte in einer sinnlosen Scheinwelt, während ihm das wunderbare wirkliche Leben verschlossen blieb. Wenn er bloss den Schlüssel hätte!
Natürlich setzte er alles daran, in seinen Besitz zu gelangen. Wann immer der Zauberer ausser Haus war, suchte Bonifaz danach. Er suchte systematisch und gründlich in den vielen Zimmern des weitläufigen Schlosses, hob vorsichtig das Kopfkissen des Meisters hoch und steckte mit klopfendem Herzen seine Hände in die Taschen seiner abgelegten Kleider. Er steckte seine Nase in den Kamin, hob Dielenbretter hoch und schlich lautlos die Kellertreppe hinunter, obwohl er sich in der erwartungsvollen, grauslichen Stille zu Tode fürchtete.
Er versuchte auch, denn Schlüssel herbeizuzaubern oder einen neuen zu malen, doch was er auch unternahm, es wollte ihm einfach nicht gelingen, hinter die Tür zu kommen.
Er wollte schon aufgeben und die Sache auf sich beruhen lassen, da fand er den Schlüssel eines Tages, als er beim Frühstück saß. Er lag auf dem Grund seines Cornflakes-Tellers. Nach einem schnellen, prüfenden Blick auf den Meister, dessen Nase tief in der Kaffeetasse steckte, griff Bonifaz in den Bodensatz wässriger Milch und ließ den Schlüssel in die Tasche gleiten.
Konnte es sein, dass alles so einfach war? Oder war er dabei, in eine Falle zu tappen?
Jetzt, da er den Schlüssel hatte, fühlte er sich unangenehm gedrängt, zu handeln. Der Mut verließ ihn. Was würde ihn hinter der Tür erwarten?
Bonifaz malte sich tausend Möglichkeiten in allen Einzelheiten aus, und seine überreizte Phantasie gaukelte ihm immer entsetzlichere Bilder vor.
Endlich - der Zauberer war ausgegangen - stellte er sich doch vor die Tür.
Den Schlüssel in der Hosentasche hielt er fest umklammert. Und plötzlich drang ein Geräusch durchs Schlüsselloch, das er nicht erwartet hatte: er hörte das leise, verzweifelte Weinen eines Mädchens. Bonifaz zog den Schlüssel aus der Tasche und wollte ihn hastig ins Schlüsselloch stecken, doch es war zu spät. Er hörte den aufgeräumt von bösen Abenteuern heimkehrenden Zauberer über die Zugbrücke trampeln.
"Aufgeschoben ist nicht aufgehoben", dachte Bonifaz in leisem Triumph, doch seine Majestät schien zu ahnen, dass sein Lehrling etwas im Schilde führte.
Er gewährte ihm in den folgenden Wochen keine freie Minute, sondern hetzte ihn gnadenlos von Auftrag zu Auftrag und von Aufgabe zu Aufgabe, und der Lehrling seinerseits zeigte sich willig und fleißig und wissbegierig. Er lernte in wenigen Tagen so viel wie in den ganzen Jahren davor, und kurz bevor der Zauberer das nächste Mal ausging gelang es ihm gar, sich Schlüssel, die jede Tür öffneten, einfach vorzustellen. Bald hatte er die Taschen voll davon. Den richtigen Schlüssel aber trug er griffbereit an einer dünnen Kette um den Hals. Den violetten Pyjama hatte er bis oben hin zugeknöpft, was ebenso gut an der Kälte liegen konnte, die sich in den dicken Mauern hartnäckig hielt.
Diesmal steckte Bonifaz, kaum war der Zauberer aus dem Haus, den Schlüssel ins Schloss und stieß die Tür, hinter der das Mädchen weinte, weit auf.
Und da war er, der Zauberer! Bonifaz lief seiner Majestät direkt in die Arme. Es war eine Falle, natürlich war es eine Falle, und er war hineingetappt.
Die Kraft der Gedanken des Meisters warf den Jungen an die Wände, schleuderte ihn zu Boden und ließ ihn schließlich draußen auf dem Gang liegen, als er überzeugt war, aus nichts als blauen Flecken zu bestehen.
Aus verschwollenem Gesicht blinzelnd, erbärmlich humpelnd und kleinlaut erschien der Lehrling am nächsten Morgen zur Arbeit. Der Zauberer musterte ihn erstaunt, und als sich Bonifaz nun dauerhaft passiv gab, duldsam und dauertraurig, da wurde er wütend. Wie konnte der Junge so schnell aufgeben!
Ihm jedenfalls machte die Sache nur mit einem Gegner Spaß, der danach strebte, ihm ebenbürtig zu werden.
"Zaubern ist eine Herausforderung", stachelte er den Jungen an, "Zaubern hat mit Hochmut zu tun, mit Bluff und Selbstüberschätzung! Das zumindest solltest du inzwischen gelernt haben. Und nun tu gefälligst etwas, bevor ich mich zu Tode langweile."
Bonifaz erwachte aus seiner Starre. Jetzt lernte er wieder. Er lernte fast besessen und achtete sorgfältig darauf, dass der Zauberer nicht alle seine Fortschritte mitbekam. Und immer mal wieder spielte er dem Meister kleine, gutmütige Streiche, die dessen festgefahrenes, im Grunde langweiliges Leben interessanter machten, was ihn einlullte und inkonsequent werden ließ. Die totale Überwachung des Lehrlings war weniger total. Bonifaz steckte in diesen Tagen seine Nase in Zauberbücher, die ihm seine Majestät immer vorenthalten hatte und sog alles erreichbare Wissen in sich auf wie ein Schwamm. Auf seinem von Tag zu Tag selbstgefälligeren Gesicht lag ein Hauch von Hochmut, und wo seine Fähigkeiten an Grenzen stießen, bluffte er ohne Zögern.
Bonifaz fühlte sich zusehends wohler in seiner Haut, und zu seinem Glück fehlte ihm nur noch ein Blick hinter die Tür des neuen Zimmers. Des Meisters Mittel und Wege, es zu verteidigen, wurden immer raffinierter, und auch wenn sich der Lehrling mächtig anstrengte, hinkte er immer einen Schritt hinterdrein.
Täglich ging er unzählige Male unauffällig an der Tür vorbei, in der Hoffnung auf den Mut und die Weitsicht, eine sich bietende Gelegenheit in der genau richtigen Sekunde zu ergreifen.
Und eines Abends hörte er es wieder, das leise, traurige Weinen eines Mädchens hinter der Tür. Aus den Augenwinkeln sah er, dass er Meister in der Küche saß, den Rücken zur Tür und den Kopf tief über einem Teller Spaghetti mit Tomatensauce.
Bonifaz knöpfte den violetten Pyjama auf und zog den Schlüssel hervor.
Violett hatte er noch nie gemocht, und jetzt pappte er den Schlüssel neben der Tür an die Wand. Er sah aus wie eine unbeholfene Zeichnung.
Und während der Zauberer schmatzend den Spaghetti zusprach, ließ Daniel seinen Pyjama fallen und zauberte sich die Straßenkleider auf den Leib, die er getragen hatte, als er gekommen war. Er war zum Glück weder dicker noch größer geworden. Oder waren die Kleider gewachsen?
Geräuschlos verließ Daniel das Schloss. Keine Tür und keine Zugbrücke knarrte. Bis der Zauberer merkte, dass die Spaghetti gar nicht alle wurden, war Daniel bereits sieben Mal umgestiegen.
Schneeglöckchen und Krokusse froren in den Vorgärten und es schneite leise, aber das Pappschild "Lehrling gesucht" hing wie erwartet an der Tür der kleinen Spenglerei am Stadtrand, welche auf Schlüssel spezialisiert war.
Daniel schüttelte den Schnee aus den Haaren.
"Ich interessiere mich für die Lehrstelle", sagte er. Das Gesicht eines Mannes tauchte aus dem Halbdunkel der Werkstatt auf, und ein schwärzlicher Finger drückte auf den Aus-Knopf der Schleifmaschine.
"Kannst du morgen anfangen?" fragte er Mann. Er war heiser und hustete.
"Ja", sagte Daniel und fügte hinzu: "Schmuddelwetter, was?" Der Mann ging nicht darauf ein.
"Was hast du bisher gemacht?" fragte er ohne Misstrauen.
"Schlüssel", sagte Daniel und leerte seine Taschen.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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