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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Das kleine Meersternchen
© Corinna Ketterling
Es war einmal vor langer Zeit…
Warum diese Geschichte nicht so anfängt?
Weil es gar nicht so lange her ist, dass der alte Alfredo mir erzählt hat, was ich jetzt aufschreibe. Er und der kleine Seestern, von dem ich euch berichte, wohnen also immer noch im tiefen dunklen Meer in ihren Felshöhlen zwischen den Algen.
Außerdem ist diese Geschichte kein Märchen, sondern die reine Wahrheit. Das sagt jedenfalls der alte Seestern Alfredo, und ein alter Seebär und Meeresbummler - das weiß ja jedes Kind - lügt natürlich nie.
Stella, war ein kleiner Seesternjunge und der Jüngste in seiner Familie.
Seine sechs Geschwister hießen Antonio, Adriana, Anna, Alessio, Alessandra und Alberto.
Dass alle diese Namen italienisch waren, lag glaube ich einfach daran, dass seine Familie im Meer vor der italienischen Küste lebte. Dass sie alle mit "A" anfingen, könnte hingegen daran gelegen haben, dass die Eltern des Seesternchens - Anastasia und Armando - auch Namen hatten, die mit "A" anfingen, und deren Eltern ebenso.
Warum sie aber den kleinsten Seestern, ausgerechnet "Stella" genannt hatten, das weiß glaube ich niemand in der Familie so genau.
Stella war ein freundliches, friedliches Seesternchen und auf seinem roten Rücken strahlte ein violettes sternförmiges Muster, das sehr hübsch aussah.
Alfredo, sein Großvater, war sich sicher, dass Stella das Muster von ihm geerbt hatte, er war nämlich als einziger in der Familie hell-lila und nicht rot.
Vielleicht war das der Grund, weshalb Stella sich so gut mit ihm verstand.
In jedem Fall war Alfredo wirklich ein toller Großvater. Er hatte die sieben Weltmeere bereist, war bis nach Hawaii als blinder Passagier auf einem Bananendampfer mitgefahren und hatte sogar einmal im Bauch eines Wals übernachtet! Kein Wunder also, dass niemand so aufregende Abenteuergeschichten erzählen konnte, wie der alte Alfredo.
Stella liebte es, bei seinem Opa zu sitzen, seinen Geschichten zu lauschen und ihn mit Fragen zu überhäufen. Er verbrachte viel Zeit mit Alfredo und seine kleinen und ganz großen Geheimnisse vertraute er nur ihm an.
Wahrscheinlich war das auch ganz gut so, denn seine Eltern waren oft sprachlos, und besorgt, wenn Stella ihnen von seinen Ideen berichtete.
Zum Beispiel von der Krabbenkutsche, die er bauen wollte, oder davon, dass er vor hatte, einen Aal zu fangen, um auf ihm zu reiten.
Manchmal verbrachte er ganze Tage damit, alte Flaschen zu untersuchen und zu überprüfen, ob irgendwo ein Flaschengeist oder eine Botschaft versteckt war.
Als Stella auf einer alten Muschelschale die Felsen herunterrodelte, und in den Garten von Mina Medusa der alten Qualle hineinraste, bekam er sogar Stubenarrest.
"Was ist denn bloß mit dem Jungen los, warum kann er sich nicht wie ein normaler Seestern benehmen?", beklagte sich Stellas Mutter Anastasia oft traurig bei ihrem Mann Armando.
Dieser nahm sie dann in seine Seesternarme und sagte: "Ist doch halb so wild, kommt Zeit kommt Rat."
Seine Geschwister hingegen lachten Stella wegen seiner Ideen aus, und deswegen spielte er nicht besonders gerne mit ihnen. Die einzige, die ihm immer beistand, war die kleine Alessandra, aber viel konnte das Seesternmädchen gegen die großen Brüder natürlich auch nicht ausrichten, und so war Stella immer öfter alleine und wurde still und nachdenklich.
Eines schönen morgens im April hatte der kleine Seestern plötzlich eine Frage im Kopf, auf die er all zu gerne eine Antwort bekommen hätte.
So schwamm Stella nach dem Zähneputzen (natürlich putzen sich Seesterne die
Zähne!) zur Felsgrotte seines Großvaters. Das Meer war lauwarm und die Sonnenstrahlen ließen die kleinen Luftblasen im Wasser lustig glitzern, was Stella immer sehr gute Laune bereitete.
Alfredo saß gerade am Frühstücksstein und trank einen kräftigen Algentee, als Stella zur Grottenpforte hereinschwamm.
Er gab seinem Opa einen dicken Begrüßungskuss, und fragte dann sofort:
"Du, Opi, warum heißen wir eigentlich Seesterne?" "Sie sind doch ein Seestern, Herr Dreimuschelhoch, wie möchten sie denn sonst heißen?", wollte Alfredo wissen.
"Wir wohnen doch im Meer, warum heißen wir denn nicht Meersterne?" Alfredo dachte kurz nach, aber ihm fiel keine gute Erklärung ein.
"Na ja, eigentlich hast du Recht. Wir könnten auch Meersterne sein. Warum nicht!", sagte er und klopfte Stella auf die Schulter.
"Gut beobachtet, Junge, aus dir wird mal was!" Vom klugen Alfredo gelobt zu werden ist übrigens gar nicht so einfach.
Die nächsten Tage verbrachte Stella damit, stolz den anderen Meerestieren von seiner Idee zu erzählen: Von nun an gab es also Meerlöwen, Meerigel, Meergurken, Meerhunde, Meermänner und Meertang.
Die meisten Meeresbewohner belächelten Stella, aber der alte Tunfisch Hugo, war ganz begeistert von Stellas Einfall.
"Ein See ist ein ekelhaft stinkendes Loch mit grünlichem Wasser ohne eine Spur von Salz! Ich würde mich auch schrecklich ärgern, wenn mich jemand Seefisch nennen würde. Das klingt ja wie ein Schimpfwort! Du Seefisch!
Seestern! Igittigitt!", sagte er und schüttelte sich.
Einige Tage später sah Stella zwischen den bunten Algen, die sich sanft in der schwachen Strömung wiegten, ein wunderhübsches Seepferdchen.
"Wie hübsch du bist, Meerpferdchen!", rief er bewundernd aus.
"Wie bitte? Ich bin ein Seepferdchen", sagte das Seepferdchen beleidigt.
"Entschuldigung, ich wollte dich bestimmt nicht kränken... ich dachte nur, dass du doch im Meer lebst und nicht in einem See!", erwiderte Stella unsicher.
"Und? Ich bin ja auch kein Pferd!" Es machte eine elegante Drehung.
"Sehe ich vielleicht wie ein Pferd aus? Und du? Bist du etwa ein Stern? Du meinst wohl, du könntest die ganze Meeresordnung auf den Kopf stellen, wie?" Kühl nickte das Seepferdchen Stella zu, hakte sich von seiner Alge ab und schwamm dann schillernd davon.
Stella hatte einen richtigen Schreck bekommen. Warum war das sonst so sanfte Seepferdchen nur derart unfreundlich? Hatte er irgendetwas Falsches gesagt?
Sofort schwamm er zu Alfredo, um ihm alles zu erzählen.
"Das Seepferdchen hat gesagt, es sei kein Pferd und ich kein Stern. Was meinte es denn damit? Und mit der Meerordnung? Außerdem bin ich doch ein Stern!" Stella war ganz durcheinander.
Alfredo legte die Stirn in Falten und überlegte.
"Ach, das eitle Meerpferdchen ist nur neidisch, dass es selbst nicht so eine schlaue Idee hatte! Das ärgert die Großen immer, wenn die Kleinen gescheiter sind als sie selbst! Lass dich nur nicht einschüchtern! Es würde sich ja nie etwas ändern ohne Leute wie dich, die neue Ideen haben! Meeresordnung hin oder her!", sagte er dann, nahm Stella auf den Schoß und tätschelte ihn wie nur ein alter Seestern das kann.
Stella dachte noch lange über dieses Gespräch nach - vor allem über eine Kleinigkeit, die das Seepferdchen gesagt hatte...
Zufällig schwamm gerade Hugo Bonito an Stella vorbei, als der gerade auf einem Felsen im seichten Wasser kauerte und sich den Kopf zerbrach.
"Hallo Junge! Na wieder neue Ideen?", rief der betagte Tunfisch schon von weitem und als er näher war, blubberte er fröhlich: "Schönes Wetter, nicht?
Morgen wird es super schön warm und keine Wolke wird am Himmel sein! Darauf kannst du wetten, Junge! Ich kenn' mich aus mit dem Wetter! Was meinst du, wie viel' Jahre ich schon den Himmel beobachte! Ich berechne meine Reiseruten nämlich nach dem Stand der Sterne!", sagte Hugo stolz.
Stellas Neugier war geweckt. Vielleicht konnte Hugo ihm ja nützlich sein.
"Dann weißt du sicher alles über die Sterne, stimmt's? Ich bin doch auch ein Stern! Wir haben bestimmt allerhand gemeinsam, oder vielleicht nicht?", rief Stella aufgeregt.
Hugo bewegte die Augen schnell hin und her, als wenn er sich eine Antwort einfallen lassen müsse. Dann blähte er sich ein wenig auf und begann:
"Allerdings, und ob! Das ist so mit den Sternen...also... Wenn es windig ist und regnet, entstehen Wellen. Und die wirbeln die Algen hoch und machen viele Blasen. Deshalb sieht man die Seesterne nicht leuchten, wenn schlechtes Wetter ist - das weißt du ja sicher. Die Himmelssterne sieht man nicht, wenn Wolken am Himmel sind. Also vor allem bei dunklen schweren Regenwolken. Du siehst also: Ihr seid von der gleichen Familie! Ihr zeigt das Wetter an! Keine Sterne - schlechtes Wetter!" "Und was fressen
die Himmelssterne so?", fragte Stella weiter.
"Na ja, was sie so finden im Himmel... wahrscheinlich Wolkenstückchen oder auch kleine Fliegen…" "Danke, lieber Herr Bonito, du hast mir wirklich sehr geholfen!" Stella sprang von seinem Felsen ab, ließ sich in den Sand plumpsen und schwamm dann eilig davon.
"Keine Ursache! Dazu sind wir Alten ja da, um den Kindern alles zu erklären!", gluckste Hugo zufrieden.
Früh in der Morgendämmerung, als das Wasser vom Sonnenaufgang noch rosa war, schwamm Stella sofort zu Alfredo. Er hatte einen Plan, aber zuerst musste er noch einige Fragen stellen.
Nachdem Stella eine Weile gewartet hatte, kroch sein Großvater aus seinem Schlafwinkel hervor.
"Schon so früh auf den Beinen?", wunderte er sich und ließ sich in seinen Algensessel fallen.
"Ich konnte nicht mehr schlafen, weil es so heiß ist. Sag mal, können wir Meersterne auch an Land leben? Oben auf den Felsen ist es nachts schön kühl, dass hat mir eine kleine Krabbe erzählt...", sagte Stella möglichst leichthin, aber Alfredo wurde sofort misstrauisch.
"Bei der heiligen Oktopusnoppe! Du weißt, dass ich deine Ideen ganz Klasse finde, aber was Unsinn ist, kann Sinn nie werden! Wir sterben ohne Wasser, das weißt du doch! Außerdem sind wir an Land unbeweglicher als eine fette Schildkröte in der Pfeffersuppe! Einmal, als eine große Flutwelle mich an den Strand von-" "Nein Opi! Die Geschichte kenn' ich doch schon! Aber du hast mir mal erzählt, dass dich vor langer Zeit die Fischer im Netz gefangen haben! Du hast selbst gesagt, dass du auf dem Fischerboot
gaaanz lange in der Sonne gelegen hast! Und dann hat dich ein kleines Mädchen wieder ins Wasser geworfen. Also warst du an der Luft und dir ist gar nichts passiert!" "Erinnere mich bloß nicht an diese schreckliche Geschichte! Ein Glück, dass mich deine Großmutter gefunden und gesund gepflegt hat! Oioioioi, was hatte ich für einen Sonnenbrand! Ich hatte Glück, das ist alles. Unser Platz ist im Wasser, nicht an Land. Das verstehst du doch?" "Klar versteh' ich das...", sagte Stella und rollte
die Augen nachdenklich gen Himmel.
Stella war in den darauf folgenden Tagen in geheime Vorbereitungen vertieft.
Er sammelte herumschwimmende Algenreste und bastelte sich daraus eine Art Tasche. Dazu musste er die Algen zusammenknoten und miteinander verflechten, und da er keinen Daumen hatte, war das außerordentlich schwierig.
Als er endlich fertig war, lieh er sich von seiner Mutter leere Schneckenhäuser, füllte sie mit Wasser und stopfte sie mit Tang zu. Dann versteckte er alles gut in einer geheimen Felshöhe. Jetzt brauchte er etwas Geduld.
Nach einigen Wochen kam endlich der Tag, auf den Stella so sehr gewartet
hatte: das Fest der Sternschnuppen.
Zum Mittagessen war die ganze Familie am großen Felsentisch versammelt.
Obwohl es Miesmuscheln, Meerigel, Planktonklöße und Algensalat gab, brachte Stella vor Aufregung kaum etwas von den Leckerbissen herunter. Nachdem Stellas Mutter einen köstlichen Algenpudding auf den Tisch gestellt hatte, sagte sie:
"Heute ist San Lorenzo, die Nacht der fallenden Sterne. Ihr dürft alle länger aufbleiben, um die Sternschnuppen anzuschauen!" Stellas Geschwister jubelten, aber der kleine Seestern versank in Gedanken.
Er dachte daran, wie er im Jahr zuvor alleine in den Himmel gestarrt und bei jeder Sternschnuppe fest gedacht hatte:
"Ich will, dass etwas Aufregendes passiert. Ich will etwas Besonderes sein, nicht einer von Hunderten!", als er plötzlich über sich einen riesigen Schatten gesehen hatte.
"Wer… wer bist du denn?", stotterte Stella ängstlich und verrenkte sich den Kopf, um das große Tier zu betrachten.
"Ich heiße Filomea", erwiderte der mächtige Fisch über ihm. Seine Stimme klang laut wie ein Donnergrollen, aber eigentlich recht freundlich.
"Wie groß du bist! Ich habe noch nie so einen großen Fisch gesehen! Bist du etwa ein Wal?" "Nein, ein Wal bin ich nicht. Ich gehöre schon zu der gleichen Familie, aber Wale sind noch viel viel größer als ich! Die sind so riesig, dass du sie gar nicht sehen könntest. Du würdest denken, die Sonne habe sich verdunkelt! Ich bin übrigens auch kein Fisch, sondern ein Delfin." "Aber ihr Delfine lebt doch gar nicht hier in der Nähe der Küste", sagte Stella, der durch Alfredo schon viel von
Delfinen gehört hatte.
Filomea blinzelte erstaunt.
"Du kennst dich aber gut aus, Kleiner! Stimmt! Ich wohne mit meiner Familie im tiefen Meer vor Korsika und bin extra hierher gekommen, um die Sternschnuppen zu sehen - ganz alleine! Man sieht sie nämlich von nirgendwo anders so gut wie von hier! Wer hat dir denn von diesem Platz erzählt?" "Eigentlich ist es Zufall, dass ich hier bin. Ich wollte nur ein wenig alleine sein", sagte Stella bescheiden.
"Damit solltest du es aber nicht übertreiben, sonst hast du irgendwann gar keinen mehr zum Spielen und dann langweilst du dich zu Tode!" Filomea kicherte und stupste Stella sanft in den Bauch.
"So, jetzt muss ich aber nach oben, mach's gut, vielleicht sieht man sich mal!" Stella war enttäuscht. "Musst du wirklich schon gehen?" "Klar, ich muss atmen! Ich bin doch ein Säugetier und brauche Luft!" Filomea lächelte schlau.
"Was bist du? Ein Saugtier? Was ist denn das?", fragte Stella neugierig.
"Ich bin kein Fisch. Ich atme richtige Luft ein, wie ein Landtier. Ich kann zwar lange unter Wasser bleiben, aber wenn ich nicht hochgehe, um zu atmen, ersticke ich", sagte Filomea und fügte hinzu: "Du kannst ja mitkommen!" Sie hielt ihre Schnauze dicht an Stella heran und sagte: "Komm, steig auf!" Zögernd krabbelte Stella auf ihre lange Schnauze und dann weiter auf ihren Kopf. Ihm war zwar etwas mulmig zu Mute, aber Alfredo hatte gesagt, dass Delfine "nette Kerle" seien,
und Filomea sah nicht aus, als wolle sie ihm etwas tun.
Kurz darauf schoss der Delfin schon wie ein Blitz los und rief vergnügt:
"Halt dich gut fest und hab' keine Angst! Wenn du fällst, fang' ich dich auf, ich kann das!" Links und rechts von ihnen stoben Blasen auf, und Filomea ließ ihr helles Delfinlachen hören.
An der Oberfläche angekommen, steckte sie den Kopf aus dem Meer. Stella spürte, wie das Wasser an seinem hornigen Rücken herablief, und dann fühlte er den Nachtwind auf der Haut. Über ihm und um ihn herum waren Sterne soweit das Auge reichte, und Stella sah gleich mehrere Sternschnuppen auf einmal.
Versonnen saß Stella am Felsentisch in der Esshöhle und starrte ins Wasser vor seiner Nase. Von dem, was die andere sagten, hatte er natürlich nichts gehört.
"Und du, Stella? Stella! Stella!!", rief seine Mutter.
Stella fuhr aus seinen Gedanken auf. Alle starrten ihn an und es war ganz still.
"Der träumt schon wieder von seinen Märchengeschichten!", lachte sein großer Bruder Alessio.
Stella streckte ihm die Zunge heraus und Alessandra legte Stella verteidigend ihre Hand auf die Schulter.
"Besser als den ganzen Tag zu faulenzen oder Fußtangball zu spielen!", zischte sie.
"Hört auf zu streiten! Alle drei! Also, willst du den Abend mit uns verbringen oder hast du vor, dich abzusondern wie immer?", wollte Armando von Stella wissen.
"Papi, du weißt doch, dass ich die Sterne alleine angucke! Wenn wir alle zusammen sind, sieht man bei dem Durcheinander gar nichts", sagte Stella.
"Schon recht", brummte Armando und übersah den vorwurfsvollen Blick seiner Frau.
Stella hatte seinem ältesten Bruder Antonio von Filomea erzählt, aber der hatte ihn nur ausgelacht und ihm natürlich nicht geglaubt. Immer lachten alle über ihn! Aber diesmal war sich Stella sicher, zu beweisen, dass er etwas Besonderes war…und dass er auch ohne seine Familie zurecht kam!
Am frühen Abend krabbelte das verwegene Seesternchen wie immer alleine und mit seiner schweren Algentasche auf dem Rücken zu dem geheimen Sternschnuppenplatz. Langsam kraxelte er an den Felsen hoch, immer weiter, bis das Meer tief unter ihm lag. Es schien ihm, als dauerte es eine Ewigkeit, und obwohl er sich mit dem Wasser aus seinen Schneckenhäusern feucht hielt, fühlte er sich bald elend und erschöpft.
Als er endlich hoch genug war, leerte er das Wasser aus den Muscheln in eine Felsmulde, setzte sich hinein und begann, nach den Sternen zu rufen.
"Hallo, ihr lieben Sterne! Ich muss mit euch reden! Hallo, hört ihr mich?
Haaaaloooo!"
Alles war still. Stella hörte nur das Meer, das tief unter ihm an die Felsen klatschte und sich dann rasselnd und murmelnd zurückzog.
"Wahrscheinlich muss ich lauter rufen", dachte Stella und schrie aus vollem Halse. "Haaaaaaaalllloooooooo!!!!!!" Dann versuchte er auf jede erdenkliche Art, die Sterne zum Antworten zu bewegen. Er rief und rief, bettelte und flehte - aber die Sterne schwiegen.
Der einzige, der Stella hörte, war der alte Einsiedlerkrebs Karl, der über ihm auf einer Klippe hockte. Er hatte sein schweres Haus unten an den Felsen abgestellt und war dann auf den höchsten Felsvorsprung der ganzen Bucht geklettert, um sich in Ruhe die Sternschnuppen anzusehen.
Als plötzlich unter ihm Stellas Geschrei anfing, ärgerte sich Karl ganz gewaltig über den Lärm. Nach einer Weile begann er jedoch, Mitleid zu haben.
Vorsichtig schob er sich an den Felsrand vor und sah Stella unten in seiner Felswanne.
"Ich bin doch auch ein Stern! Ich bin so weit gewandert und ihr antwortet mir nicht einmal!" Stellas Stimme zitterte und brach ab. Dann hörte Karl ein herzzerreißendes Schluchzen. Als der kleine Seestern sich überhaupt nicht mehr beruhigte, beschloss der Krebs einzugreifen.
Er trat zurück, sodass Stella ihn nicht sehen konnte und sagte mit lauter Stimme ins Dunkel der Nacht:
"Wir müssen die halbe Erde beleuchten und brauchen dafür all unsere Kraft, aber sag uns nur, was du möchtest." Nun machte Stella einen Luftsprung und rief:
"Oh, danke, ihr lieben Sterne! Ich wusste, ihr würdet mir antworten! Ich habe ein wichtiges Anliegen: Heute springen doch so viele von euch ins Meer, und da dachte ich, es wird vielleicht ein Plätzchen für mich im Himmel frei!
Ich bin auch ein Stern und würde gerne bei euch wohnen!" Karl knirschte unruhig mit den Scheren. Was sollte er nur antworten? Wie war der kleine Seestern überhaupt auf solch eine merkwürdige Idee gekommen?
"Warum möchtest du denn im Himmel wohnen? Du hast doch sicher eine Familie und Freunde im Meer! Die wären bestimmt traurig, wenn du nicht nach Hause kämest, meinst du nicht?", sagte der Krebs nach einer Weile.
"Schon… aber die veralbern mich immer alle, wegen meiner Ideen und so.
Außerdem will ich etwas Besonderes tun in meinem Leben, etwas Nützliches!" Karl überlegte angestrengt und drehte sich dabei langsam um sich selbst.
Irgendwie musste er den Seestern davon überzeugen, dass es im Meer schöner war als im Himmel.
"Wer sagt denn, dass du in den Himmel musst, um etwas Besonderes zu tun?
Wenn es dir im Meer nicht gefällt, liegt das vielleicht gar nicht am Meer, sondern an dir selbst", sagte Karl.
"Aber im Himmel ist es doch viel, viel schöner als im Meer!", antwortete Stella.
"Das denkst du! Das Sternenleben ist sehr hart, wahrscheinlich springen deshalb so viele von uns ins Meer! Wir müssen unbeweglich und einsam am Himmel stehen und dürfen nie spielen! Um uns zu unterhalten, müssen wir so laut schreien, dass wir davon ganz heiser werden!" Karl staunte über sich selbst. Wie schnell er sich alles so ausdachte, nur um den kleinen Seestern zufrieden nach Hause schicken zu können... Doch Stella ließ nicht locker.
"Aber trotzdem tut ihr wichtige Sachen und ich nicht! Ihr habt richtige Aufgaben, ihr weist den Schiffen den Weg und macht Licht in der Dunkelheit, damit die Tiere nicht stolpern!", rief Stella.
"Kein Wesen ist wichtiger als ein anderes, weil jedes einzigartig ist. Du hast auch wichtige Aufgaben! Wenn du jemanden zum Lachen bringst, oder ihm hilfst, ist das mindestens so wichtig, wie nachts zu leuchten. Probier' es mal aus! Du wirst sehen, dass du mit niemandem mehr tauschen magst." Karl trat zurück, lehnte, sich an den Felsen und tupfte sich mit ein paar Algen den Schweiß von der Stirn. Wer hätte gedacht, dass er jemals so kluge Worte finden würde!
"Meinst du wirklich? Dann kann ich ja im Meer bleiben!" "Ja, das kannst du. Nun geh Heim und erzähle niemandem, dass ich mit dir gesprochen habe, sonst bringst du mich in Schwierigkeiten, denn wir Sterne dürfen nicht mit Tieren oder Menschen reden." "Du hast mein Ehrenwort!", rief Stella, stopfte die Schneckenhäuser wieder in seine Tasche und machte sich auf.
"Vielen Dank, lieber Stern! Leb' wohl, ich werde dich nie vergessen!" "Leb' du auch wohl, Addio! Ich werde immer ein Auge auf dich haben und für dich leuchten! Und denk' immer dran: Du bist etwas ganz Besonderes!", rief Karl und setzte sich erschöpft auf einen Stein.
Stella krabbelte zum Rand der Klippe und warf die Algentasche herab ins Meer. In der Tiefe hörte er ein leises Klatschen. Dann nahm er allen Mut zusammen, stieß sich von der Felswand ab und schrie: "Auf die fallenden Meersterne!" Und im nächsten Moment wirbelte er schon durch die Luft. Er fiel mit einem riesigen Spritzer ins Wasser und segelte dann langsam dem Meeresboden entgegen. Gerade rieb er sich seinen Po, den er sich an einer Muschel gestoßen hatte, als er einen pfeifenden, wiehernden Laut über
sich hörte:
Filomea.
Der Delfin trug Stellas Algentasche über der Schnauze.
"Da bist du ja endlich! Ich warte schon ewig auf dich! Hattest du etwa unsere Verabredung vergessen? Dein Sprung sah ja Klasse aus! Wie mutig!
Hattest du keine Angst?", sagte sie in ihrer schnellen aufgeregten Art und drehte sich dabei in einem Reigen von Silberblasen um die eigene Achse.
"Manchmal kriegt man, glaub' ich, erst Angst, wenn man zu viel nachdenkt", sagte Stella und grinste.
"Da hab' ich Glück! Ich bin so mit Spielen beschäftigt, dass ich höchstens die drei Minuten vor dem Einschlafen mal nachdenke!", rief Filomea und gackerte ausgelassen.
"Komm, steig' auf, du darfst auf mir nach Hause reiten!", sagte sie dann.
Stella wurde wieder ernst und rümpfte die Nase.
"Och nee, lieber nicht. Mein Bruder sagt dann sicher, ich sei ein Angeber oder so. Ich will denen keinen Anlass geben, auf mir rumzuhacken!", sagte Stella niedergeschlagen.
Filomea kniff leicht die Augen zusammen.
"Jetzt sag' ich dir mal was: Zum drauf Rumhacken gehören immer zwei: einer der hackt, und einer, der sich hacken lässt! Du musst dir nicht immer alles gefallen lassen! Los komm, steig' auf - das wird ein Mordsspaß!" Und so ritt Stella auf dem Delfin nach Hause.
Für den Weg, der ihm vorher so ewig lang erschienen war, brauchte er jetzt nur einen Augenblick, und als Filomea vor der Felsterrasse eine Vollbremsung machte, quietschte Stella begeistert auf.
Die Erste, die ihn samt Algentasche auf dem Delfin heranreiten sah, war die kleine Alessandra. Alle außer Alfredo, der sehr früh zu Bett ging, hatten sich auf der Terrasse versammelt, um vor dem Schlafengehen noch einen Mikroplanktontee zu trinken.
Filomea stellte sich höflich vor und begann dann, ihre Kunststücke vorzuführen.
Sie warf Stella hoch und fing ihn wieder auf, worauf die ganze Familie begeistert applaudierte.
"Bravo!", rief Armando und sagte stolz zu Anastasia:
"Er kommt ganz nach mir!"
Während Alessandra einen kurzen Delfinritt wagte, trat Antonio neben Stella und sagte:
"Tut mir leid, dass ich dich ausgelacht habe, aber wie hätte ich denn für möglich halten sollen, dass du wirklich einen Delfin als Freund hast! Bist du noch sauer?" "Ach Quatsch! Du bist doch mein Bruder!", antwortete Stella versöhnlich und fragte dann: "Willst du 'ne Runde auf Filo reiten? Das macht super Spaß!" Antonio wehrte ab. "Nein, nein, das ist mir zu gefährlich", sagte er kleinlaut.
Der alte Alfredo behauptete am nächsten Tag jedenfalls, dass Delfinreiten überhaupt nicht gefährlich sei. Vorausgesetzt natürlich, es handle sich um einen befreundeten Delfin.
Vor dem Schlafengehen gab Stella seiner Mutter die Algentasche.
"Hier, Mami, das ist für dich und Papi. Hab ich selbst gebastelt!" "Oh Schatz, das ist aber lieb von dir! So was kannst du alleine basteln? Da werden die anderen Seesternmütter aber staunen! Ich bin so stolz auf dich!
Und wie toll das aussah, als du vorhin auf dem Delfin angeritten kamst! So was hab' ich ja im Leben noch nicht gesehen! Das muss dir erst mal einer nachmachen!" Als Stella schon unter der Algendecke auf seinem Schlafschwamm lag, sagte
er:
"Machen wir morgen Algenmarmelade für den Opa?" "Seit wann willst du mir denn beim Kochen helfen?", fragte seine Mutter erstaunt.
"Ich will von jetzt an allen, die ich lieb hab', mehr helfen. Eigentlich kann man doch gar nichts Besseres mit seiner Zeit anfangen, oder?" Anastasia strich Stella über die Wange und gab ihm einen langen Gutenachtkuss.
"Das hast du schön gesagt, mein Schatz, und jetzt ruh' dich aus, das war ein anstrengender Tag. Träum' schön und schlaf mit den Engeln." Aber Stella war schon mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen eingeschlafen.
Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.