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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der alte Mann

© Jonathan Dilas


Für einen Moment durchzuckt mich ein feuriger Strahl und scheint mein Hirn zerfetzen zu wollen, schießt durch jedes Neuron, lässt sie vibrieren und erbarmungslos aufglühen, nur um sie gleich wieder verlöschen und sie in Dunkelheit zurückzulassen, rüttelt an meinem Selbst, als sei ich ein einsamer, zarter Baum, verlassen auf einem kargen Fels stehend, schutzlos im Sturme eines tobenden Unwetters mit gewaltiger Meeresgischt, zuckenden Blitzen, wildem Gedonner, Höllenlärm und verdrehten Windgeistern, die mir meine Äste zu nehmen gedenken, entzünden nun nach und nach jede einzelne Zelle meines befristeten und kaum registrierten Daseins inmitten einer Welt voller Narren und Clowns mit roten Pappnasen und als Versteck enttarnten, weiß geschminktem Gesichtern mit verschmiertem Kajal sowie schief hängenden falschen Wimpern, und ist dieser feurige Strahl eben in einer unbekannten Unendlichkeit entwichen, so jagt mit unaufhaltsamer Rücksichtslosigkeit eine Angst ohnegleichen herbei, die sich in ihrer Intensität aller Beschreibungen und Worte entzieht, rüttelt und schüttelt mich wie einen Apfelbaum, dem es seiner Früchte zu entlocken gilt, und zwingt mich im gleichen Augenblick, mein Selbst zu betrachten.
Zeit… Sie bannt dich, wenn du sie erst verstanden hast, ermüdet deine Sinne und gaukelt dir Verläufe und Geschehnisse in einer bestimmten Reihenfolge vor, die jenseits aller Realitäten und wahren Welten stehen, zermartert dein Hirn, weil du konditioniert und gedrillt worden bist, ihr Untertan zu sein und fortan ihren Theorien zu lauschen, um dir endlich erklären zu können, was außerhalb deiner selbst in der sich in deinen Augen spiegelnden Welt immer wieder Neues zu formen gedenkt. So tanzt sie auf deinem Haupt, betrübt deine einst so scharfen Sinne und klaren Augen, bis du aufgezehrt und zitternd in deiner Nische stehst und närrisch lächelst, wenn der Tod vor dir steht und dir mit einer Handbewegung demonstriert, auf welch endlose und zeitlich geordneten Verknüpfungsillusionen du hereingefallen bist als ein Untertan des Gottes Horus, dem Erschaffer der Zeit, dem vergessenen Träumer, der sein Traumauge verlor und in einer einzigen, eingefrorenen und stillen in Zeitlupe resultierten Welt schiffbrüchig wurde…
"Nun sind Sie schon seit über zwanzig Jahren Autor und das in meinem Verlag. Wie viele Jahre haben Sie noch? Schreiben Sie doch endlich ihre Memoiren! Ihre Leser warten darauf. Denken Sie doch an all die Briefe, in denen genau danach gefragt wurde."
"Was soll ich denn schreiben? Ich erinnere mich an kein Leben, keine Vergangenheit."
"Das glaube ich Ihnen nicht! Sie sind im hohen Alter, aber ein rüstiger Mann mit viel Esprit. Setzen Sie sich hin und schreiben Sie ihr letztes Werk, über Ihr ganzes Leben. Was Sie getan und gelassen haben. Wen Sie trafen und von wem Sie sich verabschiedeten. Und über die Menschen, die sie liebten und die Sie hassten."
"Ich und gehasst?"
"Ja, genau! Lassen Sie alles aus sich herausströmen! Schreiben Sie so wie das Blut in ihren Adern fließt und Sie immer wieder dem Leben neu gegenüberstellt, Morgen für Morgen, das Sie in Ihrem herrlichen Haus und in Ihrem großzügigen Heim erwachen lässt. Schreiben Sie über Ihr Leben aus Ihrer Sicht, mit Ihren Augen und Ihren Gedanken und Gefühlen. Die Leser wollen wissen, woher Sie gekommen sind…"
Mit diesen Worten lässt mich dieser Mann allein und das mit einer Aufgabe, die sich meinem Können bei weitem entzieht, denn ich weiß wirklich nichts zu schreiben. Meine Erinnerungen an eine Vergangenheit mit solchen Informationen sind mir definitiv nicht zugänglich.
Wie zittern nur meine Hände! Wie faltig sie sind! Es gibt keinen Moment, in denen nicht der Tod mich hier an diesem Ort umschleicht und meinen Blick sucht… Es gibt tatsächlich nichts, worüber ich hätte schreiben können, denn ich bin in Wirklichkeit kein alter Mann. Ich befinde mich nämlich gerade einmal fünf, vielleicht zehn Minuten in diesem Körper! Wie kann ich da über ein Leben schreiben, das ich nicht mal gelebt habe? Denn ich bin ein Träumer, der genau weiß, wie man durch die Realitäten switcht und immer wieder die Gestalt und den Körper von Menschen in allen Altersstufen annimmt sowie die Rolle des normalen alltagsorientierten und alltagsbesorgten Realitätsgesellen mimt. Was denken sie denn alle, welches Werk ich denn verfassen solle in Anbetracht meiner unabhängigen Weltenkarriere, in der ich von Selbst zu Selbst hüpfe und sein kann, wer immer ich will und wonach mir auch immer ist? Wohin schweift deren Denken und ihre Phantasie, wenn sie mich mit einem wissendem Lächeln auf ihren Lippen betrachten und meinen, sie hätten mich durchschaut, in einem Leben, das mir nie widerfuhr? Welche Rolle und Szene ihres ärmlichen Rollenrepertoires mögen sie mir in diesem Moment wohl zugedacht haben, wenn sie mich mit ihren suchenden und blinden Augen anschauen und mitleidig lächeln, Mitleid empfinden für einen Mann, der sich mit seinem Geld vor dem Altersheim zu drücken vermag und sich trotz des drohenden Todes an sein kleines, altes Selbst klammert, wenn sich auch direkt vor seiner Nase ein Tor in eine unendliche Dimension mit unendlichen Verzweigungen aufgetan hat und nach ihm immer wieder wispernd und unaufhörlich gerufen wird. Ein Mann, der sich erst im Moment des Ablebens an sein Erbe erinnern mag, aber weitgehend doch in aller Verzweiflung zurückblicken will, um den Tod weiterhin in die Zukunft zu schieben, der einst und schon seit Äonen seine Gegenwart war?
Doch was hat dieses Leben nun mit mir, dem Weltenwanderer, zu tun? Denn ich bin erst seit fünf Minuten in diesem gebrechlichen Körper und regeneriere ihn in Windeseile, und wenn ich mir noch weitere fünf Minuten lasse, so würde das Alter dieses Körpers bei weitem das seines Gesprächpartners unterbieten und ihn kurzerhand in neuem, jugendlichem Leichtsinn hämisch angrinsen. Vielleicht wäre dies eine Lehre für einen Unwissenden, der sich in seinem erlangten Wissen sonnen möchte, aber nicht erkennt, dass auch er den vielen Verknüpfungsillusionen ferner Erfahrungszeitpakete unterliegt, welcher nicht einen Moment erlernt hat in Stille innezuhalten und zu erkennen, dass der Ort an und das Selbst, in dem er sich gerade betrachtet, nur eine Reflektion seiner unwirschen Gefühle sein mag, die sich heimlich und versteckt am Horizont zu zeigen wünscht. Wohin führt ihn diese Lebensart, wenn nicht in den Untergang, so frage ich mich, der dem Tode millionenfach entrann und durch endlose Rollen und Szenerien springt, nur um in diesem Moment von einem unwichtigen, von irgendeinem eilenden Traumwesen leichterhand konstruierten Wesen, das sich nur auf diese Art als verschnupftes Hologramm in eine Szenerie einbetten konnte, in das es fortan auf Unendlichkeit gefangen ist, erschaffen wurde?
Tapfer! Wie tapfer muss man sein, um sich aus Atomen und Molekülen zusammensetzen zu wollen, damit man sich nicht mehr wie ein verlorener Schuh vorkommt, dem es an Sicherheit mangelt und sich so manifestiert, als sei seine Psyche in diesen zu zwängen, mit einem Bewusstsein, das sich selbst in der Vielfalt des Auges einer Libelle nicht einmal annähernd ausdrücken kann, trudelt er doch so lange am psychischen Firmament, bis er zu Boden fällt und zu einem leeren Hologramm wird, das nicht einen Moment zu erkennen vermag, dass sich jenseits seiner kunstvollen Fassade eine Weitere verbirgt, dessen Bewohner heimlich und unsichtbar,, an sein Hirn angeschlossen, zuschaut und sie nicht zu deuten gedenkt.
Nun denn, so werde ich, auf dass man mir verzeihe, diesen Körper verlassen, nicht als Heiler oder Helfer, sondern als stiller Betrachter, der nur kurz in diese Welt eingebrochen war, die vielleicht vor Jahrmillionen von einem Schöpfer erschaffen und schlaftrunken zurückgelassen wurde, auf dass sie für ewig wie eine treibende Insel in der Unendlichkeit dahintreibe und in sich selbst ein autonomes, gigantisches und nimmer endendes Rollenspiel darstelle, dem ich Herr geworden.



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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