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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Internationale Solidarität

© Natalie Berghahn


"Levantate y mirate las manos, para crecer estrechalas a tu hermano, juntos iremos... ahora y en la hora de nuestra muerte." "Erhebe dich und schau' auf deine Hände, reiche sie deinem Bruder, um zu wachsen. Zusammen werden wir gehen... jetzt und in der Stunde unseres Todes." Victor Jara, 1938 - 1973
"Levantate y mirate las manos..." Johanna wusste, wie falsch sie sang, dass ihre Stimmen niemals den warmen, tröstenden Klang haben würde, mit dem Victor Jara, aus einem kleinen Kassettenrecorder heraus, die Küche füllen konnte. Egal. Im hautengen, ärmellosen Hemd frittierte sie Kochbananenscheiben. Der Berg köstlicher Bananenchips, "tajadas", wuchs. Schweiß rann ihr an Rücken und Brüsten hinab. Sie fühlte sich kolumbiengut.
Deutschlandkleinlich wäre es gewesen, daran zu denken, dass sie sich an der Stimme eines Chilenen wärmte, eines sanften, zurückhaltenden Mannes, der von den Schergen Pinochets bestialisch ermordet worden war.
Und die Posterikone über dem Küchentisch zeigte einen Argentinier, der im Kuba zum Helden der Revolution geworden war. Ermordet wurde er später in Bolivien.
In Johannas tropisch überheizter Küche gehörten sie heute alle zusammen: Victor Jara, Che Guevara, Jorge, sogar Nuria. Glitzernde Botschafter aus einer mutigeren Welt. Lebendige Souvenirs von Jorges widerständigem, gefährlichen, lockenden Kolumbienleben, in das sie so dringend einzutauchen wünschte. Sie und ihre compañeros, für die sie singend frittierte. Sie alle sehnten sich nach dem lebendigen Leben, nach echtem Widerstand, so kostbar, dass er mit dem Tod nicht zu teuer bezahlt war.
Die Einladung von zwei kolumbianischen Gewerkschaftern hatte sie alle der Erlösung näher bringen sollen, der Erlösung vom deutschen Instantleben. Johanna grinste in ihre ölbrodelnde Pfanne. Die Hitze entlockte ihrem Hirn ja seltsame Offenbarungen.
Selbstverständlich war es der Gruppe um die internationale Solidarität gegangen. Die deutsche Bevölkerung sollte für die Verbrechen der Coca-Cola-Company sensibilisiert werden. Der Getränkekonzern ließ in Kolumbien Gewerkschafter einschüchtern, foltern, ermorden. Die kolumbianische Justiz sah zu. Es war himmelschreiend und fast allen Deutschen egal.
Jorge und Nuria waren Gewerkschafter, denen es nicht um einen halben Prozentpunkt Tariflohn mehr ging. Sie kämpften, damit ihre compañeros und deren Kinder nicht hungerten. Sie kämpften um die Freiheit und um das Leben selbst.
Ihr eigenes Jorge- und Nurialeben war dabei zu einer flüchtigen, stets bedrohten Substanz geworden: Haßparolen wurden in ihr Telefon gezischt, Fremde zeigten ihnen mitten auf der Straße obszöne Gesten. Jorge war ohne erkennbaren Grund festgenommen worden und nach drei Tagen Mißhandlung mit genauso wenig Begründung wieder frei gelassen worden.
Jorgeleben. Nurialeben.
Nuria: hell, streng und klar. Albern hatte Johanna sich neben ihr gefühlt. Eine angebliche Aktivistin, die Widerstand spielte, im schaumstoffgepolsterten Deutschland.
Jorge, der Dunkle, hatte Johannas Gefühl, deutschlandunzulänglich zu sein, getilgt. Nach der Schwere der Infoveranstaltung hatte er ihr in der Disco Leichtigkeit geschenkt. Was sie vor Minuten hatte weinen lassen, wurde Tanz. Alles Erlittene machte Jorge begehrenswerter. Mit einer einzigen Berührung schaffte er, dass Johanna sich selbst kolumbienbegehrenswert fühlte. Revolutionsschön.
Selbst Nurias Strenge war in der Disco zurückgewichen, sie wiegte sich mit dem unbeholfenen Gerald im Tanz, der sein Kolumbienglück genauso wenig fassen konnte wie Johanna.
Bis in die Schamlippen durchströmte Johanna Erinnerung, und trotz der Tränen, die sie bei Jorges Abreise nicht hatte schlucken können, wusste sie, dass er für immer zu ihrem Leben gehört. Seine Sache war ihre geworden.
Heute Abend wollten sie bei "tajadas" beraten, wie mehr als die sechs Gäste ihrer Jorge- und Nuriaveranstaltung, in der Stadt für einen Coca-Cola-Boykott gewonnen werden könnten. Viel Schreibkram wahrscheinlich und alles in allem wenig revolutionär. Trotzdem fügten sie der alten Parole, "die internationale Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker", ein neues Kapitel hinzu. Hinterließen wenigstens eine tröstliche Geschichte, auf einem Planeten voller Unrecht und Leid.
Jorgeselig fiel Johanna noch einmal in Victor Jaras Worte ein: "Juntos iremos, unidos en la sangre, ahora y en la hora de nuestra muerte." " Zusammen werden wir gehen, vereint im Blut, jetzt und in der Stunde unseres Todes."
Allen compañeros waren Johannas "tajadas" im Munde gequollen. Deutschlandkalt und pappig waren ihre sorgfältig frittierten Chips, als Johanna sie Stunden nach Mitternacht durch den Februarschneeregen wieder nach Hause trug. Durch ihr Hirn rollten Geralds stockende, heiser hervorgepreßten Worte.
Jorge war victorjaratot. Cheguevaratot.
Von einem fahrenden Motorrad aus erschossen. Liegengeblieben in der mittäglichen Tropensonne zwischen den luftballonbunten Häusern der Karibikküste. Kolumbientot.
Als sie endlich in ihrem kalten Bett lag, schlug ein Geier seine Fänge in Johannas Herz. Ihr war, als habe sie einen Blick in die Hölle getan, und sie johannanaiv für den Himmel gehalten. Elend wand sie sich unter dem Geier in ihr und stellte sich Jorges zerstörten Leib vor.
"Du bist schuld", krächzte der ungebetene Vogel, "nur weil du so geil auf Kolumbien und Gefahren warst, musste Jorge sterben." Endlich rannen ihr die Tränen über das Gesicht und sie konnte den gemeinen Geier vertreiben: Jorge wäre ermordet worden, egal wie attraktiv sie ihn fand. Kolumbien war für Gewerkschafter die Hölle, egal wie himmlisch ihr dieses Land erschien. Es war so, egal was sie tat.
Kaum war sie den widerlichen Gedankenvogel los, klackerte schon neues solidaritätsschlechtes Gewissen in ihr Hirn. Grauen durchrollte ihren Körper, als sie an diese Männer dachte. Diese Männer. Höfliche Anzug- und Krawattenmänner, waren bei der Infoveranstaltung aufgetaucht. Sie hatten keine Ähnlichkeit gehabt, mit den üblichen Jeans- und Pulligästen des Kulturzentrums. Einem Ort, an dem keiner sich dem anderen förmlich vorstellte, wo keiner den anderen fragte, nach dem Woher und dem Wohin.
Nur Nuria hatte mit steiler Falte zwischen den Augenbrauen wissen wollen, wer denn diese Landleute von ihr gewesen seien. Ratloses Achselzucken war die Antwort der Deutschen gewesen.
Später hatte Jorge verdammt gute Witze gerissen, über spießige Spione und auffällig unauffällige Geheimdienstmitarbeiter. Nurias Sorgen schienen im allgemeinen Gelächter zerstrudelt zu sein, und Johanna war gegen ihren Willen stolz gewesen. Stolz, eine Veranstaltung organisiert zu haben, die zwei Geheimdienstagenten wichtig genug war, den ganzen Abend auf ungepolsterten Stühlen zu verbringen. Das gigantische Gefühl wirklich im Kolumbienwiderstand angelangt zu sein, wärmte minutenlang tropischgut.
Doch nun wurde den Kolumbiengruppen in den verschiedenen Städten klar, dass auf jeder Veranstaltung während Nurias und Jorges Deutschlandrundreise solche Gestalten im Raum gesessen hatten. Mal dieselben, mal welche, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sahen. Nie hatten sie mit einem der Veranstalter gesprochen, nie mit Jorge oder Nuria, keiner wusste wer sie waren. Trotzdem hatten alle Nuria beruhigt: "Wir sind hier in Deutschland, Nuria, nicht in Kolumbien." Die Männer konnten etwas mit Jorges Tod zu tun haben. Sie könnten. "Aber wie das rauskriegen...", hatte Gerald mit noch leiserer Stimme hilflos geseufzt. Plötzlich hörte die internationale Solidarität auf, zärtlich zu sein. Das Widerstandsspiel war aus. Zumindest für Jorge.
Kolumbienelend rollte sich Johanna unter ihrer kühlen Bettdecke zusammen, machte sich selbst vor, zu schlafen. Innerlich entrollte sie sich die nächsten Tage nicht mehr. Leid und Scham legten sich über die Woche, wie februargrauer Schneematsch über kolumbienferne Straßen. Kein deutscher compañero meldete sich bei Johanna. Sie rief niemanden an.
Bis sie eines Nachts von Jorge träumte. Es war Johannas erster Schlaftraum von ihm, und beim Aufwachen entschwanden ihr die Einzelheiten bis auf ein paar nicht scharf zu stellende Bilder. Nur ein Name blieb laut und hell stehen in ihrem Kopf. Nuria. Die Strenge. Der zweifelnde Blick, der Johann so klein gemacht hatte. Nuria, hatte die Gefahr gewittert. Nuria hatte Johanna das "tajada" -machen gelehrt. Nuria. Ihr war das Jorgeglück zuteil geworden. Sie musste der Jorgeschmerz mit einer Wucht getroffen haben, die Johanna, an ihrer Stelle, zermalmt zurückgelassen hätte.
Wieder wand Johanna sich in ihrer Scham. Was für eine schlechte compañera war sie doch. Erst jetzt dachte sie an Nuria. An die Frau, die Ströme von Eifersucht durch sie gejagt, und sie beim Abschied doch endlich "compañera" genannt hatte. Dabei konnte ihr das Leuchten, mit dem Johannas Augen sich in Jorges spiegelten, kaum entgangen sein.
Nuriaklar im Kopf rief Johanna Gerald an. Wenn jemand aus der Gruppe gehandelt hatte, dann er. Sie irrte sich nicht. Während Johanna und die anderen sich im Leidensschlamm suhlten, hatte er Kontakt zu Amnesty International aufgenommen und einem alternativen Radiosender ein Interview zu dem Fall gegeben.
"Gerald, wie geht es Nuria?"
"Schlecht, denke ich mal. Zur Trauer kommt die Angst, die nächste zu sein." "Kann man denn da gar nichts machen?" Gerald zögerte.
"Nuria sprach von einer Organisation, die Freiwillige aus Europa oder Nordamerika entsendet, um bedrohte Personen in aller Welt zu begleiten. Eine Erste-Welt-Staatsangehörigkeit scheint da ein ziemlich guter Schutz zu sein. In Kolumbien haben die ein Projekt, ich wollte die nächsten Tage mal Kontakt aufnehmen." Johanna wurde ein wenig übel, und sie spürte ihren Herzschlag im ganzen Körper, als sie möglichst beiläufig zu Gerald sagte: "Gib' mir mal die Nummer. Das kann ich doch auch erledigen." Lange hielt sie nach dem Auflegen den Zettel mit der Telefonnummer in der bebenden Hand. Sie würde diese Organisation, sie würde alle überzeugen, dass sie nicht johannaunzulänglich war. Sie wollte reisen, voller Angst und Zweifel. Widerstand spielen war vorbei. Jetzt und in Zukunft wollte sie mit Nuria sein, und ausgerechnet das ungeliebte Deutschsein sollte sie endlich kolumbienzulänglich machen.
Ehe sie anrief, lief sie noch schnell in den Park. Die Sonne schien, während einige glitzernde Schneeflocken zärtlich fielen.
In ihr wurde es johannahell.



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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