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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Nach zwei Zentimetern

© Monika Tietze


Ihre gemeinsamen Reisen waren immer schön gewesen. Das sagte er zumindest.
Sie hatte zum Teil ganz andere Erinnerungen an ihre Urlaube.
Da war dieses Auto, sein erster Kombi, der unterwegs ohne Vorwarnung immer wieder ausging, vor allem an Stellen, wo es keinen Seitenstreifen gab. Er mit hochrotem Gesicht im Rückspiegel, wie er sie in Birkenstocksandalen hangaufwärts schob. Oder der Campingurlaub, in den er ohne Schlafsack gestartet war, weil er angeblich in zwei Stunden packen konnte. Sein Gewimmer in der ersten Nacht, weil er erbärmlich fror. Gewimmer in einer weiteren Nacht wegen verbrannter Oberschenkel, weil Männer keine Sonnencreme brauchen.
Sie hatte darüber gelacht. Am Anfang wenigstens. Und sie hatte es aufgewogen mit Dingen wie seinem Handrücken an ihrem, als sie über einen Markt schlendern und sonnenwarme Tomaten und reifen Käse begutachten. Mit sternklaren Nächten im Süden, seinem Atem an ihrem Hals und seiner Wärme im Rücken. Mit Momenten völligen Einverständnisses, seelenverwandt. Momenten von solcher Intensität, dass sie hätten aufschreien wollen, wenn sie nicht nur von dünnen Zeltwänden umgeben gewesen wären.
"Es ist ganz egal, wo wir sind", sagte er gerne. "So lange ich in deiner Nähe bin, fühle ich mich immer geborgen." Er sagte es auch, als sie auf einem Campingplatz in Italien den letzten Hering in den Sandboden klopften und sich dann im Schatten auf einer Isomatte ausruhten. Sie fügte nichts hinzu. Ließ den Satz so stehen, der ihr Sicherheit gab. Solange er in ihrer Nähe war und sie immer noch liebte, war ihre Welt in Ordnung.
Ameisen krabbelten über sie hinweg und bissen hier und da zu. Kleine Steine piekten sich durch die Matte. Sogar im Schatten geblendet schlossen sie die Augen vor der Nachmittagssonne. Er schmiegte sich an sie und seine warmen Rippen drückten sich durch ihr T-Shirt. Entspannt wie lange nicht mehr konnte sie innerlich loslassen. Daheim und alle Sorgen waren weit weg. Hier auf dem steinigen Boden war alles gut. Sie schliefen tief.
Am Abend gingen sie ans Meer hinunter und aßen eine Pizza. Das scharfe Öl, das sie auf die Kante träufelten, lief ihnen über die Finger. Sie war glücklich.
Er lächelte. Endlich sah er sie wieder an. Fast wie früher.
Sie gingen am Strand spazieren. Die Lichter der Boote taumelten vor ihren Augen und sie genoss es, an gar nichts zu denken. Er dagegen machte bereits Pläne, was er alles ändern wollte, wenn sie wieder zu Hause wären. Ach, ja, die vielen Pläne, von denen nur die Hälfte und auch die nur zu einem schäbigen Teil verwirklicht wurden. Sie kannte das schon. Wie oft hatte sie nun schon erlebt, dass er etwas Neues voller Übereifer und Selbstüberschätzung anfing, bis ans Limit und darüber hinaus ging und es dann wieder völlig aufgab" Längst hatte sie aufgehört, ihn in seiner Euphorie wirklich ernst zu nehmen. Und doch wollte sie immer noch glauben, dass es dieses Mal wahr werden würde.
Für den nächsten Tag schlug er eine Radtour vor. Gut, sie würde mitkommen, wenn er die Strecke für sie realistisch absteckte. "Keine Sorge", beruhigte er sie. "Das schaffst du locker. " Aber du kannst viel mehr, als du dir zutraust", fügte er hinzu. Da war er wieder. Der alte Vorwurf, dass sie zu schwach, zu ängstlich oder zu was auch immer sei. Er nagte an ihr, obwohl andere, auch Männer, ihr bestätigt hatten, dass ihr Freund in Sachen Sport einfach extrem war. Nur wenige trafen sich noch mit ihm zum Squash.
Aber die erste Stunde war herrlich. Die Räder, die sie an der Rezeption geliehen hatten, liefen leicht, die Sonne schien und es war noch nicht zu heiß. Bei den ersten Steigungen blieb sie nur wenige Meter hinter ihm zurück.
Beim anschließenden langen Gefälle ließen sie sich den Schweiß von der Stirn trocknen. Auf einem Dorfplatz machten sie halt, um einen Blick auf die Karte zu werfen.
Das Stück, das sie bis hierher gefahren waren, war etwa zwei Zentimeter lang. Mit seinem Finger fuhr er etwa weitere zehn Zentimeter die Karte hinauf, ohne den Rückweg einzuplanen, und machte begeistert Pläne: "Und dann könnten wir noch bis zu diesem Ort hier und mit der Fähre auf die kleine Insel rüber."
Er lebte wie ein Kind im Hier und Jetzt. Heute Abend existierte für ihn noch nicht. Sie betrachtete ihn, wie er vor ihr stand in seinen Shorts und T-shirt, die er stolz trug, weil sie vom vielen Training schon ganz abgewetzt waren. Er war glücklich. Sie dagegen dachte voraus und war besorgt, fürchtete die Hitze und die Überanstrengung. Ausreichend Wasser hatten sie auch nicht dabei. "Meinst du, wir schaffen das alles an einem Tag"" fragte sie ihn.
Seine Stirn bekam zwei senkrechte Falten. Die Stress-Vene über seiner Schläfe schwoll an. Gleich würde er sie fragen, was das nun wieder sollte. "Wir sind doch gerade erst losgefahren!" meinte er aber nur, schluckte den Rest hinunter. Sie kannte ihn so gut, dass sie seine Gedanken spüren konnte.
Es war so ein herrlicher Tag und sie verdarb ihm alles. Er fühlte sich noch völlig frisch und ausgeruht. Er konnte noch stundenlang locker in die Pedalen treten. Und sie könnte es auch, wenn sie sich nicht so anstellen würde.
Er sah sie an. Ruhig, verständnislos, meilenweit entfernt.
"Es macht einfach keinen Sinn, auch nur irgendetwas mit dir zusammen zu tun."
Mit dieser Erkenntnis machte er kehrt, schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr los. Langsam zwar, aber ohne sich umzusehen.
Ein tiefer Riss zog sich durch den Tag. An einem Ort, zwei Zentimeter auf der Karte von dem Campingplatz, wo sie noch gehofft hatte, alles sei gut.
Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Ihre Hände umschlossen immer noch die Griffe des Lenkers. Die Handflächen bekamen tiefe rote Rillen von dem Muster im Plastik. Autos fuhren weiterhin vorbei. In ihr war es entsetzlich still.
Das war es. Zwischen den Pflastersteinen pickte eine Taube nach alten Pommes.
Die Leere in ihr war so tief, dass sie fürchtete, in sie hinein zu stürzen.
Seine Worte waren grundsätzlich und endgültig. Sie wusste es genau, fühlte es aber noch nicht. Sie ging ein paar Schritte nach links. Es war so sinnlos, in diese Richtung zu gehen. Sie machte kehrt und ging wieder zurück. Wie im Schock stand sie da, blutüberströmt, ohne den Schmerz zu fühlen. Ohne Zeitgefühl. Ohne ein Gefühl für irgendetwas.
An dem Tag, als sie auszog, räumte er nicht einmal sein Fahrrad vom Treppenabsatz.



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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