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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der Hofnarr
© Walter Kiesenhofer
Ein kleiner Ort in Griechenland, auf Rhodos. Ich habe den Leihwagen im
Schatten abgestellt und schlendere nun mit meiner Frau nach Lammgenuss und
Retsina durch die etwas verwahrlosten Gassen. Nur Hunde und Katzen sind zu sehen; die Hunde ruhen sich im Schatten der
Autos aus, die Katzen in Häusernischen. Während dieser heißen Tageszeit sind nur Touristen unterwegs - wenn sie so verrückt sind wie wir. In diesem kleinen Dorf sind wir zurzeit die einzigen dieser Sorte. Da entdecke ich mit einem Mal ein wunderschönes Bild: eine verschrumpelte alte Frau sitzt vor einem der weißgekalkten Häuser auf einer kleinen Terrasse im Schatten. Sie ist schwarz gekleidet. Das bildet einen wunderschönen Kontrast zu dem grellen Weiß des Hauses; besonders ihr großes schwarzes Kopftuch,
unter welchem ein auf seltsame Weise anziehendes altes Gesicht zu
sehen ist, hat es mir angetan. Kamera ans Auge, eine günstige Position gesucht, wo mir Licht und Bildaufbau
günstig erscheinen. Autofokus und Programmautomatik kümmern sich blitzschnell um den technischen Aspekt. Klick. Es wird ein starkes Bild werden. Ich gehe mehr in den Telebereich, wechsle den Standort, gehe auf manuell, um verschiedene Kontrastmöglichkeiten auszuschöpfen. Das Gesicht im Sucher fasziniert mich immer mehr. Es blickt hoheitsvoll, gütig, jedoch ohne irgendeine Regung, unter dem Schirm des großen schwarzen Kopftuchs hervor. Ich versuche immer neue Einstellungen; ich muß alles aus diesem Bild
herausholen, das sich mir da bietet. Bei der nächsten Foto-Ausstellung werde ich damit sicher ganz vorn mit dabei sein. Ob die gute, einfache Frau weiß, welche Ehre ihr da wohl widerfährt. Ich halte inne
weil die Batterie gewechselt werden muss. Bevor ich die Kamera wieder ansetze, um noch einige neue Gesichtswinkel zu
erhaschen, die ich vielleicht noch nicht ausgenützt habe, fällt mein Blick direkt auf sie. Ich sehe sie jetzt nicht durch den Sucher, es befindet sich keine Kamera zwischen ihr und mir. Und da weiß ich mit einem Mal, was es war, das mich so sehr fasziniert
hatte: Ihr Blick, gütig und hoheitsvoll in sich selbst ruhend, ist, so
verrückt es klingen mag, der Blick einer Königin! Einer Königin, die gerade sehr gelassen und wohlwollend ihrem Hofnarren
zusieht, wie dieser in der Mittagssonne Possen reißend um sie herumspringt.
Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.