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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Die Geschichte vom Sultan und seiner Sultanine
© Steffi Beckmann
Stockholm, 10. Dezember, später Nachmittag. Marianne von Emsdetten sitzt in ihrer Hotelsuite vor dem Spiegel der Frisierkommode. Sie blickt in ihr Spiegelbild. Es zeigt das Gesicht einer fast 80-jährigen Frau, jedoch mit den strahlenden Augen eines jungen Mädchens. Natürlich haben die vergangenen Jahrzehnte ihre Spuren nicht nur im Gesicht von Marianne hinterlassen. Doch für sie ist dies kein Anlass zur Traurigkeit, besonders nicht heute. Ein erfülltes Leben liegt inzwischen hinter ihr. Sie ist eine der bekanntesten
und bedeutendsten Buchautorinnen des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts.
Während sie ihr ergrautes Haar bürstet fliegen ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit. Erinnerungen an ihre früheste Kindheit erwachen. Das alte Bürgerhaus am Rand von Hamburg, ihr Geburtshaus, als wäre sie erst gestern von dort abgereist, so deutlich kann sie sich daran erinnern. Sie atmet in diesem Moment förmlich die Stille der hohen Eingangshalle. Täglich wurden damals die Böden gebohnert, bis sie glänzten wie alte Speckschwarten. Rechts der Eingang zum Arbeitszimmer ihres Vaters einem, weit über die Grenzen
Europas hinaus, bekannten Verleger. Die Tür blieb den Kindern meist verschlossen. Wie ein Heiligtum wurde dieser Raum behandelt, selbst als der Vater schon längst nicht mehr am Leben war, bestand die Mutter darauf, dass sich die Kinder fern hielten von diesem Teil des Hauses. Marianne und ihr Bruder Peer bekamen den Vater selten zu Gesicht, trotzdem schien seine Anwesenheit allgegenwärtig. Die wichtigste Erinnerung die Marianne an das Arbeitszimmer hatte, waren die hohen Wände, ringsum bestückt mit Bücherregalen
die bis zur Decke reichten. Gegen die Anweisung der Mutter, den Raum nicht zu betreten, hatte sich Marianne als kleines Mädchen oft heimlich nachts hinein geschlichen. Barfuss stand sie dann vor den riesigen Regalen und berührte schüchtern und zaghaft die Einbände der aneinander gereiht stehenden Bücher. Marianne erinnerte sich genau daran, wie sie die alten und schweren Bücher vorsichtig heraus nahm. Behutsam, fast ehrfürchtig, tasteten ihre kleinen Hände die ledernen Buchdeckel ab. Der Geruch des Papiers und
der Druckerschwärze blieb ihr nachhaltig in der Erinnerung.
In einer dieser Nächte geschah es. Marianne angelte sich eines der Bücher und huschte hinüber zu dem alten Ohrensessel ihres Vaters. Tief kuschelte sie sich in das Leder. Das Kaminfeuer flackerte und warf seinen Schein auf die vergilbten Seiten des Buches. Mühsam begann sie die ersten Seiten zu entziffern. Sie las in der Erstausgabe von Wilhelm Hauffs Märchenalmanach. Die verschnörkelten und geschwungenen Buchstaben verlangten Marianne damals all ihre bisher erworbene Lesekunst ab. Belohnt wurde sie mit einer
phantastischen Reise in ferne, unbekannte Welten. Abenteuerliche Geschichten aus dem Orient so wunderbar beschrieben, so abenteuerlich aufbereitet, dass Mariannes Sehnsucht geweckt wurde. Die Sehnsucht all die von Hauff beschriebenen Orte zu bereisen und selbst darüber zu schreiben.
Das läuten des Telefons reißt Marianne unsanft aus ihren Erinnerungen. Am anderen Ende der Leitung meldet sich ihre langjährige Freundin und Verlegerin mit den Worten: "Marianne, bist du schon fertig umgezogen? Wir haben nur noch fünfzehn Minuten Zeit, dann müssen wir los." Da es für Marianne in ihrem bisherigen Leben nie eine große Schwierigkeit war die passende Garderobe für besondere Anlässe zu finden, macht sie sich auch jetzt keine Gedanken darüber, dass sie noch im Hausmantel in mitten der Hotelsuite
steht. Zumal wenn man fast achtzig Jahre zählt hat man erkannt, dass die Sorgen Äußerlichkeiten betreffend, die geringsten aller Sorgen im Leben sind.
Während sie ihr schlichtes dunkles Kostüm aus dem Kleiderschrank holt um sich anzukleiden fällt ihr Blick auf das alte abgegriffene Schreibheft. Behutsam nimmt sie es an sich und streichelt mit ihren Fingerspitzen darüber.
Fast schon amüsiert lächelt sie bei dem Gedanken an die Gesichter der Juroren und Gäste des heutigen Abends. Man hatte Marianne aus gegebenem Anlass darum gebeten, aus ihrem wichtigsten literarischen Werk einige Auszüge zu lesen. Sie würde es tun, sehr gern sogar. Doch nicht einmal ihren engsten Vertrauten hatte sie verraten, was sie zu lesen gedenke. Es war ihr tatsächlich gelungen dies bis zum letzten Augenblick geheim zu halten.
Der Festsaal der Akademie ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ehrfürchtige Stille herrscht als Professor Johannson die Liste der nominierten Preisträger verliest. "Den diesjährigen Nobelpreis für Literatur erhält - Marianne von Emsdetten - für ihr Werk der ironisch-präzisen Darstellung des Lebens, mit ergreifender Wärme und Stärke interpretiert.
Als Marianne sich sichtlich bewegt von ihrem Platz erhebt erhält sie tosenden Applaus. Alle Anwesenden spenden ihr minutenlange, stehende Ovationen.
Während Professor Johannson Marianne zum Rednerpult begleitet bricht der Beifall nicht eine Sekunde lang ab.
Seit der Einführung der Preisverleihung im Jahr 1901, ist es am heutigen 10. Dezember zum zweiten Mal geschehen, dass eine Deutsche mit dieser hohen Auszeichnung bedacht wird.
Der Beifall hat sich endlich gelegt, alle Anwesenden warteten nun gespannt aus welchem ihrer Werke Marianne lesen wird. Während sie mit einem verschmitzten Lächeln in die Weite des Saales blickt legt Marianne das abgegriffene Schreibheft vor sich auf das Pult.
Sie bedankt sich mit knappen Worten für die hohen Ehren, die ihr soeben zu teil wurden. Danach beginnt sie einen kurzen Text vorzutragen. Sein Titel - Die Geschichte vom Sultan und seiner Sultanine - geschrieben von Marianne von Emsdetten im Alter von acht Jahren.
Wenn auch der Text kein literarisches Meisterwerk ist und Marianne inzwischen natürlich weiß, dass die Frau des Sultans ganz sicher nicht Sultanine heißt, so ist dieser Text doch das Erste und somit bedeutsamste Werk, welches sie jemals in ihrem Leben verfasst hatte. Damals, nach einer dieser heimlichen Nächte im Arbeitszimmer ihres Vaters, mit Glanz in den Augen, begeistert und inspiriert von den Kunstmärchen des Wilhelm Hauff und seiner phantastischen Erzählweise.
Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.