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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Anna

© Katrin Höcherl


Er wusste, dass es falsch war. Dennoch fuhr er weiter. Es war ein plötzlicher Impuls gewesen, den Blinker zu setzen. Wie ferngesteuert fuhr er von der Autobahn ab. Warum? Er wollte nach Hamburg; doch jetzt fuhr er die Landstraße entlang, passierte das Ortsschild von Dorfen. Noch konnte er umdrehen, schnell zurück auf die Autobahn. Aber Leander fuhr weiter Richtung Ortskern, bis zur St. Georgs Kirche. Hier parkte er seinen Wagen, zog den Zündschlüssel ab und blieb einfach im Auto sitzen. Wie lange war das her gewesen? Wie lange war er nicht mehr in Dorfen gewesen? Leander runzelte die Stirn. "37 Jahre", murmelte er und zündete sich eine Zigarette an. "Genau 37 Jahre!. Der Platz vor der Kirche sah noch aus wie damals. Das Kreuz in Erinnerung an die Gefallenen und Vermissten des Zweiten Weltkriegs stand imposant auf der Wiese. Dahinter, bei der Grabplatte, ragte der knorrige Baum in den Himmel. Leander musste sehen, ob es noch da war. Er wusste noch genau die Stelle, wo er es eingeritzt hatte, mit seinem neuen Taschenmesser. Damals, mit Anna, hatte er es zum letzten Mal in der Hand.
"Anna", sagte Leander laut. Sie hatte ein so frisches, offenes Lachen. 37 Jahre hatte er sich verboten an sie zu denken, und jetzt sah er sie vor sich, als wäre es gestern gewesen. Mit langen Schritten hatte er den Baum erreicht. Seine rechte Hand tastete den Stamm entlang. Da war sie, die Wunde in der Baumrinde. Mitgewachsen mit den Jahren. Die Ränder waren abgerundet, ganz breit waren sie geworden, ihre Initialen L +A. Es war noch gut zu erkennen. Dieses L+A gehörte zu diesem Baum, gehörte zu Dorfen, gehörte zu ihm, auch wenn er 37 Jahre weggelaufen war; versucht hatte, es zu vergessen.
Es war ein kalter Januartag gewesen, vor 37 Jahren. Leander war gerade 19 Jahre alt. Es war seine Zeit bei der Bundeswehr, er war in Munster stationiert. Der Vorgesetzte hatte ihnen für diesen Abend frei gegeben.
Ganz überraschend. Ein freier Abend, das war wie ein Geschenk Gottes und seine Kameraden hatten keine Lust, was daraus zu machen. Die hatten sich nur eine Kiste Bier besorgt, um sich zu betrinken. Leander schüttelte stumm den Kopf. "Die wollten sich immer nur betrinken". Das war nichts für ihn.
Er wollte raus aus der Kaserne, wollte was erleben. Also setzte er sich alleine in sein Auto und fuhr los. "Meine Güte", murmelte Leander und zog an seiner Zigarette. "Wäre ich doch bloß bei meinen Kameraden geblieben, hätte ich mich doch besoffen, so wie sie". Er war damals einfach so durch die Gegend gefahren, über Landstraßen, bei Dämmerung. Es war reiner Zufall, dass er durch Dorfen kam. Hier waren die Straßen mit bunten Girlanden geschmückt, Musik dröhnte aus der Scheune. Schützenfest. Genau das hatte Leander gesucht. In der Scheune war es stickig. Biergeruch lag in der Luft, junge Paare drängten sich auf der Tanzfläche. Anna war ihm sofort aufgefallen. Sie hatte beim Tanzen so fröhlich zu ihm herüber gelacht.
Leander fröstelte. Selbstvergessen spürte er den eingeritzten Buchstaben nach. Doch Plötzlich trat er zurück. "Warum tust Du das?" fragte er sich.
"Was machst Du eigentlich hier. Ist nicht längst alles vorbei?" Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er spürte das Blut in seinen Schläfen pulsieren.
Entschlossen ging er zu seinem Wagen zurück. Er wollte nicht mehr, konnte nicht mehr. "Du musst weg", murmelte er. "Es ist vorbei. Es gibt keine Anna mehr, und auch keine Geschichte." Er schüttelte den Kopf, als wollte er die Bilder in seinem Kopf verscheuchen, suchte nach dem Autoschlüssel. Doch kaum hatte er ihn in der Hand, begann er zu zittern. Seine Finger gehorchten ihm nicht mehr, und so rutschte er mit dem Schlüssel vom Türschloss ab. "Nein", flüsterte Leander. Panik kam in ihm hoch, "Ich muss weg hier!" Doch da war der Schlüssel schon in der Dunkelheit des Straßengrabens verschwunden.
Schwer atmend lies er sich auf den Randstein fallen. Irgendetwas stach in seiner linken Brust. "Mein Herz", stöhnte er, "Ich muss weg hier". Leander japste nach Luft. Er wollte rufen, Hilfe holen, doch er blieb ganz still am Randstein sitzen. "Hier ist doch sowieso niemand, der mir helfen könnte", murmelte er. Die Dämmerung hatte etwas Beruhigendes. Leander schaute sich um. Blinde Kirchenfenster sahen ihn an. Der Platz vor der St. Georgs Kirche war menschenleer. Er atmete tief, langsam ließ das Stechen in seiner Brust nach. Er konnte wieder aufrecht sitzen. Es ging ihm besser, doch gegen die Bilder in seinem Kopf kam er nicht an. Sie kamen, nahmen Besitz von ihm. Er schloss die Augen, schüttelte den Kopf, das Bild von Anna blieb.
Er sah ihr Lachen beim Tanzen, damals, vor 37 Jahren. Er sah, wie er auf sie zuging, unbeholfen hölzern. Damals hatte er noch keine Erfahrung mit Frauen. Er war schüchtern, hatte sich nie getraut eine Frau anzusprechen.
An diesem Abend war es anders. Anna hatte ihn so fröhlich angelächelt. Er konnte einfach nicht anders. Er merkte gar nicht, wie es geschah. Sie tanzten zusammen. Es war wundervoll, sie so nah zu spüren. Ein Geruch von Creme, Parfum und Schweiß drang ihm in die Nase, es war ein schöner Geruch.
Leander saß jetzt ganz ruhig am Randstein. Mit seiner rechten Hand drückte er auf seine Brust. Der stechende Schmerz hatte nachgelassen. Sein Atem ging ganz ruhig. Er wehrte sich nicht mehr gegen die Erinnerung.
Es war Anna, die vorgeschlagen hatte, den Tanzsaal zu verlassen. Wie selbstverständlich hakte sie sich bei Leander unter und zog ihn hinaus. Es war eine sternenklare und kalte Nacht, so kalt, dass sich Anna ganz eng an Leander ankuschelte. Sie schlenderten bis zum Platz vor der St. Georgskirche, bis zu der großen, mit Moos bewachsene Grabplatte auf der Wiese davor, und bis zu dem knorrigen Baum. Anna sagte die ganz Zeit über nichts, sie schmiegte sich nur ganz eng an Leander an. Da standen sie, unter den Ästen des knorrigen Baumes, eng umschlungen. Leander spürte ihren Herzschlag, spürte die Wärme ihres Körpers. "Anna" flüsterte er leise in ihr Ohr. "Immer werden wir uns an diesen Abend erinnern. Immer." Anna nickte stumm. Es war seine Idee gewesen, dass sie sich in diesem Baum verewigten.
"Hätte ich das Taschenmesser doch in der Tasche gelassen!" Leander schüttelte ruckartig den Kopf, sein Atem ging wieder schneller. Nervös tastete er nach seiner Jackentasche, da war er, der Flachmann. Die Flasche war noch halb voll. Warm rann ihm der Schnaps die Kehle herunter. Er wurde ruhiger. "Mein Gott, was täte ich ohne den Schnaps", murmelte er resigniert.
Anna war begeistert von der Idee. Das "L" wollte sie selbst in die Rinde ritzen. Sie war ein bisschen ungeschickt gewesen. Dreimal war sie mit der Klinge abgerutscht, beinahe hätte sie ihm die Pulsadern aufgeschlitzt.
Leander schmunzelte bei der Erinnerung. Das "A" hatte er selbst geschnitzt, es war ein schwungvolles "A". Das war gar nicht so einfach, bei dieser harten Baumrinde. Aber es war ihm gut gelungen. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er sie erst hörte, als sie ganz nahe herangekommen waren. Es waren zwei Jungs, Burschen aus dem Dorf. "Hey, ist das nicht Deine Anna, die mit dem Typen da rum macht!" Der pöbelnde Ruf zerschnitt die Stille.
Der säuerliche Geruch von abgestandenen Bier stieg Leander in die Nase.
"Lass die Pfoten von unseren Mädels!" Einer der beiden war ganz dicht an Leander heran gekommen. Er hatte ihn am Kragen gepackt. Leander sah seine Augen dicht vor sich. Angst fasste ihn kalt an. Er versuchte zurückzuweichen, da spürte er auch schon einen Schlag in der Magengrube. Er hörte Annas spitzen Schrei. Ein schrilles "Nein" echote über den Platz.
Doch niemand nahm Notiz davon. "Lass ihn," brüllte Anna, "Du hast kein Recht mehr auf mich, es ist aus!" Dieser Satz von Anna machte den jungen Mann erst recht rasend. Er holte aus und schlug mit seiner flachen Hand Leander ins Gesicht. Leander spürte wie ihm Blut aus der Nase tropfte. Er ballte seine Faust, spürte den Griff des Taschenmessers in seiner Hand.
Blind vor Wut und Angst holte er aus. Sein Arm schnellte nach vorne, ganz automatisch. Mit voller Wucht bohrte sich das Taschenmesser in die Brust des jungen Mannes. Leander sah, wie sich dessen Augen vor Schreck weiteten, wie er röchelte. Leander erstarrte, den Knauf des Messers noch immer in der Hand. Der Mann taumelte, stürzte zu Boden.
Leander stöhnte. Ihm wurde heiß, Schweißperlen liefen ihm über die Stirn, obwohl es kalt und windig war, an dem Randstein, auf dem er saß. Er sah diese kalten Augen des jungen Mannes, die durch ihn hindurch ins Leere starrten. Es waren diese Augen, die er jede Nacht wieder sah, die ihm den Schlaf raubten, seit 37 Jahren.
Die Zeit war stehen geblieben, in jener Nacht. Leander weiß nicht, wie lange sie da gestanden waren, Anna, er und der andere Mann, im Halbkreis um den Zusammengesunkenen, der gekrümmt am Fuße des Baumes lag, den Blick starr durch Leander hindurch. Die Wärme wich langsam aus seinem verdrehten Körper. Sie standen wie versteinert. Niemand sagte ein Wort. Dann rannte Leander plötzlich los, das blutige Messer fest in der Faust. Er rannte, ohne sich umzusehen. Hinter sich hörte er Anna, die seinen Namen rief, doch er reagierte nicht. "Nur weg hier", war sein Gedanke. Er erreichte seinen Wagen, drehte den Zündschlüssel um und raste davon. Ein Fremder im Ort.
Niemand kannte ihn hier, selbst Anna wusste nur seinen Vornamen. Sie würden ihn nicht schnappen können, niemals.
Leanders Herz begann zu rasen. Er saß jetzt zusammengesunken auf dem Randstein. Der Druck in seiner linken Brust war wieder ganz stark geworden.
"Sie wird mich hassen." Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu. "Sie wird mich immer noch hassen." Leander griff zu seinem Flachmann. "Nur noch den einen Schluck", murmelte er entschuldigend, "damit das Herzrasen aufhört."
Leander hatte wieder das Phantombild vor Augen, das am nächsten Tag auf dem Titel der Lokal-Zeitung prangte. Er war gut getroffen. Die Augenbrauen ein wenig zu eng beieinander, der Mund ein wenig zu schmal, aber sonst gut getroffen. Sofort hatte er es verschwinden lassen. Ein Glück, in Munster las man eine andere Zeitung. Dennoch, seit dieser Nacht war die Angst sein Begleiter geworden. In den Nächten war er brüllend aufgewacht. Vor ihm immer dasselbe Bild: die kalten Augen, die anklagend durch ihn hindurch starrten. Das war die Zeit, als er anfing, mit seinen Kameraden zu trinken.
Wenn er genug getrunken hatte, verblassten diese Augen.
"Ich muss mich stellen", plötzlich war der Gedanke da, ließ sich nicht mehr wegschieben. Überrascht über seine eigene Kraft sprang Leander auf; gleich um die Ecke, bei der St. Georgs Kirche, da war das Polizeirevier. Leander hatte es gesehen, als er herein fuhr. "Ich muss mich stellen!" Mit hastigen Schritten eilte er um die Ecke, hatte die Pforte schon erreicht. Die Wache war noch besetzt, ein älterer Polizeibeamter saß am Schreibtisch, den Telefonhörer in der Hand; "Kleinen Moment," sagte er ohne aufzublicken.
"Ich bin gleich bei Ihnen." Nervös trat Leander von einem Fuß auf den anderen. Nach 37 Jahren hatte er sich entschieden, sich zu stellen. Jetzt konnte er nicht länger warten; wollte das schreckliche Geheimnis keine Sekunde länger für sich behalten. Endlich, als der Beamte aufgelegt hatte, sprudelte Leander los; wie in Trance schilderte er die Einzelheiten von jenem Tag im Januar. Leander weiß nicht, wie lange er geredet hatte.
Irgendwann sank er außer Atem auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Der Beamte schüttelte langsam den Kopf:" Dass ich das auf meine alten Tage noch erlebe, dass dieser Fall geklärt wird." "Ich will alles sühnen, ich tue alles", stammelte Leander. "Meine Güte," entgegnete der Beamte "Heute ist das doch längst verjährt. Damals, da haben wir lange diskutiert, was mit dem Täter wohl passieren würde. Ich bin ja immer noch der Meinung, dass sie mit einer Bewährungsstrafe davon gekommen wären. Ein guter Anwalt hätte sie da raushauen können." Leander schluckte. "Aber das war doch Mord", stammelte er verzweifelt. "Ich habe diesen Menschen ermordet." Der Beamte schüttelte den Kopf. "Sie haben wenig Ahnung, hm?" stellte der Beamte gutmütig fest. "Das war Totschlag, und ob es Notwehr war, das hätte ein Richter entscheiden müssen. Aber so wie das Mädchen die Situation geschildert hatte, da hätten sie vor Gericht gute Chancen gehabt." Leander wurde schwindelig. "Notwehr?" Seine Lippen formten das Wort als würde er den Sinn nicht verstehen. "Das Mädchen", Leanders Stimme war ganz leise, ganz zaghaft, "Was hat sie gesagt?" "Ach, das ist doch schon so lange her," sagte der Beamte. "Ich weiß nur, dass sie oft hier war. Sie wollte genau wissen, wie weit wir mit den Ermittlungen sind. Verdammt oft." Leander sah den Beamten fragend an. Er brachte keine Ton heraus. "Guter Mann, die wollte, dass sie geschnappt werden. Wenn Sie mich fragen, dann wollte das Mädchen Sie einfach gerne wieder sehen." Der Beamte lächelte, als er das sagte. "Anna," sagte Leander leise, dann spürte er ihn, den stechenden Schmerz in seiner linken Brust, er japste nach Luft.
"Mein Herz", stammelte er. Es war das letzte, was Leander sagte.



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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