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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Engel

© Ann Kathrin Rusitzka


"Mama, können Engel fliegen?"
"Natürlich, meine Kleine."
Viele Jahre später stand sie am Grab ihrer Mutter. Ein steinerner Engel bewachte die Stätte. Die letzen Trauergäste waren bereits gegangen. Nur sie war noch geblieben. Nun war sie allein. Allein in dieser trostlosen, metallischen Welt, die vor Chrom und Glas nur so blitzte und funkelte. Einsam in einer Welt, die soviel Kälte ausstrahlte. Sie betrachtete nachdenklich das Grab. Würde es besser werden, wenn man tot war? Der Engel stand ruhig da, hatte die Arme leicht erhoben und lächelte beruhigend. "Pass gut auf sie auf", wisperte sie und ging. Langsam schlurfte sie über den pappelgesäumten Schotterweg des Friedhofs.
Ihre Füße trugen sie zum Ufer des Flusses. Schweigend sank sie auf eine Bank am Ufer und betrachtete das dahin fließende Wasser. Ruhe. Die Zeit hatte für sie ihre Bedeutung verloren. Einige Male war sie angesprochen worden, doch stets antwortete sie nur mit Schweigen, wie sie es immer getan hatte. Erst als die Sonne untergegangen und die Stadt im hellen Licht der Neonröhren zu neuem Leben erwacht war, stand sie auf. Geblendet ging sie durch die Straßen und versuchte dem grellen, blinkenden Licht so gut sie konnte auszuweichen. Nachts war fast noch mehr auf den Straßen los als tagsüber. Überall waren Menschen, die fröhlich lachend umhereilten. Sie beachtete keinen davon und ging weiter. Sie wollte nach Hause.
Schweigend stand sie auf dem Dach des Hochhauses. Der Wind blies sanft durch ihr Haar. Nachdenklich ließ sie ihren Blick über die Stadt gleiten, über die Lichtoase, die sich dort vor ihr erstreckte. Zu lange hatte sie schon geschwiegen, zu vieles ertragen. Stumme Schreie, die in der Nachtluft verhallten. Sie blickte nach unten, betrachtete die roten Adern der Stadt. War fasziniert von dem geschäftigen Treiben, dass sich dort unten selbst mitten in der Nacht abspielte. Von hier oben sah es aus, als sei ein Ameisenhaufen in Aufruhr, überall wimmelte es von Autos und Menschen. Dort unten tobte das Leben, doch hier spürte man kaum etwas davon. Oft schon hatte sie hier oben gestanden und über ihr Leben nachgedacht, oder einfach nur die Stille, die Abgeschiedenheit, genossen. Man schien hier in einer anderen Welt zu sein. In diese Welt, die keine Hektik kannte, drang nur das leise, verzerrte Surren der Motoren, die leisen Stimmen und der Wind. Noch einen Schritt nach vorne. Ihre Füße umklammerten den Rand des Flachdachs. Sie lebte, so versuchte sie sich zuerst Mut zuzureden, doch dieses Leben war eher ein vegetieren, ein Atmen um des Körpers Willen, denn die Seele war vor langer Zeit gestorben. Sie war innerlich verblutet, langsam verdorrt und irgendwann endlich erlöst worden. Anfangs hatte niemand, nicht einmal sie selbst, die Veränderung bemerkt, doch dann waren auch ihre Gefühle gestorben. Danach kam nichts mehr, außer dieser schrecklichen Leere in ihrem Inneren. Sie fühlte sich wertlos, nicht mehr wert als eine dieser Maschinen dort unten, die gleichgültig durch die Straßen rollten. Ihre Gedanken wurden träge. "Engel können fliegen", hallten Worte aus ferner Vergangenheit in ihrem Kopf. Worte aus einer Zeit, in der noch alles in Ordnung schien. Doch diese Zeit war vergangen, endgültig, zuviel war seither geschehen. Zuviel hatte Wunden in ihre Seele geschlagen, Wunden, die niemals heilen würden. Die frohen Tage ihrer Kindheit waren schon vor langer Zeit abrupt zu Ende gegangen. Nun lebte sie in einer Welt, die trostloser kaum hätte sein können. Was hielt sie eigentlich noch hier?
"Engel können fliegen", wisperte sie, breitete die Arme aus, lächelte ... und sprang.



Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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