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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Wie ein Fels in der Brandung
© Von Rosita Hoppe
Die Wut in Annas Bauch hatte sich noch immer nicht gelegt, als sie an der Kaimauer stand, die die Promenade vom Strand trennte. Sie blickte in die tobende See. Schwere, graue Wolken hingen über ihr und dicke Regentropfen prasselten auf sie nieder. Der immer stärker werdende Wind zerrte an ihrer Kleidung. Doch sie spürte es kaum.
Langsam ging sie weiter. Als sie die steile Treppe, die hinunter zum Strand führte, erreichte, schlug sie automatisch den Weg dorthin ein. Sie lief über den Sand direkt auf die tosenden Wellen zu, die immer mächtiger heranrollten. Grauschwarz, mit dreckigem, grünbraunem Schaum bedeckt, klatschten sie an Land. Fasziniert beobachtete Anna das unruhige Meer. Als ob es mich verschlingen will, dachte sie.
Inzwischen stand sie mit ihren Gummistiefeln im Wasser. Der Regen tropfte vom Rand ihrer Kapuze in ihr Gesicht und vermischte sich mit den Tränen, die ihr plötzlich lautlos über die Wangen liefen. Warum? - Warum nur hatte es wieder diesen fürchterlichen Streit gegeben? Wieder einmal hatte es mit einer Nichtigkeit angefangen und dann hatte ein Wort das andere ergeben. "Wieso bist du auch so ein sturer Bock!", schrie sie gegen den Sturm an und wusste im gleichen Augenblick, dass sie nicht besser war.
Michael, ihr Mann, mit dem sie seit 13 Jahren verheiratet war, hatte sich in den letzten Monaten sehr verändert. Er war unausgeglichen und ständig genervt. Jede Kleinigkeit regte ihn auf. Vor allen Dingen Anna schien alles verkehrt zu machen. Anfangs war sie ruhig geblieben und hatte sich gesagt, dass das nur eine vorübergehende Phase sei. In der letzten Zeit jedoch, zahlte sie es ihrem Mann mit gleicher Münze heim. Sie blieb ihm keine Antwort schuldig und forderte ihn mit ihren oft patzigen Retourkutschen geradezu
heraus. Es endete immer damit, dass einer von beiden das Weite suchte. - Heute war sie es gewesen.- Und jetzt, hier vor diesem tosenden Meer, kam sie sich plötzlich ganz klein und unbedeutend vor. Auch die Dimension, die ihr Streit noch vor Kurzem gehabt hatte, schmolz dahin.
Anna fühlte sich nur noch traurig und erschöpft. Ihr wurde klar, dass ihre Auseinandersetzungen ein Nichts waren, im Gegensatz zu den Naturgewalten. Dieser Sturm, der mit unverminderter Macht über das Meer und das Land hinwegtobte, würde sich wieder legen. Vielleicht sah die Welt schon morgen wieder friedlich aus und erstrahlte im Sonnenlicht.
Sie erkannte aber auch, dass sie etwas tun musste. Dass im Gegensatz zur Natur, wo Stürme von allein abflauten und den herrlichsten Sonnenschein brachten, in einer Ehe nichts von allein passierte. Man musste ständig daran arbeiten und durfte nichts einfach so laufen lassen. Das musste sie auch Michael klarmachen. Gemeinsam würden sie es schaffen.
Sie ging noch ein paar Schritte weiter und wurde ganz ruhig. Der Sturm, der so an ihr zerrte, konnte ihr nichts mehr anhaben. Sie stand mit beiden Beinen fest am Boden und spürte eine neue Kraft in sich aufsteigen.
"Ich liebe dich!", rief sie in den Sturm.
Noch lange stand sie dort, wie ein Fels in der Brandung.
Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
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