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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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ALS WIR UNS TRAFEN - Eine Momentaufnahme

© Von Stefan C. Limbrunner


Für Ingeborg Frena.
Weil sie es wert ist aufgeschrieben zu werden.
And You Can Tell Everybody, This Is Your Song
It May Be Quite Simple, But Now That It's Done
I Hope you Don't Mind, I Hope You Don't Mind
That I Put Down In Words
How Wonderful Life Is, While You're In The World
(ELTON JOHN "Your Song")
Ich habe Angst. Ich zwänge mich durch eine Tür, die sich nach außen hin aufschiebt, wenn man einen Button mit leuchtend grünem Katzenauge drückt, aus dem Zugwaggon. Ich stolpere fast. Der Abstand zwischen Trittbrett und Bahnsteigkante ist hoch für jemanden der klein ist, wie ich. Und der viel zu schweres Gepäck hinter sich her zieht. Das Gewicht verwandelt mich in einen ächzenden, schweißtriefenden, gehetzten Kerl. Jetzt ist es das erste Mal, dass ich aussteige, mit einem genauen Ziel in der großen Stadt. Sonst, wenn ich hier ausstieg in der Vergangenheit, ohne Gepäck, irrte ich suchend durch die Straßen. Ich habe nur einen weinroten Aktenkoffer bei mir, an dessen Griff ich mich festhalte. Es ist gut, wenn man aufgeregt ist, sich an etwas festhalten zu können. Man muss es ja nicht zugeben. Vor mir der graue, ausgebesserte Asphalt eines Bahnsteiges. Weiter vorne Automaten mit Gittern daran. Sie halten dort schamlos überteuerte Süßigkeiten gefangen und Snacks, die man mit Münzen befreien kann. Überquellende Abfallkörbe. Über mir das transparente, in Rundbögen gehaltene, mit Eisenstreben eingefasste Dach des Bahnhofes. Ein Gewimmel von Menschen, fremde anonyme Niemande, ohne Namen, ohne Geschichten. Gestresst, an mir vorbeihetzend, stapfend, mit hochgezogenen Mantelkrägen, dahinter verschlossene Gesichter und hundert Lebenswege, zu denen ich nicht gehöre. Ich werde angerempelt von hinten, von jemandem der auch aus dem Abteil drängt. Ich gehe ein paar Schritte zur Seite. Ich stehe jetzt mitten in diesem Moloch aus anonymen Leibern die gesichtslos durch die Korridore des Bahnhofes pulsieren, wie Blut durch die Venen des Körpers. Stimmengewirr, Sprachfetzen. Da stehe ich, ein bärtiger Mann mit nackenlangem Haar ohne spezifischen Schnitt, schielend, stärker als ich es mir vor meinem inneren Auge vorstellen kann. Ich stehe da, mit meinen 1,62, stolzer Größe, mit meinem weinroten Aktenkoffer in der Hand, die Finger krampfen sich darum. Irgendwie. Ich rücke meine Brille zurecht. Ich gehe durch die Menge, die ich nicht kenne, aber die mir feindlich gesonnen ist, ich fühle es. Weil sie keine Rücksicht darauf nehmen, dass ich so nervös, so unruhig bin, ein flaues Gefühl sich wabernd in meinem Magen ausbreitet wie eine Delle. Weil es ihnen egal ist, ob ich aufgeregt bin oder nicht. Weil sie nicht wissen das heute mein erster Tag ist, an der Schauspielschule. Ich ströme mit dem Pulk ins Freie hinaus, an den Ständen vorbei die Sandwichs anbieten, überteuert. Ich ströme hinaus auf die Hauptverkehrstraße. Es regnet.
Großstadtmitte. Eine Karawane von Fahrzeugen, Autos, LKWs, Motorräder, Fahrräder, Straßenbahnen und Kombiwagen wälzt sich durch die Straße. Ich überquere sie, warte bis die Ampel auf Grün schaltet, später werde ich dort hinübergehen, auch wenn rot ist, weil in dieser Stadt jeder über die Straße hetzt bei rot. Wer bei grün geht, sagt man, kommt vom Land. Ich gehe mit meinem Koffer die Straße entlang. Die hochgespannten Leitungen der Straßenbahn und der Tram am Horizont wirken ein bisschen wie San Francisco, eine Sekunde lang. Ich bin überpünktlich und trotzdem hetze ich, weil es mir eingeimpft ist, anerzogen. Ich haste an Gebäuden vorbei, an denen ich noch häufig vorbeihasten werde, zu irgendeinem Unterricht. Die Zeile des Häuserblocks wird sich mir einprägen: Eine Bank, eine Zweigstelle einer großen konservativen Zeitung, ein Spielwaren Laden, ein Elektrogeschäft, ein griechisches oder türkisches Lokal, dessen Wirt mich einmal fast hinauswerfen wird, weil ich kein Getränk bestelle. Dann ein Ramschladen..Ich biege in die Querstraße ein, an der das Straßenschild prangt das ich schon kenne. Ich wechsle auf die andere Straßenseite. Ich kenne diese Straße, hier war ich vorsprechen. Ich gehe langsamer, rechts bietet sich ein Bettengeschäft mit Stoffen meinen Augen feil, und ein kleiner Drogeriemarkt. Ich komme an ein weißes Gebäude, an dem der Putz abblättert, bröckelt. Ich kenne die Toreinfahrt die enge, und ich werde auch das bemalte Gebäude gegenüber kennen lernen, wo Deutschkurse gegeben werden für Ausländer, und wo Kinder manchmal Ball spielen. Ein goldenes Schild an der grau - weißen Fassade, nennt den Namen der Schule, später wird man es abschrauben, wie man die Ausbildung "abschrauben" wird. Ich biege ein, vorbei an den mit weiß gestrichenen Eisenstreben vergitterten Fenstern, hinter denen ich oft sitzen werde, auf einem Hocker oder einem Sessel aus einer Couchgarnitur. Zu früh wie immer. Ich werde die Plakate an den Wänden ansehen. Immer wieder werde ich eine Bildercollage mit den Fotos der Absolventen ansehen, aus Langeweile, einmal sogar heimlich mit dem Finger darüberstreichen und mir vorstellen, wie das wäre, mein Bild da oben. Es wird nie dort hängen. Aber als ich jetzt zur Einfahrt gelange, weiß ich das noch nicht. Tausend Fragen schwirren im Bruchteil einer Sekunde durch meinen Kopf als ich, fast scheint es in Zeitlupe, Momentaufnahme eines durchschnittlichen Vorgangs, um die Ecke trete; Fragen wie: Wer wird schon da sein? Bin ich der Erste? Werden viele von meinem Vorsprechen da sein? Gesichter die ich gesehen habe, schon einmal? Fremde Gesichter, gewiss, aber mit einem Hauch Vertrautheit. Wie wird man mich aufnehmen?
All das zwirbelt sich kaleidoskopartig in einem Inneren, mein Herz klopft leicht. "Es ist das schnelle Gehen" sage ich mir. Gleich, wenn ich um die Ecke biege, werden sie dastehen, denke ich, alle die mit mir vorgesprochen haben. Ein naiver und ängstlicher Teil in mir hofft das, ich stopfe ihm den Mund mit einer Überdosis Realismus. Der Koffer in meiner Hand ist schwer geworden. Ich trete in den Innenhof, dem man jedes Jahr das er alt ist, in Schmutzringen ablesen kann; und gehe die Stufen zum Hauptgebäude hinauf. Ich stelle meinen Koffer ab, meine Fingerballen brennen, ich knete meine Hände sehe mich um. Das gegenüberliegende Nebengebäude kenne ich, dort liegt der Saal wo ich vorgesprochen habe, der Saal meiner Erinnerung, der Raum der eine Theaterbühne sein will, aber keine ist. Ich setze mich auf die Stufen, obwohl sie feucht sind. Ich bin zu schnell gelaufen. Atemlos kauere ich mich hin und ruhe mich aus.
Sechs Monate später werde ich wieder so auf dieser Treppe vor der Eingangstür sitzen, auf der gleichen Stufe, dieselbe Hose tragend, dieselbe rotschwarze Jacke. Vor mir wird eine junge Frau stehen, sachte beleibt, neben ihr ihr Freund. Beide sind Absolventen jener Schule im Hinterhof, die mich dann ausgespieen haben wird. Von der ich mich abgewandt habe, weil ich es musste. Sonst wäre ich eingegangen an Rückgratverkümmerung oder mangelnden Perspektiven. Die Beiden werden mich filmen, während ich , angestrengt nicht in die Linse der Videokamera blickend - das ist unproffessionell - ein Statement abgeben werde über einen Dozenten, der mich unterrichtet hat dies halbe Jahr. Ich biete eine einstudierte Inszenierung und bringe ein Zitat dass ich zu einem Drittel selbst erfunden habe, aber wer soll mich verraten - Laurence Olivier ist tot
Ich bin allein im Hinterhof. Noch ist niemand da. Ich warte. Allein. Zweifel. Auf einmal Zweifel. Es war doch der elfte September, nicht wahr? Elfter September, zehn Uhr, nicht wahr? So war es doch. So stand es doch da? Stand es so da? Irrational natürlich, zigmal habe ich den Brief gesehen, in der Hand gehalten, gefaltet. Und wenn ich mich verlesen habe? Vielleicht war es der zwölfte oder der zehnte, möglicherweise habe ich ohne Brille gelesen, ja, ohne Brille, und die Zahlen vertauscht. Ich stehe auf, um nachzusehen, und schelte mich unbewusst einen Idioten. Die Metallverschlüsse meines Koffers schnappen auf. Ich krame herum zwischen leeren Blöcken, unbenutzten Stiften, nicht beschrifteten Kalendern, und meiner halben Reclamsammlung. Ich finde den Brief, halte ihn in das nebelgraue Sonnenlicht das Herbsttages und lese das Datum, von dem ich die ganze Zeit wusste das es da stehen muss. Seufzend stecke ich den Brief wieder ein, seufzend klappe ich den Koffer zu, und wiederum seufzend lasse ich mich wieder auf die feuchten Stufen nieder. So sitze ich da, mit regenbetropfter Brille, klitschnassem Haar, den Rot-schwarzen Parka mit grauer Fütterung fest um mich geschlungen. Es ist kalt,
Ich sehe auf, und blicke noch einmal zum Drahtzaun, zu der engen Auffahrt die zum Nachbargebäude führt. Oft werde ich in einer Gruppe Anderer in diesem Hinterhof stehen. In der Dunkelheit der anbrechenden Nacht, oft noch in Tanzschuhen. Ein Lichtstrahl wird aus der massiv hölzernen Tür fallen, und die dünnen Schlieren Zigarettenrauchs werden in die kalte Nachtluft der Großstadt hinaufsteigen. Da werden wir stehen und reden, und lästern, und kichern, frösteln, lachen, Zeit vertreiben bis der Unterricht weitergeht, frische Luft schnappen. Frische Luft mit Nikotinzusatz. So wird es sein. Dort wird sie stehen. Jetzt noch nicht. Aber dort wird sie stehen.
Genau im vorderen Eingangsbereich, dem Drahtzaun nahe wird sie stehen. Ich werde sie ansehen.
Sie unterhält sich mit einem blonden Mädchen, das sie vom Vorsprechen her kennt, mutmaße ich. Sie mag meine Größe haben, so in etwa, Zentimeter sind für kleinliche Leute, nicht für kleine. Sie trägt eine dunkle Kombination, die mir noch sehr vertraut werden wird: Eine dunkle Hose aus Gott-weiß-was für einem Stoff ; dazu ein dunkles Oberteil, aus dem ein anderes, längeres in der gleichen Farbe, auf Höhe der Taille hervorzustehen scheint, eine Art kurzen Rock um ihrer Hüften bildend. Dazu trägt sie diesmal ein Sakko oder Jackett in ebenfalls dunklem Farbton und sie trägt nicht eines jener Kopftücher, die ihr, einer Piratenbraut nicht unähnlich, um den Kopf gebunden, so gut stehen. Monate später wird sie zum ersten Mal Eines tragen, um lange Rasta - Locken zu bändigen, die sie sich auf dem Oktoberfest binden lässt. Rotbraune Rasta Locken die fast bis hinab zum Hintern reichen werden. Nicht dass das eine Rolle spielen würde, denn man achtet nicht auf reizvollen Po (jedenfalls nicht primär, aber man späht hin. Natürlich spähe auch ich) man achtet nicht auf die Kleidung die sie trägt. Nein, wenn man sie sieht, dann ist es ihr Gesicht das fasziniert. Wie ein Magnet zieht es den Blick auf sich, dieses ovale ungewöhnliche Gesicht, mit Wangen auf denen sich Sommersprossen tummeln und die auf so hinreißende Art sanft erröten, oft Kleinigkeiten wegen, dass ich ihr einmal raten werde, nur in gerötetem Zustand unter Menschen zu gehen. Das ebenmäßige Näschen, ist auf der rechten Seite mit einem wunderschönen silbernen Piercing geschmückt, das die Form einer kleinen, silbernen Clownsmaske hat. Ihr rotbraunes Haar, das, wie sie mir später gestehen wird, in Wirklichkeit eine andere Farbe hat, teilt sich, fällt glatt zu zwei Seiten über ihren Kopf hinab bis zum Kinn; Aber vor allem sind es die Augen, diese großen Augen, die beeindrucken. Es ist das was in diesen Augen ist, dieser Blick der etwas durchdringend Ehrliches und Wahrhaftiges hat. Ein Blick der voller Stärke ist und voller Verletzlichkeit, der einen zu streicheln scheint, wenn man von ihm abgetastet wird. Ein Blick aber auch, der scharf und hart sein und die Luft im Raum in zwei Hälften teilen kann. Eine starke Innerlichkeit liegt in diesem Blick, oft umweht mit einem Hauch von Traurigkeit. Es ist dieses Glänzen, das einen fasziniert und gefangenimmt wenn man sie ansieht - das vor allem.
Da wird sie stehen und warten, und ich werde sie sehen. Sie wird mir auffallen, sofort, wegen dieser Augen. Im Gewirr von vierundzwanzig Stimmen kann ich ihre Stimme noch nicht hören, denn dazu müsste ich näher herankommen, und das wage ich nicht, noch nicht. Immer noch entdecke ich keinen den ich kenne, niemanden der mit mir vorgesprochen hat. Ich lächle, nicke freundlich zu, tue, als würde ich dazu gehören, aber ich gehöre nicht dazu. Ich fühle mich wahnsinnig unsicher, und mein Blick schweift unstet umher. Da taucht sie neben mir auf, die Rothaarige; Sie spricht kein Wort. Ein großgewachsener, grinsender, sich feminin bewegender Mann mit glatter Stimme, schlängelt durch die Menge. Geht die Treppen zur Eingangstür hinauf und dreht den Schlüssel im Schloss. Wir strömen hinein.
Einen Tag später, werde ich im Raum über dem Tanzsaal sitzen, einer kleinen länglichen Kammer, mit Parkettboden, Fensterscharten aus Milchglas auf der Einen und großen, ewig klemmenden Fenstern auf der anderen Seite, die zum Hinterhof zeigen Am oberen Ende des Raumes, der Tür gegenüber, steht ein schwarzes Klavier, ein schlecht gestimmter Klimperkasten, der unseren schlecht gestimmten Chorgesang begleiten wird. Ich gehöre zu den zwei Leuten, die, zu früh, schon dort Platz genommen haben, auf diesen Hockern. Nummer drei und vier, sind die Blonde vom Vortag und das Mädchen mit dem roten Haar. Sie setzen sich mir gegenüber. Die Blonde führt das Wort, die mit dem roten Haar, deren Namen ich in wenigen Minuten zum ersten Mal hören werde, wenn unsere Gesangsdozentin die Namensliste abhakt, schweigt noch. Scheint zurückhaltend, reserviert, so als traute sie sich noch nicht so ganz, ungezwungen und offen zu sein; ich weiß sehr genau wie sich das anfühlt. Ich kann ihre Schüchternheit im Raum spüren. Ich bemerke eine große Ernsthaftigkeit an ihr, eine verborgene, aber nicht unsichtbare, Aufregung darüber was wohl gleich kommen mag. Sie schließt sich der leichten Skepsis, der tumben Blonden an, die über die Hinterhof -Schule meckert, ohne zu ahnen wie recht sie noch haben wird. Bei dieser Gelegenheit höre ich zum ersten Mal bewusst ihre Stimme, diese klare, deutliche, Stimme, mit einem Akzent dessen Charme ich mich nicht entziehen kann. Mit dem "ck" im Rachenraum und dem "B" statt dem "P". Südtiroler Akzent. Er wird für mich immer mit ihrem Gesicht verbunden sein, und mit der Art wie sie ihn spricht.
Mehrere Wochen wird es noch dauern, bis das Mädchen mit dem roten Haar und ich, uns annähern; das Eis, eine dünne, kaum gefrorene Schicht, man könnte auch annehmen, man habe sie sich nur eingebildet, wird schmelzen. Wir werden eine schauspielerische Übung machen. In einem länglichen Raum, in der heruntergekommenen Schule, im Innenhof eines sehr schlechten Viertels nahe dem Hauptbahnhof. Einem Raum mit Fenstern zur Straße, an denen ich einen Monat vorher vorbeigeschlendert sein werde, um zum ersten Mal um die Ecke zu biegen. Die Übung besteht darin einen prominenten Künstler aus der Musikszene nachzuahmen, mit Playback und möglichst exakt imitiert. Es ist eine jener Übungen des oberflächlichen Amerikaners der die Brotkrumen unter dem Tisch Stanislawski aufgekehrt und wiederverwertet hat. Ich, der Cineast, der Exzentriker, der Verletzliche, setze auf volles Risiko, stelle mir absichtlich eine Aufgabe, die ich nicht schaffen kann. Ich nehme mir vor Gene Kellys "Singen' In Tue Rain" nachtzutanzen und nachzusingen. Ohne es zu wissen, treffe ich damit ins Schwarze bei der Frau mit den roten Haaren. Weil ich ihren Lieblingskünstler nachahme, in einem ihrer Lieblingsmusicals. Ich habe, ohne es zu wissen, ihr Terrain betreten und wir entdecken eine gemeinsame Begeisterung für alte Filme und Musicals. Ich freue mich, dass jemand der am 14. Januar 1978 geboren, aus dem Leib einer schreienden, schweißnassen, Frau gepresst wurde, noch weiß wer Gene Kelly war. Ich werde nie ihre Begeisterung vergessen, als sie feststellt wen ich nachmache. Ich beschließe mutig zu sein, und werfe mich völlig hinein - nein nicht völlig, das sieht nur so aus; die dazu erforderliche Lockerheit muss ich noch entdecken. Ich bemühe mich die Schritte so ähnlich nachzuahmen, unternehme einen jämmerlichen Versuch Charme auszustrahlen, vollführe schlecht koordinierte Bewegungen mit einem Regenschrim,und bin alles andere als Lippensynchron. Irgendwann höre ich keine Musik mehr. Es ist zu Ende. Schweißgebadet, zitternd, von einem gewaltigen Adrenalinstoß noch berauscht, drehe ich mich um. Applaus. Ich sauge ihn auf, auch wenn er nicht echt ist, weil er überwiegend von Leuten kommt, die gar nicht wissen warum sie klatschen. Die rothaarige junge Frau, sitzt rechts vorne und lächelt. Sie trägt eine ihrer farbigen Sonnenbrillen, die ihr eine reife Ernsthaftigkeit verleihen, die von Manchen, die nichts in diesen Augen sehen können oder wollen, als Kälte oder distanzierte Arroganz fehlgedeutet wird. Sie sitzt da und lächelt aufmunternd, mehr der Hauch eines Lächelns als ein Lächeln selbst. Sie weiß warum sie klatscht. Auch die Dozentin lächelt. Zu diesem Zeitpunkt glaube ich noch, dass sie es gut mit mir meint; Die Dozentin mit ihrem starken Österreichischen Akzent, ihrem eingefallenen aufgezehrten, verbrauchten Gesicht und ihrem eingefallenen, verzehrten, verbrauchten Leben, die in mir ein psychologisches Spielzeug sieht, ein Experiment, einen Quasimodo den man bekehren und retten kann. Sogar ihn; sie lebt in der Einbildung genau zu wissen wer ich bin, und wie ich bin. Und wird bis zum heutigen Tag glauben, dass ich den Weg nicht gehen werde. Es wird eine Lüge sein. Ich werde ihn gehen, weil es mein gottverdammter Weg ist, und er gehört mir.
Viele Monate später, in einer Stadt an der Grenze zu Österreich, werde ich diese Worte, jedenfalls Ähnliche, zu der jungen Frau mit den roten Haaren sagen, als ich um drei Uhr nachts, nach einer Geburtstagsfeier durchtanzt in einer Disco, aus dem Auto steige, das ihre Mitbewohnerin fährt. Ich werde es der jungen Frau, ich werde sie dann schon liebevoll Lieblingssüdtirolerin nennen, sagen um sie zu trösten. Von ihrem Pfad der Selbstbestrafung abzubringen. Ich sage zu ihr, dass es auch ihr Weg ist. Dass ihre Zweifel keinen Sinn haben, und keine Gegenwehr. Weil der Weg schon vor ihr da war, und einen Wegweiser hat, der ihren Namen trägt.
Ich sage es, obwohl meine Zunge schon Spuren des Alkohols zeigend, träge geworden ist. Und ich hoffe, dass sie verstanden hat. Hoffe, dass die bohrenden, nagenden Zweifel, das flaue Gefühl in der Magengegend, die unbestimmte leichte Traurigkeit, die sie sich heute aus ihrem Leib, ihrer Seele getanzt hat, nicht mehr wiederkommen werden. Nicht diese Nacht. Und dass das matte Strahlen in ihrem erschöpften Gesicht bleiben möge. Bleiben, bis in ihre Träume hinein. So frei und so ungezwungen wie an diesem Abend habe ich sie selten erlebt. Einmal, wie sonst nie, hat sie sie einen über den Durst getrunken. Ein Glas Rotwein zuviel. Oder gerade viel genug, um die Klammern, die tausend Schlösser um ihre Seele heimlich aufzuschließen. Verstohlen zuerst, dann bestimmt, gleitet langsam ihr Korsett aus "Ich darf nicht" und "Ich kann nicht" an ihrem Leib hinunter, und irgendwann, in einem Gefühl, dass doch, an einem Tag wie heute alles egal ist, die Konvention ungültig, und alles außer einem Schwipps unzulässig ist, sprengt sie die letzten Reste ihres Panzers fort. Für diesen einen Abend. Ich werde dieses Bild nie wieder vergessen, wie sie, die junge Rothaarige und ihre Mitbewohnerin aus dem Allgäu, und ich, der schüchterne , scheue Einzelgänger, alle drei betrunken durch die Nacht laufen. Eingehakt über den dunklen, schwarzen Asphalt rennend, mitten auf der Fahrbahn. Johlend, jauchzend, vor Freude schreiend. Die pure Lust am Augenblick, die pure Lust an der Geschwindigkeit. Auch wenn uns allen dreien fast die Beine wegknicken. Die pure Lust am Schweiß, der den Körper hinabläuft, die pure Lust am eigenen Überdruss, an der Gemeinsamkeit, am Sein. Unbedacht und kindisch sein, einfach so, nicht über die nächsten fünf Sekunden hinausdenken, sich wegtreiben lassen mit den beiden Anderen - das ist, was den Zauber dieser Situation ausmacht. Drei kichernde, hemmungslos alberne und hemmungslos betrunkene Gestalten, die auf einer menschenleeren Straße entlanglaufen, bis die Lungen aussetzen. Im matten Widerschein der Straßenlaternen. In der Dunkelheit der tiefen Nacht, aus der die Bäume gespenstisch aufragen, wie verknorpelte lebende Wesen. Ich sehe, selber atemlos, wie die junge Rothaarige völlig ausgelassen, so hingegeben, wie ich sie noch niemals erlebt habe, sich losreißt, jubelnd herumläuft, kichernd wie ein pubertierender Backfisch, und ins Laub eines Baumes hineinrauscht. Sehe wie sie sich bückt, das Laub in ihre Armbeuge rauft, alles wolle sie sagen "meins, alles meins" um es dann über den Kopf zu heben und mit einem glückseligen Glucksen auf sich selbst herabregnen zu lassen. Ich könnte weinen wenn ich sie so sehe, nicht weil sie so ist, heute, sondern weil sie sonst nie so ist.... Ich sehe wie sie sich an einen Baum wirft, als wolle sie den ganzen dicken, lieben Papa Baum umarmen, sich dann lässig um ihn herumschlingt, und keck auf der anderen Seite wieder hervorlugt. In ihren Augen ein Leuchten vollkommenen Glücks, als wolle sie weinen und lachen, so laut schreien dass die ganze Welt es hört und für immer schweigen zugleich. Lächelnd sehe ich ihr nach, wie sie, so ausgelassen herumtollend und tobend, wie es sonst nur Kinder vermögen, in tiefer Nacht durch die menschenleeren Straßen der Kleinstadt tanzt, während ihr Atem in der Luft zu Rauch wird, vor Kälte. Im Licht des Mondes, sehe ich ihren schwarzen grotesken Schatten, noch lange, als sie schon um die Ecke gebogen ist.
Aber dieser Abend liegt noch in einer unbekannten Zukunft, jetzt, als ich im Nieselregen auf den Treppenstufen vor dem Haupteingang meiner künftigen Schauspielschule sitze, die ich in einer halben Stunde zum ersten Mal betreten werde.
Ich werde mich später sehr gut an jene letzten Monate in der Großstadt, in meinem Hinterhof mit der abblätternden Fassade und den vergitterten Fenstern, erinnern. Ich werde mich erinnern an einen Abend in der Großstadt, an dem einige von uns, darunter auch die junge Frau mit den roten Haaren, in einem großen Theater ein aufwendiges Musical besuchen. Aus lerntechnischen Gründen, da wir in Jazz Dance, eine Choreographie daraus tanzen sollen, im guten alten Bob Fosse Stil. An jenem Abend, stehen wir im Foyer eines berühmten Theaterhauses. Warten an der Kasse auf die später ausgegebenen, billigen Studentenkarten. Kurz ergibt sich ein Gespräch, über unsere momentane schulische Situation. Die Rothaarige sagt Etwas, das in mir haften bleibt. Sagt es, während sie die Brille putzt, die sie an jenem Abend trägt. Wenn unser Lieblingsdozent - wie befürchtet - von der Schule ginge, würde sie auch gehen, meint sie. Das ist keine auf Antwort hoffende Frage im Mantel einer Behauptung. Es ist eine Verkündigung. Es gibt mir einen Stich. In Gedanken füge ich, einem plötzlichen Impuls folgend, hinzu, dass, wo immer sie hingehen wird, ich auch hingehen werde. Weil ich sie gerne mag, und weil sie das interessanteste Talent ist, dass mir bislang über den Weg gelaufen ist. Ich will wissen was aus diesem Menschen wird. Viele Monate, nachdem ich zum ersten Mal um die Ecke des verfallenen Altbaus gebogen bin, um zu der kleinen Schule im Hinterhof zu gelangen, werde ich in einer anderen Stadt, einen anderen Schulweg beschreiten. Einen anstrengenderen Weg, denn er geht bergauf. Auf einen Hügel der die ganze Stadt überragt. Ich werde an diesen Tag denken, wenn ich nachts auf dem nach Regen morastigen, schlammigen mit Steinen "gepflasterten" Feldweg der sich durch die Burghöfe schlängelt, nach Hause gehe, während die blinkenden Lichter der kleinen Stadt unter mir ,über die Brüstung der Burgwehr, die von flackernden Öllaternen in diffuses Licht getaucht ist, heraufschimmern. Klein und bedeutungslos. Bis zum alles entscheidenden Forum, der Semesterabschlußkritik in der man in offener Runde bewertet wird, werde ich keinem je sagen, dass man Zweifel gehabt hat, im Bezug auf mich, Risiken gesehen hat, ein Scheitern am Ende des ersten Semesters für nicht ausgeschlossen gehalten hat. Weil ich nicht möchte dass ich selbst, permanent daran denke. Dennoch werden diese Bedenken der Schulleitung beim Forum wie weggeblasen sein, es wird nicht einmal mehr angesprochen;sicher, das Forum, in dem man nach sechs Monaten die Ergebnisse der eliminatorischen Prüfung erhält, ist knallhart und teilweise unnötig brutal. Jeder von uns Studenten erhält in einer unendlich langsam dahinschreitenden Ewigkeit ein sehr ausführliches Feedback, in dem einfach alles beurteilt wird, öffentlich, alle Mängel werden ans Licht gezerrt.Nie werde ich die Spannung dieses Abends vergessen.
Ich sitze auf meinem Stuhl und habe ein flaues Gefühl im Magen, als würden sich tausend Schmetterlingslarven dort winden und schlüpfen. Nasser, kalter Schweiß benetzt meine Haut, meine Beine zittern auffällig unter dem Tisch, meine Hände sind völlig taub, ich kann den roten Kugelschreiber in meiner Hand kaum spüren und fast nicht mehr schreiben. Es scheint ein nicht enden wollender Alptraum zu sein. Der Name meiner Lieblingssüdtirolerin wird aufgerufen. Ich schrecke auf, werfe einen leicht gehetzten Blick zu ihr, ihre Augen sind irgendwie glasig, und nach außen wirkt sie gefasst, aber ich kann sehen, empfinden, dass sie, kreidebleich, innerlich eine Scheißangst hat. Dass in ihr Gedanken kreisen, was sie wohl tun würde wenn sie hinausgeworfen würde. Und sie fragt sich wie sie reagieren wird, falls man ihr gleich sagen wird, dass man sich von ihr trennen will. Ich kann sie förmlich Angst haben sehen. Ich höre wie man die Kritikpunkte vorträgt, einen nach dem anderen, ein Dozent nach dem Anderen, ungefiltert und unkommentiert. Manchmal scheint es als würde man ihr aufmunternd auf die Schulter klopfen, mal als würde man ihr einen heftigen Klaps auf den Hintern geben; vieles stimmt, manches nicht. Sie sagt nichts, sondern nimmt alles hin ohne lang zu diskutieren; Ich weiß, dass einige Brocken so groß sind, dass sie sie kaum schlucken kann, ich weiß dass sie einige Wahrheiten jetzt noch nicht annehmen kann, weil sie zu unmittelbar sind, und trotzdem kann der Hagel aus unangenehmen Tatsachen gewürzt mit einer Prise Lob, sie nicht brechen. Da ist von menschlicher, aber gerechter Härte die Rede. Da ist auch von Aggressivität im Spiel die Rede und Schwierigkeiten mit Partnern zu arbeiten. Viele dieser herabregnenden Kritikpunkte, haben wohl nur einen einzigen Grund: Einige Dozenten haben die, über die sie urteilen, niemals richtig kennen gelernt, haben nur an der Oberfläche gekratzt, daher viel, zu viel, missverstanden. Vielleicht wird sie, ein Stück weit, ihr eigener Schatzgräber sein müssen.
Ich schweife in Gedanken ab zu einer Probe einige Wochen zuvor…..Es ist eine Generalprobe für eine Lesung philosophischer Texte. Etwa zwei Wochen Inszenierung gehen dieser Probe voraus, die Texte erstrecken sich von Kafka über Borgéz, Daniil Charms und Nikolaj Gogol bis hin zu Jean - Paul Sartre. Sie, die Rothaarige, hat den schwierigsten Stoff, völlig abstrakt, völlig existenzialistisch, völlig entfernt von ihrer eigenen Lebensrealität, völlig Sartre. Jeder spielt seine Solonummer durch, wird vom Professor korrigiert, verbessert und verwirrt. Während die Anderen spielen, blicke ich ab und zu zu meiner Lieblingssüdtirolerin hinüber. Sie sitzt im Schatten, fast völlig verdeckt von der Holzsäule eines uralten Himmelbettes, und ich hoffe inständig, dass diese Platzierung kein böses Omen ist. Sie sitzt dort auf ihrem Stuhl, in ihrem langen schwarzen Rock, ihrer hellweißen Bluse mit lose geknoteter Krawatte und hochhackigen Schuhen die ein deutliches Geräusch auf dem Boden hinterlassen. Ihre Finger spielen jetzt an der roten Krawatte herum, und ich finde spontan, dass sie in diesem Kostüm, ihr selbst sagt es gar nicht zu, wunderschön aussieht. Ich weiß dass sie noch ein Einzelkämpfer ist, der alles immer ohne Hilfe schaffen will, weil sie es nicht anders kennt. Weil sie über Jahre hinweg so geworden ist. Vielleicht hat sie sich einfach verloren, ein wenig, in der Distanz zwischen den Menschen die sie lieben Sie hat sie sich in dieser Distanz zwischen den Menschen zu einer Alleingängerin entwickelt, die sich in ihre Sicherheit zurückzieht. Die dickköpfig, unnachgiebig, stur, geworden ist, weil sie auch gelernt hat allein mit ihrer Meinung zu sein. Vielleicht, hat sie deshalb nie zugelassen sich selbst völlig zu vertrauen, weil Vertrauen Nahrung braucht die man allein, abgeschottet in einem Vakuum, nicht bekommen kann Nach diesem Monolog ist sie dran.Ich weiß um den inneren Aufruhr in ihr, ich weiß warum sie mit ihren Fingern sachte auf der Platte des kleinen viktorianischen Tischchens trommelt, warum sie so amorph, so flüchtig, so scheu wirkt. Gleichzeitig kann ich mitfühlen, als der Zwischenmonolog sich zum Ende neigt, wie ihr Puls ansteigt, langsam , ganz langsam zuerst, dann schneller, immer schneller, dann jagend, rasend. Ihr Atem geht stoßweise, aber sie unterdrückt es. Jetzt, jetzt gleich muss es kommen, muss es soweit sein - sie stößt sich von ihrem Stuhl ab, in den Raum hinein, wie jemand, der in eiskaltes Wasser springt, damit der Schock, der Schreck, die Kälte schneller vorübergehen. Sie spielt. Sie wirkt hochpräsent, ihre Stimme ist klar, ihre Augen blicken aufrecht ins Publikum. Und doch ist da eine gut versteckte Unsicherheit zu spüren, Etwas das ihre Hände kaum wahrnehmbar zittern, die Handinnenflächen feucht werden, ihr Gesicht bleicher als gewöhnlich sein lässt. Die erste Unterbrechung. Sie setzt um was verlangt wird, und spielt weiter, versetzt sich wieder tief ins Innere der Figur, in das sie, dieses Mal, aber nicht wirklich hineingelangt. Jetzt wird es schon hektisch auf ihrem Gesicht, ihr Herz schlägt schneller. Zweite Unterbrechung, Wiederholung. Sie wiederholt, versucht wieder in die Haut der Frau zu schlüpfen die sie spielen will, eine Haut, die in den anderen Proben saß wie angegossen, aber schon wieder folgt eine Unterbrechung. Sie geht noch ein Stück weiter im Text, und innerlich fängt alles an zu rasen, sich zu überschlagen. Sie versucht schneller zu sein als sonst, damit sie in die Figur kommt, tief in die Seele der Figur, bevor sie wieder herausgerissen werden kann. Aber wieder wird sie unterbrochen, und soll an einer früheren Stelle nochmals einsetzen. Sie versucht, fast gewaltsam, durchaus geschickt, nur in ihrer Versagensangst zu hoch dosiert, sich förmlich ins Innenleben der darzustellenden Frau zu quetschen. Da schallt schon wieder die Stimme durch den Raum - wieder unterbrechen, wieder wiederholen. Und jetzt ist es um sie geschehen. Jetzt fängt die Stimme in ihr wieder damit an ihr zu sagen, dass sie nicht gut genug sei, dass sie deshalb dauernd unterbrochen werde, und dass alle sehen können, wie sie, die Hochgelobte, scheitere. Wieder wird unterbrochen. Der Professor bemängelt die Hörbarkeit ihrer Stimme, ich verstehe nicht weshalb. Von allen Leuten im Raum ist sie die Einzige die gut hörbar spricht. Ich werde unruhig, ich kann deutlich den Abgrund sehen, auf dem sie herumtänzelt, und mit angsterfüllten Augen in die Tiefe blickt, während sie verzweifelt versucht einen Zipfel der Figur zu erhaschen. Wieder Abbruch. Der Professor ist noch unzufrieden mit der Aussprache. Jetzt ist sie wieder ein Mädchen im Scheinwerferlicht, wenn sie könnte würde sie jetzt fortlaufen. Ich würde am liebsten aufstehen und sie beruhigen. Panik steigt in ihr auf, vermischt mit Scham und Verbitterung. "Du kannst das nicht", ruft die Stimme, "du kannst das nicht", immer wider spöttisch "du kannst das nicht "Ich fühle wie ihre Schale anfängt Sprünge zu bekommen. Meine Hände verkrampfen sich in derart schmerzhafter Weise, dass ich mir selbst auf die Lippe beiße. Gleich wird sie ihre Figur erreichen, langsam gleitet sie in ihre Silhouette hinein, langsam verschmilzt sie mit dem was sie spielt. Es ist zum Greifen nah. Sie muss es nur noch berühren mit den Spitzen ihrer Finger. Wieder Abbruch, wieder Wiederholung. Sie prallt zurück als wäre sie gegen eine Mauer gelaufen, über die sie nicht hinwegsteigen kann. Ihre Gesichtszüge lösen auf, sie macht einen Schritt vorwärts als wolle sie tatsächlich weglaufen, weglaufen vor diesem Theater, vor dieser Probe, vor diesen Leuten, vor der Stimme des Professors, vor sich selbst, aber sie tut es nicht. Sie krümmt sich zusammen, steigt aus der Figur aus, ruckartig, wie angewidert, eine Entschuldigung hervorquetschend. Beschämt und gedemütigt. Aber sie, die Rothaarige, kann und will nicht aufgeben, gewährt sich keine Schonung. Setzt, kurz darauf, immer noch aufgewühlt, immer noch der Stimme verfallen, die ihr ihr unmittelbar bevorstehendes Versagen Ohr säuselt, von neuem an. Abbruch. Wiederholung. Sie steigt zum zweiten Mal aus, unterdrückt aufkommende Tränen, kreidebleich und schweißüberströmt. Sie sagt dass sie nicht mehr könne, geht aus dem Licht, schlägt erneut die Hände vors Gesicht, ihre Stimme bebt schon, als sie spricht. Sie setzt ein weiteres Mal ein, und diesmal spielt sie bis zum Ende durch, pflichtbewusst, verbissen fast. Denn hinter diesen Augen, ist gerade eine Welt eingestürzt.
Sie setzt sich wieder auf ihren Stuhl im Schatten, und schreibt Feedback in ihren Klarsichtordner, versucht es jedenfalls. Versucht auf die Art die Fassade der Unverletzlichen aufrecht zu erhalten. Sie sitzt über das Papier gebeugt , starrt wie hypnotisiert auf das Blatt, dann plötzlich, schlägt sie den Ordner zu, schiebt ihn ein, steht unvermittelt auf, durchschreitet den Raum in starker Hast, lässt die Tür zur Umkleide hinter sich ins Schloss fallen. Und was mache ich? Ich sitze da und warte darauf in etwa einer Stunde eine Kerze anzuzünden, für die letzte Darstellerin. Kann das sein? Kann es sein, dass ich hier auf meinen Stuhl gebannt sitze, während dort drin ein für mich kostbarer Mensch, ganz allein ist mit seiner Traurigkeit, seiner Selbstverachtung? Ich spiele mit dem Streichholz in meiner Tasche. Eigentlich muss ich noch warten. Eigentlich. Ich zerdrücke fast dieses Streichholz. Ich blicke hin und her zwischen dem Bühnenraum und der Tür zur Umkleide. Soll ich - soll ich nicht? Soll ich - soll ich nicht? Schließlich komme ich zu dem Entschluss das Theater wichtig, aber Menschen viel wichtiger sind. Ich hole das verdammte Streichholz aus seiner Schachtel und zünde, kurzentschlossen, die Kerze sofort an. Natürlich weiß ich, dass mich alle jetzt ansehen, sich genau denken können, was ich vorhabe, weil ich direkt durch das Bild laufen muss. Ich öffne die Tür zur Umkleide. Ich gehe hinein. Als ich die Tür im Korridor hinter mir schließe, höre ich die Worte derjenigen die gerade spielt nur noch undeutlich. Eine beruhigende Stille umfängt mich. Nur aus dem hinteren Raum, dort wo die Spiegel sind, höre ich Geräusche. Ich gehe voran, mit schnell klopfendem Herzen. Was wenn sie, die junge Frau mit dem roten Haar, jetzt allein sein will. Muss ich das dann nicht respektieren? Und was sage ich ihr bloß? Ich sehe, während ich gehe, an mir hinab und bemerke, dass ich das zur Hälfte abgebrannte Streichholz immer noch in meiner Hand halte. Der perfekte Aufhänger. Ich schäme mich gleichzeitig, weil ich so etwas wie einen Aufhänger brauche. Vorsichtig trete ich in den Umkleideraum. Ich sehe, wie die junge Rothaarige hastig packt, ihr Kostüm auszieht. Gerade hält sie die rote Krawatte in den Händen die immer noch zittern. Ich will etwas sagen - und weiß nicht was. Ich stehe da mit meinem Streichholz, nehme wahr wie sie kurz aufblickt und sofort wieder weg, als wäre es ihr peinlich. Mit meinem Streichholz gehe ich murmelnd in den Nebenraum an ein Waschbecken, und verfluche meine gottverdammte Schüchternheit. Warum, frage ich mich, kann ich ihr nicht sagen, was ich fühle. Warum muss ich hier im Nebenraum stehen, und Wasser über ein lange ausgekühltes Streichholz laufen lassen?Kurzentschlossen werfe ich das dünne Ding weg, und gehe wieder zu ihr. Diesmal komme ich nahe, ich will ihr in die Augen sehen, damit sie mir glaubt. Mit leiser Stimme frage ich vorsichtig wie es ihr geht, während sie immer noch packt. Ich bin wieder fasziniert von diesen unglaublichen Augen, die es vor vielen Monaten, in der Hinterhof - Schule geschafft haben hinter meine Fassade zu sehen; in diese Augen blicke ich jetzt auch und sehe, dass sie geweint haben. Ich überlege nicht lange was ich sage, sondern rede einfach drauflos. Ich sage ihr all das, was mich beschäftigt hat, seit ich hereingekommen bin. Und sie lässt jetzt auch alles aus sich heraus, lässt einfach den Schmerz heraussprudeln. Sagt, dass sie sich für diesen Beruf für ungeeignet hält, für völlig ungeeignet. Sie sagt das in vollstem Ernst und das ist was mich so maßlos erschreckt. Ich streiche mit meiner Hand, in einer leicht unbeholfenen Geste, über ihre Wange, die jetzt von Tränen feucht ist. Sie fragt, wem sie eigentlich etwas vormache, das sei nun einmal kein Beruf für sie, und es sei besser zur richtigen Zeit aufzuhören.
Ich widerspreche energisch. Sagt, dass sie am wenigsten das Recht hätte, so etwas von sich zu behaupten. Sie vertauscht die weiße Bluse mit einem anderen Hemd, und meint, mit einer todtraurigen, Stimme, nein nein, sie sei eben keine Schauspielerin, werde nie eine werden, und sie würde alles an den Nagel hängen und Oberstudienrätin werden. Ich habe plötzlich Angst, dass sie sich heute Abend noch ins Auto setzt und nach der Großstadt zurückfährt. Den Teufel werde sie tun, entgegne ich, sie habe verdammt noch mal eine Verantwortung gegenüber ihrem Talent. Aber, meint sie, in eine Jeanshose, Modell 70er Jahre schlüpfend, sie traue sich das alles nicht zu, allein. Ich führe meinen Finger unter ihr Kinn und hebe es hoch. Dann sage ich ihr, dass sie nicht allein sei. Sie sieht mir in die Augen. Dann kann ich eine kleine Träne sehen, die, kullernd ihre Wange hinabrollt.
Wochen später bei jenem Forum im Hochsommer, an dem das jüngste Gericht tagt, reiße ich mich selbst aus meinen Gedanken. Das abschließende Urteil naht, die Entscheidung, die ihr künftiges Leben bestimmen wird, und auch das ihrer Familie, ihrer Freunde, ihrer Kollegen und irgendwie meines. Ich spüre einen Kloß im Hals, als der Professor zum Ende kommt, und mein Magen wird von einer unangenehmen Leichtigkeit erfasst, als würde er abheben. Das Blut trommelt in einförmigem Rhythmus gegen meine Schläfen, und mein Mund formt stumm, ein Wort das mit einem "a" anfängt. Als könnte ich den Richter dazu zwingen, so, es mir einfach nachzusprechen. Ich sehe wie die Muskeln ihres Gesichtes sich leicht verspannen, sehe wie ihr dunkler Stift in der rechten Hand zittert, kaum merklich. Die Stimme des Professors, in seinem abgehackt klingenden Akzent, sagt "Aufgenommen". Eine tonnenschwere Last fällt von ihr ab, man kann es sehen, als hätte sie einen Felsen mit sich herumgeschleppt, und würde ihn jetzt den Abhang hinabrollen lassen, irgendwo in einem Gebirgstal in Südtirol. Ich atme auf. Heimlich schicke ich ein Dankgebet an den taubstummen Voyeur über mir, danke ihm, dass er einmal, wenigstens einmal, aus seiner Lethargie erwacht ist. Manchmal denke ich, Gott muss multiple Sklerose haben. Aber nicht heute. Ich schreibe, mit zitternden Händen wiederum, aber diesmal vor Freude, auf meinen karierten Ringbuchblock, wo ich eine Namensliste angelegt habe, hinter den Namen meiner Lieblingssüdtirolerin das Wort "aufgenommen", ich unterstreiche es dreimal.Ich blicke auf, sehe zu ihr hinüber und lächle sie an. Dann beuge mich vor, berühre sie an ihrer Schulter, und sehe was auf der letzten Seite ihrer Notizen steht. Das Wort "aufgenommen" - und auch sie hat dreimal unterstrichen.
Die Zeiger meiner Uhr schleppen sich sehr langsam dahin. Ich sitze auf den Treppenstufen zum Eingang und warte darauf, dass die Leute, die ich von meinem Vorsprechen kenne, von denen ich mich per Handschlag verabschiedet habe, endlich kommen. Jetzt, es nieselt leicht, stehe ich doch auf. Mein Hintern ist eingeschlafen. Ich gehe ein paar Schritte auf dem feuchten Asphalt. Der Himmel ist bewölkt, aber die Wolken gleichen mehr Schwaden. Der Lärm der Großsstadt - das Schreien von Kindern, das Hupen, das Abbremsen an der Kreuzung, Hunderte von Schritten auf dem Asphalt, das Hereinrauschen der Züge in den nahen Hauptbahnhof, die Polizeisirenen - dringt mir ans Ohr, wie ein leiser Verdacht. Und ich stehe allein im Hinterhof. Wo sind die Anderen? Der Minutenzeiger kriecht über die Skala. Ich bin unruhig, weil ich so gar nicht weiß was mich erwartet. Ich male mir das Schlimmste aus. Fechten vielleicht gleich zu Beginn. Oder Aikkido. Oder Tanzen - vor Tanzen habe ich ganz besonders Angst. Solche Dinge, wie dieses Warten auf Godot, können auch nur mir passieren. Ich bin der geborene Pechvogel. Plötzlich höre ich nahe Stimmen, Frauenstimmen. Zwei junge Frauen spazieren kichernd auf mich zu. Ich grüße freundlich, aber halte mich abseits. Ich kenne die beiden schließlich nicht. Aha, jetzt sind wir schon drei. Immer mehr fremde Jugendliche strömen hierher, einige davon genauso verwirrt wie ich. Eine Blonde mit Pagenkopf und ein Mädchen mit roten Haaren biegen schwatzend um die Ecke. Ich stromere zwischen den kleinen Grüppchen herum, obwohl ich mich ausgeschlossen und fremd fühle. Die Leute hier kennen sich scheinbar zum Teil schon, und ich selbst würde mir eher die Zunge abbeißen als mich hineindrängen in eine Unterhaltung die besser ohne mich läuft. Wo sind denn nur die Leute, die ich kenne? Die können doch nicht alle noch etwas Besseres gefunden haben, denke ich mir. Hin und wieder rufe ich halbherzige Hallos zu, Leuten dich gar nicht kenne, streiche herum. Ich schaue mich um, merke wie mir langsam, ganz langsam, etwas mulmig wird. In diesem Moment wird es geschehen. Ich werde mich umdrehen und über meine Schulter sehen.Und dann werde ich Sie sehen. Ich werde sie ansehen.



Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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