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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der Stein des Anstoßes
© Maria-Luise Kleineberg
Den Stein der Weisen habe ich bis heute nicht gefunden. Noch immer quält mich seit Jahren die Frage nach einem Warum. Warum wurde ich gerettet? Warum sitze ich hier als alte Frau und schreibe mit Wehmut diese Zeilen? Meine Hand bebt und kraftlos lasse ich den Stift für die Momente der Erinnerung sinken. Ich schließe meine Augen und sehe das Bild meiner Kinderzeit.
Unser alter Wohnbus hat auf der Fahrt durch Griechenland über Stock und Stein seine Fahrtüchtigkeit eingebüßt. Meine Eltern streiten sich Tag für Tag zwischen Autoreparatur und gegrillten Fischmahlzeiten am Strand inmitten kalkweißer Felsen. Mein Blick geht über die wuchtigen Steine. Hoch oben sehe ich auf einen von ihnen meinen Bruder Vincent stehen. Sein schulterlanges Haar leuchtet wie ein Weizenfeld in der Sonne. Die Wildheit eines Indianerhäuptlings spiegelt sich in seinen schwarzen Augen, die nach einem
fernen Ziel Ausschau halten. Zwischen seinen Händen hält er triumphal sein Lieblingsspielzeug. Pfeil und Bogen sind gespannt.
Aus dem Wohnwagen schrillt die Stimme meiner Mutter. Die Stimme meines Vaters dröhnt nicht weniger zornig. Sie streiten wieder. Kein Wunder, dass Vincent auf die Felsen geflüchtet ist. Dort droben kann er ihr Geschrei nicht hören. Gern würde ich zu ihm hoch klettern, aber die Eltern haben es verboten. Es sei zu gefährlich. Ich bewundere Vincent. Er ist mutig, stellt sich gegen Verbote und tut, was er will. Mama sagt, er sei ein wildes Kind. Ich bin kein wildes Kind. Papa sagt, ich sei sein braves Mädchen und
brave Mädchen klettern nicht auf Felsen. Also baue ich für Vincent eine Sandburg. Sehnsüchtig schaue ich zu ihm hinauf, meinem Bruder, meinem Held. Er scheint noch immer ein Ziel im Visier zu haben. Sein schmächtiger Körper ist gespannt wie sein Bogen. Im Wohnwagen ist es verdächtig still geworden. Nur ab und zu höre ich ein erschöpftes Stöhnen.
Meine Sandburg ist fast fertig und wirklich gut gelungen. Die schönste Muschel setze ich auf den Turm für Vincent und drehe mich um ihn zu rufen.
Ich erstarre. Ein riesiger Felsbrocken rast auf mich zu. Ich möchte fort laufen. meine Beine sind in Furcht gelähmt. Der Stein rollt immer näher. Ich schließe vor Angst ganz fest die Augen. Nur wenige Millimeter an mir vorbei spüre ich einen kühlen Luftstrom zwischen mir und dem Stein. Dann höre ich, wie das Ungetüm hinter mir ins Meer klatscht. Vorsichtig blinzele ich gegen die Sonne. Vincents Haar strahlt auf dem hellen Sand wie goldenes Engelshaar, mit dem Oma Zuhause an Weihnachten ihren Christbaum schmückt.
Vincent wird nie wieder Omas Christbaum sehen können. Er liegt vor mir leblos am Strand. Seine toten Augen blicken mich an, als wollte er grad seinen Pfeil auf mich abschießen.
Ich habe diesen Blick von Vincent nie in all den Jahren vergessen können. Der Felsblock hätte auch mich beinahe getötet. Bewegt schreibe ich diese Geschichte und wie damals spüre ich den Luftstrom zwischen mir und dem Stein. Ich fühle Vincents Pfeil zwischen mir und dem Felsen fliegen. Es war der Luftstrom seines Pfeils, den ich damals fühlte. Das weiß ich heute.
Dieses Wissen bringt mir keine Antwort auf meine Frage nach dem Warum. Ich habe nicht den Stein des Weisen gefunden. Was ich fand, ist der Stein des Anstoßes, der Vincent tötete und mich rettete. Es ist der Stein des Anstoßes, in der Tragödie das Wunder zu erkennen.
Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.