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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Gewiss
© Günter Nuth
Der Wind ist nicht so kalt in dieser Nacht. Das begrünte Flachdach auf dem Hochhaus ist trocken, als ich es vorsichtig betrete. Er steht an der Außenseite des Geländers und kann leichtfüßig seinen letzten Schritt gehen. Wenn er die Umklammerung seiner Hände aus dem Geländerrohr löst, wird er das Gewicht verlieren, was ihn noch gleich hält.
Ich sehe Dich von weitem. Habe keine Angst vor diesem Gespräch und Zeit, bis das Licht des Morgens die Scheinwerfer der Drehleitern ersetzt.
Ich gehe aus diesem Einsatz ohne ein schlechtes Gewissen. Es werden mich am Ende keine Spekulationen in meinen Gedankengängen quälen und keine Antworten oder Fragen über Moralvorstellungen belasten.
Du hast die Entscheidung getroffen: Du willst springen. Du hast das Recht, so zu denken und ich habe es zu akzeptieren. Ich nehme Dich ernst und gehe davon aus, dass Du springen wirst. Und dass ich es wahrscheinlich nicht verhindern kann. Wenn Du Dich für diesen Fall entscheidest, hast Du es für Dich getan.
Die Verhandlung, die Du mit mir führen möchtest, ist nicht fair. Es ist keine gleichwertige Diskussion. Du sitzt und stehst am "längeren Hebel". Die Rollen sind ungleich verteilt. Du kannst gleich unsere Fahrzeuge in alle Richtungen dirigieren, wirst vielleicht Bekannte und eine Partnerin anfordern, schickst die Polizei vom Dach und hältst tausend Zuschauer in Atem. Du kannst Geld verlangen, ein Mobiltelefon anfordern, von Nahestehenden eine erzwungene Liebe erwarten und Reportern ein Interview geben.
Wir werden Deine Forderungen - wenn möglich - erfüllen und Deine Erpressungen ertragen. Und weil es nicht fair ist, gibt es für mich am Einsatzende keine Zweifel und Vorwürfe.
Ich kann und werde Dir keine Zusagen geben, die nicht erfüllbar sind. Ich bleibe in unserem Gespräch ehrlich und werde Dir keine Hoffnung versprechen, dass Du als freie Person diese Einsatzstelle verlassen wirst. Die Polizei wird Dich einem Ärzteteam vorstellen, das Deine Verfassung überprüfen wird. Auch hier gibt es keine Zweifel. Nur die Offenheit, dass es sich am Ende des Einsatzes so ereignen wird oder Du den freien Weg nach unten gewählt hast.
Ich werde Dir nicht zu nahe treten. Annäherung ist Aufhebung Deiner Persönlichkeit. Meine Distanz ist begründet. Ich bin auf Abstand und mit Leinengeschirr so gesichert, dass Du mich nicht in die Tiefe mitnimmst. Ich kann Dir eine Zigarette zuwerfen, aber Dir nicht die Hand geben. Weil Deine Verhandlungsposition nicht fair ist!
Ich glaube nicht, dass es für Dich keinen Ausweg mehr gibt, so wie Du es beschreiben wirst. Ich kann Dir zuhören und mit Dir nach einer Lösung aus Deinem Dilemma zu suchen. Du bist der Experte für Deine Probleme und ich der Fachmann für die Gesprächsführung. Ich bleibe identisch, individuell, glaubwürdig und werde meinen Sprachschatz unverstellt benutzen. Ich versuche, Verneinungen zu vermeiden, um verständlicher für Dich zu sein. Mit meinen Geschichten und Lebenserfahrungen werde ich Dich nicht belasten. Deine
Gedanken zu äußern ist jetzt Dein Bedürfnis und hat Priorität.
Ich weiß nicht, ob Du unter Medikamenten argumentierst, ob Drogen oder Alkohol Dich im Moment benebeln. Ich weiß nicht, ob Du mit mir und den Einsatzkräften spielen willst, oder ob Du geistig verwirrt bist. Vielleicht stehst du unter Schock. Das sind so viele Beeinflussungsmöglichkeiten, die unser Gespräch erschweren können. Daher gehe ich wirklich davon aus, dass Du springen wirst. Ich kann es nicht verhindern. Jede Abweichung davon im Nachhinein ist positiver Einsatzerfolg.
Wenn Du Dich falsch bewegst und abrutschst, ist es Deine letzte Handlung und für die nur Du verantwortlich bist. Das gilt auch, wenn Du bei dieser Höhe unser Sprungpolster verfehlst.
Vielleicht gelingt es uns am Ende des Einsatzes, dass wir beide im Treppenraum nach unten gehen. Wenn du Dich fallen lässt, werde ich trotzdem ruhig schlafen, weil es Deine Entscheidung war, den anderen äußeren Weg zu wählen.
Und jetzt gehe ich langsam auf Dich zu. Ich werde Dich mit "Sie" anreden. Ich stelle mich vor, wir können über alles sprechen. Bin frei für mich und Dich.
Ich möchte ihn vergessen, denn er tat mir weh. Wir haben immer wieder diskutiert, noch einmal Lösungen gesucht. Ich möchte ihn vergessen, denn er tat mir weh. Wir haben die Bürde der Partnerschaft begriffen und den Leidensweg der Kinder benannt. Und jetzt möchte ich ihn vergessen, den Schrei, als er vom Hochhausrand in die Nacht sich einfach fallen ließ. Ab morgen… leben.
Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.