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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Vorhin habe ich noch mit ihr getanzt ...
© Birgit Beranek
Das schrille Quietschen der Bremsen des roten PKWs klingt noch deutlich in meinen Ohren nach. Ich habe weder gesehen, dass sie in der gleichen Straßenbahn wie ich gesessen, noch dass sie über die Straße gelaufen ist. Erst dieses unharmonische Geräusch und der dumpfe Aufprall ließen mich aufmerksam werden. Nun stehe ich hier, zwischen vielen Leuten, denen die Schaulustigkeit richtiggehend aus den Augen blitzt, und starre ebenfalls zu Boden. Der Fahrer des Unfallautos ringt die Hände, beteuert, dass er auf der
schneebedeckten Fahrbahn nicht habe bremsen können, doch dass hier jemand verletzt ist, kümmert ihn scheinbar gar nicht.
Ja, da liegt sie auf dem frisch gefallenen Schnee mit dem Gesicht schräg gegen den kalten Asphalt. Ich wundere mich, dass ich mich überhaupt an sie erinnern kann - an ihrem grauen, kurzen Rock habe ich sie wiedererkannt. Ihre Augen sind geschlossen, der Mund ist leicht geöffnet, das Weiß des Schnees färbt sich langsam rot. Sie tut mir zwar leid, aber ich bin mir sicher, dass ich den Vorfall in ein paar Stunden wieder vergessen haben werde. Eigentlich kenne ich sie kaum, doch was mich unter all den Schaulustigen
anhalten hat lassen, ist die Tatsache, dass ich vorhin noch mit ihr getanzt habe. Wie heißt sie noch einmal? Monika? Sandra? Andrea? Nein, das sind alles andere Mädchen.
Obwohl ich mit ihr seit drei Wochen mittwochabends in den gleichen Tanzkurs gehe, ist sie mir nie sonderlich aufgefallen - eine von vielen eben. Als sie heute nach der Tanzpause auf mich zugekommen ist, habe ich sie zuerst gänzlich übersehen, da sie recht unscheinbar ist - weder sonderlich hübsch noch hässlich - und mich nur widerwillig von meinen Freunden getrennt. "Warum ausgerechnet mit der?" dachte ich nicht gerade begeistert, doch dann nahm ich trotz allem ihre Hand und schon begann der Tanzlehrer
zu zählen - Cha Cha Cha. Sie stellte sich mir vor, ich nannte ihr ebenfalls meinen Namen, doch sonst ereignete sich nichts Besonderes. Das Übliche eben! "In welche Schule gehst du oder studierst du schon? Aha... Au, meine Füße! Da ist heute wieder mal ein Gedränge..." usw. Ich war an einem Gespräch eigentlich gar nicht interessiert gewesen, doch sie hat immer wieder etwas gesagt. Wenn ich genauer nachdenke, fällt mir ein, dass sie mit anderen Tanzpartnern danach kaum etwas geredet hat. Ja, irgendwie
hatte ich das Gefühl, als tanze sie gerne mit mir.
Später, wenn sie im Spital liegt und nichts und niemand sie aufwecken kann, werde ich von ihrer besten Freundin erfahren, dass sie bereits seit der ersten Tanzstunde in mich verknallt ist...
Ich sehe ihre geschlossenen Augen, ihr blasses Gesicht, die wirren blonden Haare, auf denen bereits viel Schnee liegt und ertappe mich bei dem Gedanken, dass sie doch hübsch ist. Warum ist mir das nicht schon früher aufgefallen? Obwohl ich eigentlich nach Hause gehen will, schaffe ich es nicht, mich umzudrehen und bleibe weiterhin mit dem Rest der Schaulustigen im Schneesturm stehen. Ein heftiger Windstoß treibt den feinen, körnigen Schnee in mein Gesicht; meine Augen beginnen zu tränen und ich muss blinzeln.
Sei nicht so blöd! schimpfe ich leise mit mir selbst. Du wirst jetzt schön brav nach Hause gehen und dich vor den Fernseher legen! Doch ich bleibe stehen... Der Schnee unter dem Kopf des Mädchens wird röter, die Blutlacke ist nun schon recht groß. Wie schwer sie wohl verletzt ist? Eine Gehirnerschütterung? Oder ein Schädelbasisbruch? Die Arme! Ich möchte nicht an ihrer Stelle sein!
Bereits in der Tanzstunde kommende Woche werde ich die Antworten bekommen. Dann werde ich erfahren, dass sie nicht nur letzteres, sondern auch etliche andere Brüche und innere Verletzungen hat und im Koma liegt...
Meine Finger sind bereits Eiszapfen, doch ich spüre kaum etwas davon. Ich merke nur, dass ich immerzu ihr Gesicht anstarren muss. Die geschlossenen Augen - Welche Augenfarbe hat sie bloß? Blau? Braun? Grün? Nein, ich weiß es nicht. Ich versuche abermals, mir unseren Dialog aus der Tanzstunde ins Gedächtnis zurückzurufen, doch mir fällt nur ein, dass sie leidlich gut getanzt hat. Ja, vor ca. 20 Minuten ist sie noch herumgehüpft und hat sich quietschvergnügt mit mir an einem Cha-Cha-Cha versucht, doch nun liegt
sie hier beim Gehsteig im Schnee, wie tot. Und je länger ich sie anstarre, desto mehr wird mir bewusst, dass sie anders als alle anderen Mädchen aus dem Tanzkurs ist - Wieso, weiß ich nicht, das Gefühl ist einfach da. Warum bin ich beim Tanzen nur so abweisend gewesen? Hätte ich doch versucht, mehr über sie herauszufinden...
Ihre Freundin wird mir später alles über sie erzählen, wenn wir gemeinsam ins Spital fahren, um sie zu besuchen. Ich werde hören, dass sie ihr bereits seit Wochen von mir vorgeschwärmt und sich bloß nicht getraut hat, mich zu fragen, ob ich eine Freundin habe. Ihre Hobbys sind dieselben wie meine: Schwimmen, Lesen und Musik.
Die Sirene eines Rettungswagens ertönt und die zuckenden Lichter lassen den heftig wirbelnden Schnee ebenfalls blau erscheinen. Bei der Halstestelle stehen bereits vier Straßenbahnen, zwei Rettungsmänner steigen mit einer Bahre aus und hieven sie in das Fahrzeug. Als sie mit einem lauten Knall die Türen schließen, gibt es mir einen Stich in der Brustgegend - "Liebe auf den letzten Blick" schießt es mir durch den Kopf und ich habe ein Gefühl, als würde ich demnächst losheulen, doch das habe ich das letzte
Mal mit sechs Jahren gemacht, also halte ich mich zurück.
Bei dem Spitalsbesuch mit ihrer Freundin werde ich sie zum Abschied auf die Wange küssen; der Kopf dick eingebunden, das blasse Gesicht ganz schmal.
Die Schaulustigen zerstreuen sich allmählich, die Straßenbahnen setzen sich wieder in Bewegung, der Unfallslenker beteuert ein letztes Mal seine Unschuld, dann wird es plötzlich still. Nicht einmal ein Auto fährt vorbei, nur mehr der rote Blutfleck ist da und natürlich auch ich. Ich stehe hier ganz allein mit Herzklopfen im Schneegestöber, sehe die tanzenden Schneeflocken, die nun dicker sind, und sehe doch nichts.
Etliche Tage später wird das Telefon läuten: Sie ist gestorben. Trotzdem werde ich es nicht schaffen, sie zu vergessen und noch lange daran zurückdenken, dass ich mit ihr getanzt habe, ohne zu wissen, dass sie danach bald diese Erde verlassen würde, und natürlich auch an den Schneesturm bei der Haltestelle.
Der Schnee fällt nun ganz dicht, hängt in meinen Haaren und Wimpern, während es rundherum vollkommen still ist. Werde ich wohl jemals wieder derselbe sein, wie der, der ich war, als ich vor zwei Stunden vergnügt zur Tanzschule losgefahren bin? Ich zucke mit den Schultern, doch niemand ist da, der diese Geste sehen könnte. Kurzentschlossen drehe ich mich um und gehe nach Hause.
Ein Blick in die Zukunft oder bloß Hirngespinste? Ich weiß es nicht. In solch einer Situation hat wohl jeder eigenartige Gedanken...
Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.