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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Auf in den Kampf, Torehehehero!
© Wera Arndt
An den Tag meines Eintritts in die Welt der Chefsekretärinnen erinnere ich mich so genau, als wenn es gestern gewesen wäre. Es war ein Freitag und die Personalchefin geleitete mich durch die langen, dunklen Flure des Giessener
Stadttheaters: "Herr Cinquetti ist noch in den Theaterferien, aber seine Assistentin ist da." Kurz vor Betreten des Intendanzsekretariats fügte sie
hinzu:
"Frau Lützenrath ist keine gewöhnliche Sekretärin." Ich nickte ehrfürchtig.
Meine neue Kollegin wartete schon auf uns. Sie war eine kleine, zierliche Frau in den Sechzigern, die auf einem schwarzen Ledersessel thronte. Tiefe Falten hatten sich in ihr Gesicht gegraben und ihr Pagenkopf schimmerte silbergrau. Auf der spitzen Nase klemmte eine halbe Brille. Ich wunderte mich. Das vorsintflutliche Gestell passte so gar nicht zu ihrer modisch durchgestylten Kleidung. Schon kurze Zeit später erkannte ich jedoch, dass ihr diese Brille großartige taktische Möglichkeiten eröffnete.
Ich richtete mir gerade mein Katzentischchen in der Ecke des Vorzimmers ein, als sich die Tür schwungvoll öffnete und eine junge Frau hinein wehte:
"Guten Moooooorgen, meine Liebe!"
Frau Lützenrath warf einen kurzen, uninteressierten Blick zur Tür: "Morgen."
"Ist er da drinnen?"
Meine Kollegin senkte den Kopf und musterte die Besucherin in unnachahmlicher Weise über den Brillenrand:
"Frau Castillo."
"Ja?"
Die Tosca von gestern Abend!
"Haben Sie einen Termin?"
Das Lächeln der Sängerin erstarb.
"Ich muss ihn unbedingt sprechen!"
"Hat er Sie angerufen? Sollen Sie zu ihm kommen?"
"Nein. Ich brauche keinen Termin. Er will mich bestimmt sehen."
"Sie können ihn jetzt aber nicht sprechen."
"Ich muss dringend zu ihm!"
"Ich sagte es bereits, Sie können ihn jetzt nicht sprechen."
"Doch ich kann. Ich bin eine Juuuugendfreundin!"
Gespannt schaute ich auf Frau Lützenrath. Keine Reaktion. Sie kannte offenbar alle Freundinnen.
"Ich kann Herrn Cinquetti fragen, ob er Zeit für Sie hat, und dann machen wir einen Termin. Diesen Monat ist es allerdings schlecht. Und dann ist er in den Staaten."
Auf dem Hals der Sängerin zeigten sich rosa Flecken:
"Lassen Sie mich sofort zu ihm!"
"Und nach den Staaten führt er Regie in Baden-Baden. Also, vor Dezember wird das nichts. Wissen Sie was, rufen Sie besser an."
"Wenn Sie mich nicht sofort zu ihm lassen, schreie ich!"
Hatte ich eben ein Lächeln auf den Lippen meiner Kollegin gesehen? Gab sie nach? Nein, sie blieb kühl:
"Bitte. Schreien Sie."
Die Castillo brüllte tatsächlich. Sie schaffte mühelos zwei Oktaven. Aber meine Kollegin war ungerührt. Das Vorzimmer gehörte ihr. Schon triumphierte
sie:
"Tja, er kann Sie leider nicht hören. Er ist gar nicht da." Die Sängerin starrte fassungslos. Sie taumelte. Ob sie Lützenraths letzte Worte hörte, kann ich nicht beschwören:
"Und noch was, Frau Castillo: Ich bin nicht Ihre Liebe."
Ich war zutiefst beeindruckt von dieser Lektion. Eine Großmeisterin am Werk.
Ich beschloss, von ihr zu lernen.
So empfing ich meine geistige Ausbildung durch Frau Lützenrath. Sie brachte mir die Anfangsgründe des Vorzimmernahkampfs, das Chefdirigieren und Bürotaktik bei. Sie hat mich vom zweiundzwanzigsten bis fünfundzwanzigsten Lebensjahre unterrichtet und mich dabei soweit gefördert, dass ich am 14.
August 2001 bei Dr. Gerhard Schröder als Chefsekretärin eintreten konnte.
Nun habe ich meinen eigenen Chef.
Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.