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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Unerwartetes Schicksal

© Romy Schmidt


Denise Hoffmann ist 23 Jahre alt, als sie an einem Sonntag im Juni schweißgebadet aus ihrem Mittagsschlaf hervorschreckt. Ihre Hände und Füße fühlen sich kalt an, obwohl die Sonne scheint und sommerliche Temperaturen herrschen. Verschlafen reibt sie sich die Augen und blinzelt in das helle Tageslicht. Als sie sich im Bett aufsetzt, spürt sie, wie ihr Magen sich zusammenkrampft und sie zwingt, ins Bad ihrer Wohnung zu rennen, um sich zu erbrechen. Den Toilettendeckel nach oben geklappt und völlig erschöpft, sitzt sie in ihrem weißen T-Shirt auf den kalten Fliesen und versucht sich zu besinnen. Sie fühlt sich, als wäre sie in einer anderen Welt. Alle Lebenslust scheint ihre Adern zu verlassen, beinahe so, als würde sie mit einer Nadel in einen Luftballon stechen und alle Luft rauslassen.
Sie betätigt die Spülung der Toilette und setzt sich auf den geschlossenen Deckel. Verstört sieht sie die gegenüberliegende Wand an und zählt die Punkte auf den Fliesen. Habe ich einen Virus oder etwas Falsches gegessen? Sie lässt den letzten Abend in Gedanken Revue passieren und erinnert sich daran, mit Janosch, ihrem Freund, einen großen Partnercocktail getrunken zu haben, der ihr sehr zugesetzt hatte. Mit Janosch hatte sie die Zusammensetzung des Cocktails studiert und festgestellt, dass allein 7 verschiedene Schnapssorten darin vermischt waren. Kein Wunder, dachte sie jetzt auf der Toilettenschüssel sitzend und beschloss, sich einen Kamillentee aufzubrühen und gleich danach wieder ins Bett zu gehen. Sie verließ das Bad und ging zu Janosch in die Wohnstube, um ihn wenigstens an diesem Sonntag zu begrüßen. Er sieht sich eine Reportage im Fernsehen an und vernimmt ihre Anwesenheit kaum.
Nachdem Denise sich den Tee aufgebrüht hat, geht sie ohne ein weiteres Wort wieder in ihr Bett, nimmt sich ein Buch aus dem Bücherregal neben der Schlafzimmertür und huschelt sich in ihre Decke. Wenn es ihr gut ginge, würde so ein wunderbarer Tag nicht im Sande vergehen. Sie wäre bereits zeitig aufgestanden, hätte ihr tägliches Sportprogramm erfüllt und danach ein schönes Mittagessen gezaubert. Vielleicht wären Janosch und sie noch spazieren oder schwimmen gegangen. Wie schön diese Aussichten doch waren. Denise ärgert sich über die erneut aufkommenden Magenschmerzen und spürt plötzlich auch in ihrem Unterleib ein unangenehmes Ziehen. Sie nippt an ihrem Tee und versucht einige Seiten zu lesen, was ihr aber nicht gelingt. Was ist nur mit mir los?
Wenig später versinkt Denise erneut in einen Dämmerschlaf, aus dem Janosch sie ganze fünf Stunden später holt. Verstört sieht sie in sein Gesicht, während er neben ihr auf dem Bett sitzt.
"He Kleines, was ist denn los mit Dir? Du bist blass und total durchgeschwitzt!" Zärtlich fährt er mit seiner Hand über ihre nasse Stirn und versucht sie mit seinen Blicken zu trösten. Als wäre der spendende Trost ein Messer, was sich in ihre Brust drängt, springt Denise auf und schiebt Janosch zu Tränen gerührt zur Seite. Sie stürzt ins Bad, übergibt sich erneut, während Janosch verzweifelt vor der Badtüre wartet und unentwegt ihren Namen ruft. Verheult tritt Denise aus dem Bad, sieht Janosch an und drängt sich fordernd in seine Arme, während sie nun unentwegt zu weinen beginnt. Schon seit Jahren hatte sie keinen solchen Heulkrampf mehr gehabt, schon gar nicht vor Janosch. Sie kannten sich nun bereits vier Jahre, lebten seit einem Jahr zusammen und hatten neben den etwas unangenehmen Pflichten des Lebens einen sehr lockeren Umgang und viel Spaß miteinander. Leid und Sorgen wollten beide nicht kennen, geschweige denn Krankheiten. Sie lebten von Tag zu Tag, sahen das Glas halbvoll, statt halbleer und wollten für nichts Verantwortung übernehmen. Das Leben war so schön, ohne Verpflichtungen eingehen zu müssen.
Heute an diesem Sonntag scheint jedoch alles einzustürzen, was sich Denise in ihrem Leben vorgenommen hat. Sie spürt, dass es sich bei ihrer Magenverstimmung nicht nur um einen kleinen Virus handelt, sondern ihre Erkrankung etwas Ernsteres ist.
Der besorgte Blick von Janosch bestätigt ihre Gedanken. Janosch bringt sie wieder zu Bett, nimmt einen Eimer aus dem Bad mit und stellt ihn neben ihrem Bett auf. Er streichelt nochmals über ihre nasse Stirn und öffnet dann das Fenster, um die kühle Abendluft in das Zimmer zu lassen.
Als Denise am nächsten Morgen erwacht, hat sie es verschlafen. Sie schwingt sich in der Hoffnung, ihr ginge es besser, aus dem Bett, putzt sich die Zähne, kämmt sich die Haare und zieht sich an, während das flaue Gefühl in ihre Glieder und ihren Magen zurückkehrt. Der Schweiß tritt wieder auf ihre Stirn und Sterne funkeln vor ihren Augen. Sie setzt sich in der Wohnstube auf das terrakottafarbene Sofa und überlegt, was sie nun tun soll. Warten, bis es vorbei ist? Auf Arbeit anrufen, um sich krank zu melden? Oder sollte sie nicht doch besser zum Arzt gehen?
Denise beschließt einen Arztbesuch. Sie hasst Ärzte, hasst das Gefühl sich zu offenbaren und hasst das Gefühl, ihre Hilfe zu benötigen. Sie will alles allein schaffen. Der Arzt diagnostiziert eine Magenverstimmung, schreibt ein pflanzliches Medikament auf und verordnet strenge Bettruhe. Wieder etwas, was Denise nicht brauchen kann und erst recht nicht mag. Einige Tage Bettruhe bedeutete beinahe so viel für sie, wie in einen hundertjährigen Schlaf zu versinken, um dann von einem Prinzen wach geküsst zu werden. Entgegen ihren Prinzipien befolgt sie den Rat des Arztes und bleibt in ihrem Bett. Doch nicht nur für einige Tage, sondern für ganze zwei Wochen. Die Krämpfe wollen nicht verschwinden, gleichzeitig der Druck im Unterbauch und das Gefühl, trotz der Übelkeit ständig essen zu müssen. Sie weint fast täglich, wenn Janosch von der Arbeit kommt und erzählt, was er erlebt hat. Früher hätten Denise nicht mal Fieber und Schüttelfrost davon abgehalten, ihren sportlichen Verpflichtungen und Freizeiterlebnissen nachzukommen. Dieses Mal jedoch sitzt eine innere Stimme in ihrem Ohr und verhindert alles, was ihr Herz tatsächlich begehrt. Vielleicht bin ich deshalb so traurig, denkt sie jeden Abend.
Nach zwei qualvollen Wochen bemerkt Denise noch immer das lähmende und schwächende Gefühl in ihren Gliedern und beschließt, einen weiteren Arztbesuch auf sich zu nehmen. Mit Erschrecken stellt sie an diesem Morgen fest, dass sie bereits seit drei Wochen ihre Regelblutung hätte bekommen sollen. Doch eine Schwangerschaft kann aufgrund der Bauchschmerzen nicht möglich sein. Als sie auf dem Untersuchungsstuhl der Ärztin liegt und den Bildschirm anstarrt, atmet sie erleichtert auf. Ich bin nicht schwanger, denkt sie sich und blinzelt verstohlen eine Träne aus ihrem Augenwinkel. Doch auch eine andere Ursache für die Bauchschmerzen und die Übelkeit wird von der sehr netten Ärztin nicht gefunden. Stattdessen verschreibt auch sie weiterhin viel Ruhe und ein krampflösendes Mittel und bestellt Denise genau eine Woche später nochmals in ihre Praxis.
Diese eine Woche verändert das Leben von Denise, ohne dass sie irgendetwas tut, außer eines Tages in eine Apotheke zu gehen und sich etwas zu holen, was ihre innere Stimme ihr seit mehreren Tagen ins Ohr flüstert. Sie macht sich keine Illusionen, dass es der richtige Weg ist, den sie geht. Sie denkt nicht einmal daran, dass Produkt tatsächlich ernst zu nehmen, schließlich spricht alles dagegen: die Aussagen der Ärzte, die zu lockere Beziehung zu Janosch, ihre finanzielle Situation, ihr noch nicht beendetes Studium, ihre eigenen Wünsche von der Zukunft. Und doch sitzt sie jetzt auf der Toilettenschüssel und schaut gespannt dem zarten Papierstreifen zu, den sie gerade in einen Becher mit ihrem Urin getaucht hat. Während sie zwei rosafarbene Streifen von einer verpflichtungsfreien Zukunft trennen, schlägt sie die Zeitung auf und liest in den Lokalnachrichten die Sportergebnisse des letzten Wochenendes. Verstohlen und doch etwas neugierig, blinzelt sie immer wieder auf das Teststäbchen, was jedoch nur aus nächster Nähe das Ergebnis anzeigt. Denise holt nochmals tief Luft, bevor sie schließlich die Zeitung weglegt und zu dem Teststreifen greift. Sie glaubt ihren Augen nicht zu trauen. Zwei Streifen erscheinen auf der Testfläche des Streifens und bestätigen eindeutig eine Schwangerschaft.
Kopfschüttelnd kriecht Denise in ihr Bett und wartet auf Janosch. Er müsste in einer Stunde kommen, denkt sie sich und versucht zu schlafen. Lachende und weinende Kinder erscheinen ihr in Gedanken und sie beginnt darüber nachzusinnen, ob ein Kind wirklich ein so falscher Weg sein kann. Sie liebt Kinder, andere, fremde Kinder, die sie jederzeit wieder abgeben kann. Doch was empfindet sie bei Kindern? Zeigen sie den erwachsenen Menschen nicht, wie herrlich lebendig die Welt doch ist und dass Kinder haben zwar heißt, Verpflichtungen einzugehen, aber ebenso Dinge von ihnen zu erhalten, die so lebensnotwendig sind und glücklich machen: ein zartes Kinderlächeln, das erste Wort, ein Danke aus ihrem Munde, wie sie das erste Mal die eigene Hand ergreifen, wahre Gedanken, Unkompliziertheit und Natürlichkeit?
Als Janosch nach Hause kommt, stürzt sie sich in seine Arme. Wieder rinnen ihr Tränen über das Gesicht, doch es sind Tränen der Freude. Janosch reagiert unerwartet glücklich auf die Nachricht der Schwangerschaft und plötzlich begreift auch Denise, dass es Dinge im Leben gibt, die nicht planbar sind. Und wie sagt man so schön, ungeplante Dinge und Wege sind fast immer die besseren Wege, denn sie kommen vom Herzen.
Nach fünf Monaten wacht Denise an einem Sonntagmorgen auf und spürt zum ersten Mal das kleine Kind unter ihrem Herzen. Es strampelt und tritt. Denise schließt die Augen und stellt sich vor, wie das Kleine mit seinen Händen und Füßen an ihre Bauchdecke tritt. Sie schmunzelt bei dem Gedanken und kuschelt sich an Janosch, der noch immer schläft. Ich habe das Richtige getan, denkt sich Denise und schüttelt sie ab die Gedanken für keinen Verantwortung übernehmen zu wollen oder zu können und in den nächsten Tag hinein zu leben, als würde nichts auf sie warten. Bald würde etwas auf sie warten: ein kleines Wesen, was zärtlich und fordernd die Brust und die Hand seiner Mutter sucht und sie nie mehr loslassen wird, ein ganzes Leben lang. Denise kuschelt sich immer mehr in die Armbeuge von Janosch und freut sich, freut sich über das Morgen und das Übermorgen, was voller Erwartungen nach ihr schreit. Sie will es nicht mehr missen.



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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