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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Abschied
© Thomas Ulrich
Tränen rannen über Marcus junges Gesicht. Der Arm schmerzte noch immer, doch der Schmerz war nur dumpf gegen die Gefühle, die durch seine Magengegend wallten.
Die vielen Maschinen machten die seltsamsten Geräusche. Marcus hatte solch einen Raum schon immer einmal von innen sehen wollen. Seine Schwester hatte Medizin studiert, doch sie war nicht allzu weit gekommen.
Die vielen Abendserien hatten sie vermutlich dazu angesteckt. Auch Marcus erinnerte sich gern an die vielen schlechten Vorabendserien, die seine Eltern früher geschaut hatten. Früher, in besseren Zeiten. Die waren nun für immer vorbei. Es war schon komisch, über was man in solch einer Situation nachdachte.
Wie sollte er seiner Mutter erklären, was heute passiert war? Die letzten Momente seines früheren Lebens blitzten vor Marcus Augen auf.
Sein Vater schrie. Er schrie aus vollem Hals. Marcus würde wohl niemals fähig sein, das entsetzliche Geräusch aus seinen Gedanken zu verbannen. Die Reifen quietschten auf dem nassen Asphalt. Zu seinem Erstaunen war Marcus vollkommen ruhig. Er hatte immer gehört, dass man sein gesamtes Leben sehen konnte, kurz vor dem Tod. Doch es war anders. Da war kein Licht am Ende des schwarzen Tunnels. Dort war nur der Baum und das schwache Blech dazwischen. Der junge Mann sah jede Bewegung wie in Zeitlupe. Sein Hirn arbeitete
auf vollen Touren. Es musste die vielen Sinneseindrücke abspeichern, denn bald schon würde es keine Möglichkeit mehr haben, dies zu tun. Er hatte die Kontrolle auf der glitschigen Fahrbahn verloren. Er hätte niemals geglaubt, dass ihm so etwas passieren könnte, doch es war passiert. Sein Vater schrie noch immer, er war sich ebenfalls vollkommen bewusst, was als Nächstes passieren würde.
Jetzt schrie sein Vater nicht mehr. Die Tränen rannen noch immer heiß die Wangen des jungen Mannes hinunter. Es war seltsam. Er hatte seinem Vater nie nahe gestanden, vor allem nicht nach der Scheidung. Er war zum Schlüsselkind geworden, wie schon so viele vor ihm. Damals hatte er begonnen, seinen Vater zu hassen. Er hatte ihn aus vollem Herzen gehasst, hatte jede schöne Erinnerung an diesen Mann aus seinen Gedanken verdrängen wollen.
Es war Weihnachten und sein Vater hatte ihm tatsächlich den großen Kampfläufer gekauft, den er gewünscht hatte. Er kannte ihn aus den Filmen, die sein Vater ihm gezeigt hatte. Der kleine Junge war misstrauisch. Letztes Weihnachten waren die Geschenke bei weitem nicht so großzügig ausgefallen, wie dieses Jahr. Er hatte seine Eltern oft streiten gehört in den letzten Wochen. Sie dachten, er läge schlafend in seinem Bett, doch die Lautstärke hatte ihn stets aufgeweckt. Er blickte in diesen Momenten immer zu dem
Bett seiner Schwester hinüber, das seinem direkt gegenüberstand. Claudia war ebenfalls wach, auch wenn sie es nicht vor ihrem kleinen Bruder zeigen wollte. Marcus konnte ihre großen Augen in der Nacht feucht funkeln sehen.
Er hatte niemals über diese einsamen Nächte gesprochen. Noch heute war ihm zum Heulen zumute, wenn er an die traurige Passage aus seiner Kindheit dachte. Claudia arbeitete heute als Krankenschwester in einem benachbarten Krankenhaus. Wie würde sie die Nachricht aufnehmen? Seit sie ausgezogen war, kümmerte sie sich kaum noch um ihren kleinen Bruder. Der Kontakt zu ihrem Vater war vollständig abgebrochen. Sie hatte ihm nie den Bruch mit der Mutter verziehen. Wohin hatte ihn dieses Leben geführt? Der Kontakt zu
seiner Familie war beinahe vollständig abgebrochen; Marcus kannte seinen Vater nur als unerbittliches Arbeitstier.
Das Büro war von fremden Menschen gefüllt. Der kleine Junge hatte Angst. Welches Beinpaar mochte seinem Vater gehören? Er war am Morgen mitgefahren, weil seine Mutter einen dringenden Termin hatte und den Dreijährigen nirgendwo hatte unterbringen können. Widerwillig hatte sein Vater eingewilligt, ihn mit zur Arbeit zu nehmen, doch wo war er jetzt? Dicke Tränen liefen dem kleinen Jungen die Wange herunter. Nicht einmal seine Schwester war hier, um sich um ihn zu kümmern.
Marcus schüttelte den Kopf. Die Erinnerung erfüllte ihn mit Angst. Man sagte, dass man sich nicht an Ereignisse erinnern konnte, die vor dem vierten Lebensjahr geschehen waren, doch er konnte sich ganz genau an das Gefühl der Hilflosigkeit besinnen, das ihn damals beherrscht hatte.
Die Monitore zeigten einen halbwegs stabilen Puls an. Die Ärzte hatten alles getan, um seinen Vater zu stabilisieren. Er hatte auf dem Beifahrersitz gesessen, als der Unfall passiert war. Der Kopf seines Vaters war bandagiert und die rechte Hälfte war durch Schrauben und Gestelle fixiert.
Die Maschinen piepten im Takt des schwachen Pulses. Bibb. Bibb. Bibb.
Marcus verlor langsam die Nerven. Wie lange konnte die Polizei brauchen, um den Rest seiner Familie zu informieren?
Eine der schönsten Erinnerungen an seinen Vater hatte Marcus im Zusammenhang mit seinem eigenen Armbruch. Es war beim Fußballspielen passiert. Jeder zweite Junge in seinem Alter kannte das. Seine Freunde hatten den Arzt gerufen und Marcus war sofort ins Krankenhaus gekommen. Er hatte sich bei einem Sturz eine komplizierte Fraktur zugezogen, die mit einigen Schrauben fixiert hatte werden müssen. Seine Mutter war zu dieser Zeit verhindert gewesen, also hatte sein Vater die unangenehme Pflicht übernommen, seinen
Sohn im Krankenhaus zu besuchen. Marcus erinnerte sich auch heute noch gern an die Tage im Krankenhaus. Sein Vater hatte ihm aus dem Herrn der Ringe vorgelesen. Es war eine schöne Zeit. Vor allem, weil der persönliche Kontakt zu seinem Vater sonst eher spärlich ausgefallen war.
Die Gesichtszüge des alten Mannes wirkten vollkommen entspannt. Marcus versuchte, die Augen offen zu halten. Sobald er sie schloss, sah er das Abbild seines schreienden Vaters. Endlich war er ein wenig zur Ruhe gekommen. Es war schon komisch, dass er sich kaum daran erinnern konnte, seinen Vater jemals in Ruhe gesehen zu haben.
Die Ärzte hatten ihn vorgewarnt, jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Sie hatten ihn allein gelassen. Allein, um Abschied zu nehmen. Wie sollte man von jemandem Abschied nehmen, den man kaum kannte? Natürlich erinnerte sich Marcus an all die vielen Geschichten, die sich um seinen Vater rankten. Doch was waren das mehr als Geschichten?
Klaus strahlte über das ganze Gesicht. Nach Claudia hatte er nun tatsächlich einen Sohn bekommen. Natürlich nicht er, sondern seine Frau, Theresa. Doch anders als bei Claudia war er dieses Mal von Anfang bis zum Ende dabei gewesen. Er hatte die ersten Atemzüge seines Sohnes gesehen. Ein kräftiges Kerlchen, der gerade vier Kilo wog. Man hatte ihm erlaubt, die Nabelschnur zu durchtrennen. Er hatte gezittert, als er den kalten Stahl um das Gewebe legte, das Momente zuvor noch über Leben und Tod des jungen Lebens
entschieden hatte. Der erste Schrei hatte etwas Magisches an sich. Triumphierend hob er seinen Sohn in die Höhe und zeigte ihn seiner Frau. Theresa lächelte ihn an, schwach aber überglücklich. Tränen rannen Klaus über die Wangen, er bemerkte es selbst nicht, doch dieses kleine Detail würde seiner Frau niemals aus dem Kopf gehen.
Und dieses kleine Detail war auch Marcus niemals aus dem Kopf gegangen. Es erfüllte ihn jedes Mal mit Stolz, dass er einst der Grund gewesen war, dass sein Vater vor Rührung in Tränen ausgebrochen war.
Das weiße Laken war um die schmale Figur des einst so stämmigen Mannes gespannt. Marcus wusste noch genau, wie er früher immer geglaubt hatte, dass sein Vater der größte und stärkste Mann der Welt war. Er hatte eine behütete Kindheit verlebt, bis zu dem Tag, an dem seine Eltern sich trennten.
Marcus kam grad von der Schule. Er war in der dritten Klasse. Eigentlich war der Tag sehr gut verlaufen, er hatte beim Scherbeln gewonnen und war nun stolzer Besitzer der begehrtesten Wappen des Bundesligasammelalbums. Er freute sich schon, seinen Schatz in das kleine Album einzukleben.
Als er die Tür geöffnet hatte und in den großen Flur getreten war, wusste er schon, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Vielleicht war es zu ruhig, vielleicht fehlte einfach der gewohnte Geruch des warmen Mittagessens, das die Familie für gewöhnlich zusammen einnahm. Der neunjährige Marcus schlich ins Wohnzimmer. Er sah seine Mutter, in Tränen aufgelöst auf der großen Couch sitzen. Als sie ihn bemerkte, versuchte sie schnell, die nassen Wangen zu bedecken, doch als es ihr nicht gelang, öffnete sie einfach
die Arme und hieß ihren Sohn willkommen.
Auch dieser Tag war Marcus niemals aus dem Kopf gegangen. Es hatte drei Wochen gedauert, bevor er seinem Vater wieder in die Augen hatte schauen können. Natürlich hatte er schon lange geahnt, dass etwas nicht stimmte zwischen seinen Eltern, doch seine Mutter weinen zu sehen, hatte ihm den Rest gegeben. Noch heute, mit zwanzig Jahren, wachte Marcus manchmal erschrocken auf und verdrängte die Szenen des Albtraums, der ihm dieselben Dinge noch einmal durchleben ließ. Es war faszinierend, wie schnell die Stimmung
damals umgeschlagen war, fast so, wie es an diesem Tag geschehen war.
Die ersten Jahre nach der Trennung waren hart gewesen, doch je älter Marcus wurde, desto mehr konnte er mit der Entscheidung seiner Eltern leben. Es war schon komisch, wie das Älterwerden einen verändern konnte. Natürlich konnte sich Marcus noch immer an den kleinen, verletzlichen Jungen erinnern, der er einst gewesen war, doch diese Zeiten lagen längst hinter ihm. Er fand es faszinierend, wie schnell man aus den Augen verlieren konnte, dass auch Kinder mit vielen Problemen zu kämpfen hatten.
Marcus trat näher ans Bett und fasste die Hand seines Vaters. Sie war weiß, von dem hohen Blutverlust. Es war komisch, früher hatte er sich oft vor den großen Händen gefürchtet. Heute, an diesem Tag waren sie weich wie Papier und weiß wie Schnee. Sie waren so zerbrechlich. Marcus lief ein kalter Schauer über den Rücken. Vielleicht hatte er dieses haptische Erlebnis gebraucht, um sich wirklich darüber klar zu werden, dass die Ärzte Recht hatten. Sein Vater lag im Sterben und nichts auf der Welt konnte ihn mehr
retten.
Er war gerade von einem verbotenen Ausflug zu seinem Freund Dennis zurückgekommen. Seine Eltern hatten ihn bereits erwartet. Sein Vater stellte nicht eine Frage, sondern fasste ihn sofort grob bei der Schulter und zog ihn in sein Zimmer, um ihm die Tracht Prügel seines Lebens zu geben.
Marcus erinnerte sich noch immer an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen. Körperlicher Kontakt war in seiner Familie selten vorgekommen. Er hatte die prägnante Erinnerung später, während der psychologischen Sitzungen auf diesen Kontaktmangel geschoben, auch wenn ihm längst klar war, dass er nur beleidigt gewesen war, dass sein Vater ihn so behandelt hatte. Er hatte es ihm heimzahlen wollen. Er hatte sich sogar ausgemalt, wie es sein würde, wenn sein Vater von heute auf morgen sterben würde. Natürlich hatte
er nicht mit der Vorstellung leben können.
Doch diese Tage lagen in der Vergangenheit, jetzt galt es tatsächlich, sich von dem Vater zu verabschieden. Der Hirntod hatte bereits vor Stunden eingesetzt, Marcus war Zeuge gewesen. Er hatte gesehen, wie die verkrampften Gesichtszüge seines Vaters sich plötzlich entspannt hatten. Hatte gesehen, wie all die Last der Welt plötzlich aus den Zügen des Mannes entschwunden waren.
Bibb. Bibb. Bibb. Diese Maschinen waren das Einzige, was seinen Vater noch am Leben hielten. Lange würde es jetzt jedoch nicht mehr dauern. Die Ärzte hatten ihn vorgewarnt, bald würden die Organe versagen. Sie hatten versucht, ihn zu retten, doch die Not-OP hatte keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Sie hatten den Körper einfach wieder zugenäht und zurück in das Zweibettzimmer geschoben, das die private Zusatzversicherung den beiden beschert hatte. Zurück in das Zimmer, das die letzte Barriere zwischen dieser und
der nächsten Welt sein würde.
Die Tränen rannen noch immer heiß die Wangen des jungen Mannes hinunter. Wo blieb bloß seine Mutter? Interessierte es sie nicht, was er hier durchleben musste? Interessierte es sie nicht, welche schrecklichen Dinge dieser Tag in sein Gedächtnis einbrennen würde.
Abschied. Das hatten die Ärzte gesagt, er sollte sich verabschieden. Sie hatten die Maschinen nur für ihn aktiviert. Sein Vater verfügte über ein Patiententestament, das es den Ärzten erlaubte, die Geräte abzustellen. Es war sowieso nichts mehr zu retten, das hatten sie ihm gesagt. Dort vor ihm lag nicht mehr sein Vater, sondern nur eine leere Hülle, wie man so schön sagte.
Der Tod war schon etwas Seltsames. Man sah ihn jeden Tag im Fernsehen. Erst um Weihnachten waren tausende von Menschen bei der großen Tsunamikatastrophe ums Leben gekommen. Natürlich hatte die Katastrophe auch bei Marcus Spuren hinterlassen. Er hatte für die Opfer gespendet, wie so viele andere Menschen auch. Es war schon gewaltig, wie viel Gutes aus einer solchen Tragödie entstehen konnte.
Doch der Tod hatte auch ein anderes Gesicht. Hier lag es vor ihm im Bett. Die schlaffen Züge seines Vaters, die bleiche Hand, das weiße Laken, der ununterbrochene Piepton der verdammten Maschine. Marcus begriff erst jetzt, dass der Tod auch ein persönliches Gesicht hatte. Was wusste er schon von den tausenden Flutopfern? Er kannte niemanden. Als seine Großeltern gestorben waren, war er viel zu klein gewesen. Doch heute, in diesem Raum begriff er zum ersten Mal, was es tatsächlich bedeutete, dem Tod ins Angesicht
zu blicken.
Er kannte die vielen Bücher zum Thema. Sie sollten helfen, über das einschneidende Ereignis hinwegzukommen, doch Marcus bezweifelte, dass es ihm jemals gelingen würde. Genau wie die vielen anderen bedeutenden Szenen seines Lebens würde sich auch diese für den Rest seiner Tage in seinem Gehirn festsetzen.
Die glücklichen Tage waren vorbei, aber das waren sie schon lange. Es war schön, ein Kind zu sein, doch irgendwann holte einen das Leben eben ein, oder in diesem Fall der Tod. Er wusste, dass er nun der Mann der Familie war. Natürlich hatte sein Vater schon lange nicht mehr diese Position füllen können, doch trotz allem hatte es ihn am Rand der Familie gegeben. Marcus hatte zu ihm fahren können, wenn e sich mit seiner Mutter gestritten hatte; er konnte sich stets an ihn wenden, zumindest nach dem ersten Trennungsjahr.
Jetzt hatte er die Brücke, wie sein Vater immer so schön gesagt hatte, vom ersten Offizier zum Kapitän. Er musste noch eine letzte Tat vollziehen, um sein Amt anzutreten. Er musste sich verabschieden. Doch wie machte man das? Szenen kamen ihm in den Sinn. Szenen, die er in der einen oder anderen Fernsehsendung gesehen hatte. Dort standen die Angehörigen mit Taschentüchern winkend, als der Vater Richtung Front abzog; dort weinte der kleine Junge, als der Vater im Kampf mit dem Bären ums Leben gekommen war; dort
fasste Kapitän Kirk an die verglaste Scheibe des Reaktorkerns, um sich von seinem spitzohrigen Freund zu verabschieden.
Es war komisch, erst heute begriff er, wie lächerlich diese Szenen eigentlich waren. Der Tod kam nicht wie im Film. Er kam plötzlich. Er kam, ohne über die Schulter zu sehen und die Angehörigen zu befragen. Er war hier, in diesem kleinen Raum, zusammen mit ihm, wartete nur darauf, dass Marcus das Zeichen gab, die Maschinen abzustellen.
Der junge Mann streifte die Hand seines Vaters ab, wandte sich um und starrte aus dem Fenster. Sie befanden sich im dreizehnten Stockwerk, die Intensivstation. Von hier oben betrachtet wirkten die Menschen fürchterlich klein und zerbrechlich. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass der Eindruck nicht trügte.
Abschied nehmen. Was gab es noch zu tun? Hatte der schwarze Ritter bereits die Sense erhoben, um die Seele seines Vaters vom Körper zu trennen? Glaubte Marcus überhaupt noch an die religiösen Dinge, die er einst im Konfirmandenunterricht gelernt hatte? Er hatte immer geglaubt, dass er es nicht tat, doch im Moment wünschte er nichts sehnlicher, als einen Funken Wahrheit in den alten Geschichten zu finden. Es wäre schön, seinen Vater irgendwann wiederzusehen und sich richtig verabschieden zu können. Er hatte dem
älteren Mann noch so viel sagen wollen, doch er hatte nie den Mut gehabt, all die Dinge auszusprechen, die ihn beschäftigt hatten. Man sagte, dass man nicht schlecht von den Toten reden durfte, vielleicht konnte man das auch gar nicht.
Abschied nehmen? Vielleicht war es das, was er soeben getan hatte. Er hatte sich an die guten Dinge erinnert, die er mit seinem Vater verband. Marcus war sicher, dass er die Zeit gebraucht hatte, die ihm die Ärzte hier gegeben hatten. Und er war froh, dass sie ihm diese gewährt hatten.
Es hieß, dass einem kurz vor dem Tod das eigene Leben vor den Augen ablief. War dies seinem Vater passiert, als er schreiend neben ihm im Auto gesessen hatte? Hatte er vielleicht dieselben Szenen gesehen, die auch sein Sohn rekapituliert hatte. Wenn ja, hatten sie sich vielleicht gemeinsam voneinander verabschiedet.
Marcus atmete tief durch. Er war bereit. Ein letzter Blick auf seinen Vater. Das Bild würde sich auf ewig in seinem Gehirn festsetzen. Der heutige Tag hatte ihn verändert. Er hatte heute seinen Vater verloren, doch es war ihm auch endlich gelungen, die Vergangenheit zu überwinden. Der junge Mann wandte sich um, öffnete die Tür und suchte das Ärzteteam, das ihm ermöglicht hatte, sich von seinem Vater zu verabschieden.
Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.