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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Schlüssel zu meinem Leben

© Tonia Krüger


Ich renne. Ich versuche dem Unglück zu entkommen und fühle mich frei, als ich für einen kurzen Augenblick schneller bin. Lauf! Lauf fort, feuert mein Gefühl mich an. Auch Fliehen kann eine Art zu kämpfen sein.
Bleib stehen, kommandiert mein Verstand. Wegzulaufen ist keine Lösung. Bleib stehen und stell dich ihm.
Ich tue es nicht. Ich ignoriere meinen Verstand, denn er verlangt etwas von mir, von dessen Erfolglosigkeit mein Gefühl überzeugt ist. Wie immer würde ich zu schwach sein... Keuchend bleibe ich auf dem Marktplatz stehen. Es ist Oktober. Mein warmer Atem gefriert in der kalten Welt. Der blaue Himmel fühlt sich an wie ein gigantischer Sog. Ich träume oft davon, irgendwo anders unter diesem Himmel zu sein. Das Lächeln der Sonne ist müde geworden in den letzten Tagen. Das Jahr geht zu Ende. Die Bäume kleiden sich bunt, um ihren Abschied zu feiern. Nur für mich wird es keinen Abschied geben.
Es ist traurig alle gehen und niemanden winken zu sehen, beklagt sich mein Gefühl.
Sei nicht albern. Wenn niemand winkt, muss man nicht zurückwinken, bemerkt mein Verstand.
Ich hätte nichts dagegen zurückzuwinken, denke ich.
Siehst du, hält mein Gefühl meinem Verstand trübselig vor.
Nie hört man auf mich, beschwert sich mein Verstand und zieht sich beleidigt zurück.
Ich habe mir vorgenommen, das zu ändern, überlege ich, während mein Gefühl wie Wasser in mir ausläuft und wehmütig in jeden Winkel tropft. Ich muss alles etwas rationaler sehen, sage ich mir und träume mich fort in ein anderes Leben. In ein Leben, wo Rationalität als Schutzschild überflüssig ist. In ein Leben, zu dem ich den Schlüssel noch besitze, in dem ich noch Eigentümer bin. Es ist meine eigene Schuld. Ich passte nicht auf, als mein Vater starb und ich zu meiner Mutter und ihrem neuen Lebensgefährten zog. Ich habe den Schlüssel zu meinem Leben nicht verloren. Er hat ihn mir abgenommen.
Du konntest dich nicht wehren, tröstete mich mein Gefühl ein ums andere Mal.
Du hättest das nicht zulassen dürfen, tönte mein Verstand, doch ich hörte nicht zu.
Ich schlich durch sein Haus, denn jedes Geräusch - von mir verursacht - weckte die Wut in ihm. Die Wut war ein wildes Tier. Ein wildes Tier mit leichtem Schlaf. Ich erinnerte mich, wie ich das erste Mal vor ihm stand. Meine Mutter hatte mich vom Bahnhof abgeholt und er öffnete die Tür. Er starrte auf mich herunter und ich fühlte mich aufgespießt. Unfähig mich zu rühren, musste ich seinen Blick erdulden, der sich schmerzhaft, von Hass vergiftet, durch mich hindurchbohrte. Es war ihm nicht schwer gefallen, mir meinen Schlüssel abzunehmen. Er entwandt ihn mir mit einem Blick und verschloss die Tür zu meiner Zukunft.
Es ist aussichtslos, seufzte mein Gefühl entmutigt.
Nichts ist aussichtslos. Alle Dunkelheit der Welt kann ein kleines Licht nicht am Scheinen hindern, verkündete mein Verstand altklug.
Ich schlich durch sein Haus und fragte mich, ob man in Dunkelheit ertrinken kann wie in Wasser.
"Was hat er gegen mich?", fragte ich meine Mutter.
"Er hat nichts gegen dich. Wie kommst du denn darauf?" Meine Mutter tat erstaunt.
"Er hasst mich", beharrte ich.
"So ein Unsinn! Er braucht nur eine Weile, sich zu gewöhnen. Wir haben uns unsere Zukunft etwas anders vorgestellt."
"Wie denn?"
"Viel reisen. Vielleicht noch ein oder zwei Kinder..."
"Warum geht das jetzt nicht mehr?"
"Kein Geld, nicht genug Platz..." Meine Mutter seufzte und schlug eine Zeitschrift auf, um sich in eine fremde Familienkatastrophe zu flüchten und wie immer die Augen zu verschließen.
Menschen schließen die Augen, wenn es dunkel ist und sie ohnehin nichts sehen können. Meine Mutter schließt die Augen, weil die Wahrheit ihr Leben düster macht. Mein Leben macht sie schwarz.
Du musst dich wehren, forderte mein Verstand mich auf. Du musst kämpfen. Sonst erlischt dein Licht.
Es ist doch alles sinnlos, widersprach mein Gefühl, doch diesmal war es nicht so überzeugt wie sonst. Es war weniger überzeugt, weil es nicht wollte, dass ich in Dunkelheit ertrank. Es kämpfte mit sich und so rannte ich los.
Ich floh und erleichtert rief mein Gefühl, auch Fliehen sei eine Art des Kämpfens. Doch wieder war mein Verstand anderer Ansicht und so stehe ich nun auf dem Marktplatz und frage, was zu tun ist. Antworten erhalte ich nicht. Einträchtig haben sich Gefühl und Verstand zurückgezogen. Ich stehe im Aus. Niemand sieht mich, niemand hört mich. Niemand will mich sehen und niemand will mich hören. Ich stehe auf dem Marktplatz und die Menschen gehen im Bogen um mich herum. Instinktiv spüren sie, dass mein Unglück möglicherweise ansteckend ist. Mütter ziehen ihre Kinder vorüber, Passanten eilen um mich herum. Der Strom teilt sich vor mir, schließt sich hinter mir. Niemand will unter meiner Unglückswolke hindurchlaufen. Auch ich möchte ihr entkommen. Nur werde ich das allein nicht schaffen... Die Sonne geht unter. Ihre letzten Strahlen kitzeln die Dunkelheit hervor. Ich stehe auf dem Marktplatz, weil ich nicht weiß, wohin ich gehen soll. Etwas stößt heftig in meinen Rücken, wirft mich zu Boden. Die Panik fährt so schnell in mir auf, dass mir nicht einmal Zeit bleibt zu schreien. Sie füllt mich aus, verbindet sich mit meinem furchtsamen Gefühl und verdrängt meinen Verstand. Ich kenne das... Etwas steht über mir und ich bewege mich nicht.
Nur langsam gelingt es meinem Verstand sich aus seiner Verdrängung zu schieben. Er ist es nicht, sagt er beruhigend.
Er hat dich, bringt mein Gefühl mit starrer Stimme hervor.
Nein, er ist es nicht, widerspricht mein Verstand.
Dann frage ich mich, was es sonst ist, bleibt mein Gefühl ängstlich.
"Oh, Gott, das tut mir total leid!" Der Augenblick ist vorüber. "Komm sofort hier her, Benny!"
Es ist ein Hund. Ein Golden Retriever, der mich freundlich anhechelt. Erleichtert wallt mein Gefühl durch meinen Körper und nimmt mir all meine Kraft.
"Kannst du aufstehen?" Ein Junge beugt sich über mich.
Die Blässe in seinem Gesicht sagt mir, dass er sich Sorgen macht. Er ist ungefähr in meinem Alter und hat so blaue Augen, dass ich mich zusammenreißen muss, in eine andere Richtung zu schauen.
"Er hat dir doch nichts getan, oder? Das macht er doch sonst nicht."
"Es ist nichts passiert", sage ich. "Ich bin nur ein bisschen schreckhaft." Hastig ziehe ich meinen Pullover herunter, der entblößt hat, was niemand wissen darf. Er hat sie gesehen. Ich merke es an seinem prüfenden Blick.
Er hilft mir auf die Füße. Leute stehen und schauen.
Wie peinlich!, klagt mein Gefühl und steigt heiß in mir auf.
Beachte sie nicht, befiehlt mein Verstand.
Ich tue, was er sagt, doch es hilft nicht.
Wie zufällig schiebt er meinen Ärmel ein Stück nach oben. Dunkel zeichnen sich die Flecken auf meiner hellen Haut ab. Viel zu dunkel um sie zu übersehen. So dunkel sind sie mir noch nie erschienen.
"Was ist das?", will er wissen.
"Was?" Etwas zu brüsk mache ich mich von ihm los.
Einen Moment überlegt er, was er sagen soll. Er steht dicht vor mir. Er ist direkt unter meine Unglückswolke gestolpert. Ich trete einen Schritt zurück.
"Brauchst du Hilfe?", erkundigt er sich vorsichtig.
"Wieso?" Wie ein Schutzschild baut sich mein Verstand in mir auf.
Warum bist du so ruppig?, fragt mein Gefühl, das sich verzagt zurückgezogen hat.
Von Fremden ist keine Hilfe zu erwarten, verkündet mein Verstand, wenn nicht einmal die Freunde helfen...
"Ich dachte nur..." Er spricht nicht weiter. "Du hast..."
"Was?", unterbreche ich ihn.
"Möchtest du vielleicht einen Kaffee mit mir trinken?", schlägt er vor und lächelt ein bisschen. "Als kleine Wiedergutmachung sozusagen."
Sein Lächeln bleibt unerwidert. "Nein, ich muss gehen."
"Ach so. Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?"
"Natürlich, was sollte denn sein?" Ich erwarte keine Antwort von ihm. Demonstrativ drehe ich mich um und gehe. Er hat mich vom Marktplatz vertrieben. Ich gehe und meine Unglückswolke folgt mir.
Der Hund folgt mir, doch diesmal gehorcht er, als er zurückgerufen wird.
Ich renne. Vor dem Haus steht eine Straßenlaterne. Ein milchiger Lichtkegel strömt zu Boden. Er steht unter der Lampe und raucht. In langsamen Spiralen windet sich der Rauch in die Höhe, entkommt dem gelblichen Licht und flieht in die Schwärze. Ich bin zu spät. Sein Blick empfängt mich spitz wie ein Dolch. Ich bleibe stehen, die Spitze des Dolchs an meiner Brust.
"Wo warst du?", will er wissen.
Ich versuche eine Antwort, doch er lässt mich nicht ausreden.
"Komm her, wenn du mit mir sprichst."
Ich trete näher, der Dolch bohrt sich in meinen Körper. Er besitzt meinen Schlüssel, deshalb muss ich tun, was er sagt. Vor ihm bleibe ich stehen. Langsam hebt er die Hand. Ich könnte weglaufen, hätte er den Rückweg nicht verschlossen. Er greift in meine Haare, ich rühre mich nicht. Er zieht mich in die Dunkelheit. "Deine Mutter hat sich Sorgen gemacht." Seine leise Stimme schlingt sich um meinen Hals und ich kann nicht mehr atmen. Etwas springt in meinen Rücken. Der Hund bellt. Er lässt mich los. "Wem gehört dieser Köter?" Scharf durchschneidet seine Stimme die Dunkelheit.
"Das ist meiner." Der Junge tritt in den Schein der Laterne. Ich lächle zurück.
"Hallo, Benny", sage ich und streichle den Hund, der mir mit warmer, rauer Zunge die Hände leckt. Misstrauisch mustert Er den Jungen. Der Schlüssel ist zu Boden gefallen und liegt zwischen uns auf dem Gehweg.
Heb ihn auf, befielt mein Verstand.
Ich glaube, es ist der richtige Augenblick, stimmt mein Gefühl zu. Endlich sind sie einer Meinung.



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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