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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Von Richy zu Richard
© Rudi Buchmann
Die Sonne steht im Zenit. Richard Melzer hat die Anhöhe erreicht und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Nun steht er nach zwanzig Jahren Heimweh wieder hier oben auf dem Kienberg. In der Feme sind noch die Reste alter Burgen zu sehen. Die Könige vergangener Zeiten hatten den Wald roden und neue Ansiedlungen gründen lassen. Um diese Zeit war auch das große Gehöft, das einstmals sein Elternhaus war, entstanden. Er war gerade mal fünfzehn Jahre alt, als seine Eltern nach Kemsey in Australien auswanderten. Das
Wiedersehen mit seiner Heimat hat er sich anders vorgestellt. Nicht nur das Gesicht der Landschaft hat sich verändert, auch fremde Menschen, deren Sprache er nicht versteht, haben von ihr Besitz ergriffen.
Mannshohes Buschwerk bedeckt jetzt die großen Äcker, wo früher um diese Jahreszeit goldgelbe Weizenfelder wogten. Der große Teich inmitten der Viehweiden erscheint ihm jetzt als eine kleine Pfütze, die sich in der Sonne spiegelt. Sein Blick folgt dem schmalen Bächlein, das sich silberglänzend durch die Flur schlängelt. Beeindruckt von der Schönheit der Landschaft wendet er sich dem ausgetretenen Pfad zu, der hinunter ins Tal führt.
Vor der breiten Einfahrt des Hofgutes verharrt er und betrachtet die mächtigen zwei Meter hohen Granitpfeiler, die einstmals schwere Holztore trugen, um ungebetenen Gästen den Zutritt zu verwehren. Richard geht geradewegs auf den Brunnentrog zu, der schon seit Urzeiten als Viehtränke dient. Der große Hofraum ist menschenleer. Die Farbe an dem einstmals schmucken Wohnhaus ist abgeblättert und im Vorgarten, wo früher Blumen ihre Pracht entfalteten, wuchert jetzt hohes Unkraut.
Richards Blick wandert über die Fensterreihen. Ein Kind drückt sich hinter einer vorhanglosen, verschmutzten Fensterscheibe die Nase platt.
Ein paar gackernde Hühner suchen aufgeregt das Weite, als er sich dem plätschernden Wasser aus den ausgehöhlten Baumstämmen nähert. Die alte Wasserleitung funktioniert also immer noch, stellt er erfreut fest.
Richard trinkt eine Handvoll von dem kühlenden Nass und lässt es über seine Unterarme laufen. Inzwischen hat sich ihm das Kind, ein kleines Mädchen, genähert. Es bleibt in respektvoller Entfernung stehen und kaut am Zipfel seiner karierten Schürze. Richard geht auf die Kleine zu. Er kramt in seinem verschütteten tschechischen Wortschatz.
"Jak se jmenujes - wie heißt du?" Statt einer Antwort, rennt die Angesprochene davon und verschwindet im Haus. Richard sieht, dass die Gardinen an den Fenstern zugezogen werden und er ist sich sicher: Er wird beobachtet.
Er streift das Wasser von den Armen und schultert den kleinen Wanderrucksack. Ohne sich noch einmal umzuschauen, wendet er sich dem Weg zwischen den Viehweiden zu.
Aus den schlanken Birken von damals sind mächtige Bäume geworden. Als kleiner Junge war er so hoch in ihre Wipfel geklettert, bis sie sich unter der ungewöhnlichen Last bis zur Erde neigten und er unsanft auf dem Hosenboden landete.
Richard, in seine Erinnerungen vertieft, lehnt sich an einen der Birkenstämme. Er war damals gerade mal zwei Jahre jünger als die Buben Fritz und Karl. Sie waren die Söhne des Tagelöhners Keller auf dem elterlichen Hof. Der Dritte im Bunde, Heinrich, war ein kräftiger Bursche, ein Jahr älter als die anderen. Er war der einzige Sohn des Schmiedemeisters Baumann. Zusammen mit den beiden Mädchen aus der Nachbarschaft, Waltraud und Inge, bildeten die Fünf eine verschworene Gemeinschaft. Sie lästerten und belächelten
Richards Klettervorführung an den Birken. Aber beim gemeinsamen Fischfang in dem kleinen Bach war Richard der Erfolgreichste. Oft überließ er ihnen die gesamte Beute und hoffte dadurch in ihre Clique aufgenommen zu werden.
Aber nichts änderte sich. Im Gegenteil, es wurde schlimmer, denn Richard und seine Schulfreundin Rosa waren unzertrennlich. Das war den drei Buben ein Dorn im Auge. Sie hänselten ihn bei jeder Gelegenheit. Doch Rosa, die hübsche Tochter eines Tagelöhners, sagte eines Tages zu
Richard: "Lass doch diese blöden Kerle. Komm, wir zwei machen etwas zusammen!" Das hörte Richard gern, denn Rosa war die beste Schülerin in der Klasse, Richard dagegen nur Mittelmaß. So ergab es sich, dass sie ihm nachmittags manchmal bei seinen Hausaufgaben half.
Heinrich war der unumstrittene Häuptling der Gruppe. Er schrieb heimlich Briefchen an Rosa und ließ sie ihr durch ihre kleineren Geschwister zukommen. Rosa hatte Schwierigkeiten, das schwülstige Gekritzel zu entziffern, in dem Heinrich sie geradezu anflehte, sich seiner Bande anzuschließen. Rosa bog sich vor Lachen, wenn sie in einem einzigen Wort mehrere Schreibfehler entdeckte. Einige Wochen später bekamen Waltraud und Inge Wind von Heinrichs Buhlen um Rosas Gunst und die Gemeinschaft zerfiel. Die drei Buben
konnten nun getrennt von den "Weibern", wie sie lauthals verkündeten, endlich ihre Streifzüge weiter ausdehnen.
Richard schaut auf die Uhr, löst sich mit einem Ruck von dem Stamm, setzt seinen Weg zwischen den Weiden fort und erreicht eine kleine Steinbrücke, unter der das schmale Gewässer den Wiesen zustrebt. Das hölzerne Brückengeländer ist zusammengebrochen und liegt verfault im Gras. In unmittelbarer Nähe am Wegrand haben die neuen Besitzer kräftige Pfähle bis auf Kniehöhe in die Erde gerammt, eine Eichenbohle darauf gelegt und festgenagelt. Richard lässt sich auf der Bohle nieder und sieht versonnen dem Spiel der
Wellen zu. Da sind noch die Verbreiterungen im Bachbett zu sehen, welche die Väter damals ausgeschachtet hatten, um das Wasser mit Dielen aufzustauen. "Das ist euer Freibad!" hatten sie zu ihren Buben gesagt, die sich sofort hinein stürzten.
Die Ruhe ringsum und das Blubbern des schnell dahin fließenden Wassers wirkt beruhigend auf Richards Gemüt. So sitzt er, den Oberkörper vorgebeugt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, eine Weile unbeweglich da und träumt.
Menschliche Stimmen dringen an seine Ohren und reißen ihn aus seinen Erinnerungen heraus. Er sieht zwei Männer und drei Frauen auf sich zukommen.
Sie sind offensichtlich auf dem Nachhauseweg von ihrer Feldarbeit. Von ihrer lautstarken Unterhaltung versteht er nur ein paar Brocken, die er noch von früher behalten hat. Die Männer gehen grußlos und mit mürrischen Gesichtern an ihm vorbei. "Dobre den", grüßt eine rundliche junge Frau im Vorbeigehen. Richard nickt ihr zu. Die Männer in zerschlissenen Hosen und schmutzigen kragenlosen Hemden tragen Sensen auf den Schultern. Eine alte Frau schlurft mit nackten Füßen in viel zu großen Sandalen hinterher.
Das Gespräch der Männer ist in ein Murmeln übergegangen.
"Nemetzki Kapitalista", kann Richard gerade noch hören, als sie in Richtung Hof trotten.
Er erhebt sich und schlüpft durch die Zwischenräume der Holzstangen, die als Weidezaun dienen. Damals spielten die Jungs Fußball hier in der Koppel, nur er durfte nicht mitmachen. War einmal ein Ball außerhalb des Spielfeldes geraten, nutzte er sofort die Gelegenheit, um mitspielen zu können.
In Gedanken versunken nähert sich Richard einem mit Schilf und Riedgras umsäumten Teich. Er stutzt und lächelt. Wie war das eigentlich damals mit dem Teich? Oder vielmehr in dem Teich! Nach ein paar Schritten wird der Untergrund weich und Richard sinkt knöcheltief in den glucksenden Morast ein, bis er endlich am Ufer steht. Und jetzt weiß er wieder, wie das damals war.
Als vollwertiges Mitglied der Bande anzugehören, verdankte er dem absoluten Badeverbot in dem Teich. Das Verbot wurde verhängt, nachdem sich ein junger Bursche, eigentlich ein guter Schwimmer, in den Schlinggewächsen verheddert hatte und ertrunken war.
Der Zufall wollte es, dass eines Tages das Leder von einem der Spieler mitten in den Teich getreten wurde. Fritz und Karl holten Holzstangen herbei, die aber viel zu kurz waren. Daraufhin versuchten sie den Ball mit Steinen zu treffen, um ihn so an das andere Ufer zu treiben. Ohne ein Wort zu sagen war Richard weggerannt. Im Holzschuppen hinter dem Haus lehnten noch die Bretter auf denen er oft, ohne ein einziges Mal abzusaufen, in dem "Freibad" herum geschwommen war. Er nahm das breiteste Brett und
hastete zum Teich zurück.
Der Ball tanzte immer noch auf der Wasseroberfläche. Die Buben hatten es bereits aufgegeben nach ihm zu werfen. Vorsichtig war Richard ein paar Schritte durch das schlammige Ufer gewatet und hatte sich, mit dem Brett unter dem Bauch, flach aufs Wasser gelegt. Die Buben schrieen: "He, Richy, lass den Blödsinn! Komm zurück!", doch sie konnten ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen. Ein beklemmendes Gefühl befiel ihn dann doch, als er unter sich Wasserpflanzen sah, die sich gespenstisch bewegten und sich
um seine Füße schlangen. In seiner Angst strampelte Richard heftig mit den Beinen und schluckte Wasser. Hustend und prustend gelang es ihm schließlich, den Fangarmen, die ihn in die Tiefe zu ziehen drohten, zu entkommen.
Nur mit den Händen paddelnd hatte er den Ball erreicht und trieb ihn vor sich her dem Ufer zu. Mit lautem Johlen wurde er empfangen. Triefend nass wie er war, durfte er sofort mitspielen und wurde als Held gefeiert. Weniger erfreulich begann für Richard der Abend. Sein Vater hatte von seiner Tat erfahren, verabreichte ihm eine Tracht Prügel und verdonnerte ihn zu drei Tagen Stubenarrest. Richard ertrug die Strafe ohne Murren. Er war als "Richy" ins kalte Wasser gesprungen und als "Richard"
wieder aufgetaucht.
Richard schaut noch lange auf die mit Grünalgen überwucherte Wasserfläche. Als sich die Abendsonne matt darin zu spiegeln beginnt, geht er den langen Weg zur Bushaltestelle zurück. Noch einmal wendet er sich seinem alten Elternhaus zu. Er sieht, wie ihm das kleine Mädchen hinter der Fensterscheibe mit einer zaghaften Handbewegung zuwinkt. "Dobrý vecer" murmelt Richard und winkt zurück.
Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.