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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Frauen

© Thomas Hocke & Sabina Luger


- 1 -
Die weißen Striche auf der Fahrbahnmitte drohen zur Linie zu werden. Ich brauche einen Kaffee. Eine halbe Stunde Schlaf. Nicht daran zu denken. Stau hinter Frankfurt. Und das mitten in der Nacht. Mein Zeitplan ist im Arsch. Die Uhr sagt unerbittlich: weiter! Im Morgengrauen muss angeliefert sein.
Ich denke an Marie. Mein Job passt ihr nicht. Zu anstrengend. Zu gefährlich. Zu wenig Zeit fürs Theologie-Studium. Zu wenig Zeit für Marie. Beziehungskrise als Dauerzustand. Aber die potenten Sponsoren wachsen nicht auf den Bäumen, also fahre ich einen Lieferwagen.
Kein passender Sender zu finden. Keine Musik, die das zähe Blut schneller kreisen lässt. Mit einer Hand öffne ich die Verpackung des letzten Schokoriegels. Schiebe das Teil in den Mund. Vor mir rote Lichter. Grellrot.
Quietschen, ich komme zum Stehen. Ein Knall. Die Ladung ist gegen die Trennwand zum Fahrerhaus geflogen. Zu spät dran gewesen, um die Haltegurte anzubringen. Aber das Ersatzteil in der Kiste ist gut verpackt.
Wieder einmal geht nichts. Die zweispurige Lichterschlange teilt sich wie einst für Moses das Rote Meer. Durch die Gasse kämpfen sich grün-weiße Wagen mit blinkenden Sirenen. Ihnen folgen rot-weiße. Die Katastrophe ist nicht mehr abzuwenden. Morgen wird die Produktionslinie in Bremen stillstehen. Denn der Kolbenzylinder für die Pressmaschine sitzt im Stau fest.
Meine Müdigkeit ist verflogen. Hastig schaue ich die Generalkarte durch. Krame in meiner gelben Postkiste nach dem passenden Regional-Atlas. Nächste Ausfahrt - und über Land. Zwanzig Kilometer. Dann wieder Autobahn.
Soll ich? Okay, ohne Einsatz kein Erfolg. Ohne rechtzeitige Ankunft keine Zahnpasta aus Bremen. Und keine Bezahlung meiner Fahrt. Tausend Euro beim Teufel. Ich setze den Blinker. Rechte Spur. Standspur. Hoffentlich sehen die Grünen das nicht.
- 2 -
Ich komme durch zur Abfahrt. Habe Mühe, mich auf die Beschilderung zu konzentrieren. Die Richtung müsste stimmen. Die Landstraße ist stark befahren. Klar. Viele schlagen sich hier durch die Büsche. Ein Stück vor mir Blaulicht. Eine Sperre. Und ein Polizist mit Kelle.
"Nein. Verdammt, sag mir, dass das nicht wahr ist!"
Es ist wahr. Ein Unfall auf der Ausweiche. Ich werde zu einer weiteren Umleitung geschickt. Die frische Luft zieht durchs offene Fenster. Ich schalte die Innenbeleuchtung an, schlage in der Karte nach. Als Kurier kann ich fahren und lesen.
Shit! Irgendwo bin ich falsch abgebogen. Die Zeit rinnt davon. Am liebsten würde ich ins Lenkrad beißen.
Eine Ortsdurchfahrt. Ich blättere im Atlas. Werde von Seite 162 auf Seite 179 verwiesen. Wenn ich diesen Trip überstanden habe, gibt es ein Navigationssystem. Scheiß auf die Kosten. Besser als durch irgendwelche Kaffs zu düsen, die niemand kennt. Die niemand kennen will. In denen niemand wohnen will. Trostlose Häuseransammlungen mitten im Ödland. Und dazu ist es brettflach. Das macht es noch öder.
Was ist da vorne wieder? Ich will keine Komplikationen mehr. Da steht jemand am Straßenrand. Neben einem geparkten Auto. Der Jemand winkt. Lass mich in Ruh, verdammt! Aber wenn der Hilfe braucht, und ich fahre weiter, könnte ich ein Problem kriegen.
"Ja?"
"Ich habe eine Panne, mein Herr. Würden Sie mich bitte nach Hause bringen?"
"Wo ist das?"
"Ich zeige Ihnen den Weg."
"Soll ich nicht übers Handy den Pannendienst rufen? Ich hab's eilig."
"Die Gegend hier erlaubt keine Verbindung."
"Gibt's das noch?"
"Häufiger, als man so denkt."
Ich öffne die Beifahrertür und sogleich sitzt neben mir ein kleiner, betagter Mann mit Strohhut. Er blinzelt mich aus grüngrauen Äuglein an.
- 3 -
Dann lüftet er den Hut. Und weißes Haar leuchtet neben mir.
"Mein Name ist Rafael Seligmann. Sehr angenehm, junger Freund. Ich würde Ihnen gerne die Hand schütteln, aber dann müssten Sie das Steuer sich selbst überlassen."
"Tim Hupfer. Ich kann gut einhändig fahren."
Er drückt meine dargebotene Hand. Nicht übel, für einen so betagten Menschen. Vielleicht war er mal Kraftsportler. Mein Großvater fällt mir ein. Der hievte mit Achtzig noch Hanteln.
"Sagen Sie mir, wo's lang geht", fordere ich ihn auf.
"Sehr gerne. Erst einmal der Nase nach."
"Wird das ein großer Umweg?"
"Für mich nicht, junger Herr."
Hab ich heute meine soziale Nacht oder warum lasse ich mir das gefallen? Und überhaupt.
"Was ist das für ein komisches Auto, das Sie fahren?", frage ich.
"Das ist ein Ariel. Manchmal hat er seine Mucken."
"Nie gehört."
Ich kenne ein Waschmittel, das so heißt. Es ist eben alles nur geklaut. Es ist alles nur geklaut, yeah, yeah. Kein Grund, gut drauf zu sein. Bremen um sechs Uhr früh kann ich vergessen. Lasst alle Hoffnung fahren! Scheiß drauf, yeah!
Der Alte neben mir lächelt, als wüsste er, was ich denke.
"Herr Seligmann, Sie fahren noch selbst?"
"Man fragt einen Herrn nicht, wie alt er ist."
"Eine Frau fragt man nicht."
"Erst recht nicht."
Damit ist die Sache erledigt. Ich werde nie erfahren, ob ich erstmalig mit einem Hundertjährigen gesprochen habe. Mich überkommt eine Ahnung, dass der rüstige Greis älter ist als die hohen Bäume, die rechts und links im Lichtkegel auftauchen.
"Komisch", murmele ich.
"Was denn, Herr Hupfer?"
"Bin ich blöd? Keine Katzenaugen mehr am Straßenrand."
"Ich sehe auch keine."
"Komisch."
Schmaler scheint sie auch geworden zu sein, die Straße. Natürlich gibt es Straßen niederer Ordnung ohne Katzenaugen. Aber wir sind gar nicht abgebogen.
"Jetzt rechts, junger Freund."
"Zu Befehl, Sir."
Ein wenig ungestüm reiße ich den Wagen in die Seitenstraße, es rumpelt wieder im Laderaum. Und es rumpelt unter den Rädern. Kopfsteinpflaster! Der Mensch neben mir lächelt, obwohl wir durchgeschüttelt werden wie zwei Erbsensäcke.
"Sind wir bald da?"
"Gemach, junger Freund."
"Oder Ungemach."
"Sie sind Pessimist. Ihre Schlagfertigkeit hingegen ist passabel."
"Ich studiere evangelische Theologie. Der Kurierbetrieb ist mein Broterwerb."
"Ich mag junge Menschen, die etwas unternehmen."
"Manche übernehmen sich dabei auch."
Sein Lächeln verstärkt sich. Vermutlich, weil die einzelnen Worte wie Sprachkiesel aus meinem Mund kullern, dank der Rüttelpiste.
- 4 -
Ich mustere die Instrumente. Die Tankanzeige. Alles okay, das reicht. Dann die Uhr. Aus die Maus. Nur ein Wunder bringt mich noch rechtzeitig nach Bremen.
"Es ist nicht mehr weit. Noch einmal rechts ab, junger Freund."
"Meine Lieferung kann ich vergessen."
"Heißt das, Sie sind geliefert?"
"Das ist nicht witzig."
Am liebsten würde ich den Alten aus dem Wagen schubsen. Meine Stimmung ist wieder im Keller. Wieso war ich vorhin überhaupt so gut drauf, angesichts des Desasters? Misstrauisch werfe ich einen Seitenblick auf das Hutzelmännchen. Der Blick prallt ab, das Männchen hat nicht einmal einen Kratzer.
Jetzt fährt es sich besser. Weil schlicht kein Straßenbelag mehr vorhanden ist. Eine Art Feldweg, jedoch nicht holperig. Zwei gelbe Spuren. Sehr sandige Gegend. Das Knirschen, wenn ich den Mund schließe, muss Einbildung sein. Ich kurbele die Fensterscheibe zur Hälfte hoch.
"Wir sind angekommen, junger Freund."
Ich starre in die Nacht. Kein Licht weit und breit. Wenn man von der heute kreisrunden Himmelslampe absieht. Wir stehen bei einem hohen Feld. Die Uhr zeigt mir eine ziemlich sichere Vertragsstrafe an. Nicht mehr zu ändern. Der alte Mann steigt aus und winkt. Ich folge ihm.
Die Luft ist mildwürzig. Und der Wind bewegt silberglänzende Ähren. Noch nie habe ich ein so hohes Weizenfeld gesehen. So hoch, dass ich kaum darüber schauen kann. Ist das überhaupt Weizen? Bio-Anbau offenbar. Langhalmige Sorte. Der Wind lässt das Feld rauschen. Wo die alten Felder rauschen. Oder waren es Wälder? Ich kratze mich am Kopf. Mehr lässt sich nicht tun, wenn sowieso alles seltsam ist.
"Kommen Sie. Kommen Sie, mein Freund."
Leise und freundlich klingt die Stimme des rüstigen Greises. Er fasst mich an der Schulter, als ich stehen bleibe. Seitlich noch einmal ein Pfad. Zu schmal für meinen Lieferwagen. Eine Baumgruppe stellt ihre Schatten gegen den Himmel. Ein Uhu krächzt. Hoffentlich ist es kein Totengesang. Dann ein Haus, strohgedeckt, mit kleinen Fenstern, aus denen ein warmer Schimmer dringt. Ein richtiges Hexenhaus.
"Treten Sie ein, junger Freund", sagt mein Begleiter.
Wir sind in einem Raum aus roh behauenem Stein, in der Mitte ein großer Tisch. Und vor mir eine junge Frau.
"Vater, du bist spät!"
"Der Ariel streikt wieder einmal."
"Auf einen Gast bin ich nicht vorbereitet." Sie wendet sich an mich: "Das Abendmahl ist sehr einfach."
"Lilith, mein Kind, du machst es schon richtig", beschwichtigt Herr Seligmann.
"Ich muss weiter."
Mein letzter Versuch, mich dem Sog zu entziehen.
"Sie sind hungrig und müde, lieber Herr Hupfer."
Er hat Recht. Jede Hektik ist jetzt absurd.
- 5 -
Das schwarzhaarige Mädchen mustert mich mit einem Feuerblick, der mir die Nackenhaare aufstellt. Lilith Seligmann also.
Mein Erstaunen verstärkt sich, als durch die Tür eine zweite junge Frau kommt. Man heißt mich, Platz zu nehmen, und ich muss mich auch setzen, angesichts zweier solcher Schönheiten. Die andere Tochter ist blond und heißt Eva. Sie lächelt. In ihrem Lächeln erkenne ich den alten Mann. Lilith hingegen zieht einen Schmollmund und verschießt kleine Augenblitze.
Aus einem Backofen zieht sie einen riesigen Fladen, der sicher auch für sechs Personen ausreichen würde und der verdächtig einer Steinofenpizza ähnelt, wie es sie im "Hades" gibt. Eva breitet derweil ein rot-weiß kariertes Tischtuch aus und stellt Holzteller darauf. Ihre Bewegungen sind grazil. Ihr Blick hat etwas geradezu Engelhaftes. Wenn man an Engel glaubt.
"Seien Sie unser Schlafgast", sagt der alte Rafael.
"Am besten verstecke ich mich hier für längere Zeit, damit meine Auftraggeber mich nicht finden. Die haben ein fettes Huhn mit mir zu rupfen."
Meine letzten Worte sind von deutlichem Kaugeräusch begleitet. Diese Pizza mit Gemüsebelag ist ausgezeichnet. Und man kann davon so viele Stücke abschneiden wie man will, sie wird nicht kleiner. Ähnliches scheint für den Rotwein zu gelten, den sie mir immer wieder aus derselben Flasche nachschenken. Nach etwa sieben Dreiecken Gemüsepizza und - umgerechnet - einem Benzinkanister Rebensaft gebe ich den Versuch auf, Hermes, den Gott der Kuriere, mit "alles aufessen" gnädig stimmen zu wollen, und lasse mir das Nachtlager weisen. Meine Schritte sind schwer, meine Gedanken auch.
Ein rustikales Daunenbett erwartet mich. Durchs Fenster links schimmern tausend Sterne, durchs rechte lugt ein runder Mond. Womit habe ich gerechnet? Sicher nicht mit den ungleichen Schwestern. Eva stellt eine Schüssel und einen Waschkrug auf den Fenstersims. Lilith legt etwas daneben, das ein Morgenmantel sein könnte.
"Schlafen Sie gut, Herr Hupfer", sagt Eva leise und küsst mich sanft auf die Wange.
"Süße Träume, später Gast", haucht Lilith mit heiserem Unterton in der Stimme, drückt ihre Lippen für eine Sekunde auf meine - und beide sind verschwunden.
- 6 -
Ins Zimmer drängt sich ein gelber Sonnenstrahl, erklimmt die Bettdecke, dann mein Kinn. Findet meine Nasenspitze, kitzelt sie. Ich niese und stehe auf. Das Wasser im Krug ist klar und kühl. Das Frühstück erwartet mich. Schinken, Eier und Speck. Frische Milch. Und Rafael Seligmann. Er trägt ein Baumwollhemd und eine blaue Latzhose. Gut passt dazu der Strohhut, den er schon in der Nacht aufhatte.
"Guten Morgen, Freund. Wie war Ihr Schlaf?"
"Steinmäßig."
"Das ist gut."
"Ich werde mächtigen Ärger kriegen."
"Ein Grund, sich zu stärken. Greifen Sie zu."
Wie erwartet - ich kann so viel in mich stopfen, wie ich will. Das Essen wird nicht weniger. Die haben den Dreh raus, der Inflation ein Schnippchen zu schlagen. Wenn ich dahinter komme, wie sie das anstellen, ist es die verpatzte Dienstfahrt wert. Vater Seligmann verabschiedet sich. Bald darauf höre ich, wie ein Wagen vorbeirumpelt. Ein Pferdewagen. Ich kratze mich wieder einmal am Kopf.
"Guten Morgen, Herr Hupfer!"
"Hallo Eva. Setz dich zu mir."
"Ich hab schon gefrühstückt. Gehen wir spazieren?"
"Ich spaziere in den Schuldenturm, wenn ich nicht bald was wegen meiner Fracht unternehme."
"Es gibt eine Zeit für die Last und eine Zeit, sich von aller Last frei zu machen."
"So kann man's auch sehen."
Blau ist das Kleid, das sie trägt. Und blond die Haare, die sie gebunden hat. Selten habe ich ein so schönes Mädchen gesehen. Mein Blick fällt von den schlanken Beinen auf ihre Füße. Turnschuhe. Ich kratze mich am Kopf. Aber man kann mit solchen Tretern gut über Wiesen und Felder laufen.
Eva hat meine Hand genommen, der Griff ist fest. Und trocken. Es wirkt, als habe sie seit langem gewusst, dass wir über dieses seltsam unberührte Land laufen werden, in der Morgensonne, der beachtlich warmen Morgensonne. Sie verhält auf einer kleinen Brücke, die über einen plätschernden Bach führt.
"Ist es nicht herrlich hier?"
"Cool. Aber ich krieg echten Trouble, wenn ich nicht schaue, dass ich wegkomme. Gibst du mir deine Handynummer?"
"Tim - willst du das wirklich?"
"Die Nummer?"
"Weggehen."
Ihre blauen Augen leuchten mich an. Und ihre Lippen sind weich, süß und rund wie Pfirsiche von Bioform.
"Ach, da seid ihr, ihr Turteltäubchen!"
Lilith steigt von einem schwarzen Pferd. Sie trägt Jeans und ein auffallend freizügiges Oberteil. Ihre Zähne blitzen in der Sonne und ihre Augen sprühen. Sie streicht mit der Hand durch die langen Haare.
"Eva, du sollst zu Vater kommen, du bist heute dran mit Wäsche plätten. Vergessen?"
Bekümmert schaut Eva mich an. Dann rennt sie in Richtung des Hauses, ohne ein Wort. Ihr blondes Haar, ihr blaues Kleid leuchten zwischen senfgelben Ähren.
"Gefällt sie dir, meine kleine Schwester?"
"Klein?"
"Sie ist zwei Zentimeter kleiner als ich. Und ein gutes Stück jünger."
"Du bist wirklich ne alte Frau."
"Jedenfalls nicht so grün wie du."
Sie steht vor mir, die Arme in die Hüften gestemmt. Vielleicht ist sie geliftet und in Wirklichkeit fünfzig. Oder hundertfünfzig. Meine Hände werden dennoch feucht.
"Vielleicht sollten wir zwei Hübschen jetzt wandern", sagt sie. "Lauf nach Hause, Luzifer, lauf!"
Sie gibt dem Pferd einen Klaps auf den Hintern. Und wirklich trabt der Schwarze in die befohlene Richtung. Ich kann mich gerade noch beherrschen - und kratze mich nicht am Kopf. Lilith zieht ihre Reitstiefel aus und lässt sie auf der Brücke liegen.
"Hier wird nichts geklaut", beantwortet sie mein erstauntes Heben der Augenbrauen.
Gekonnt setzt sie einen wohlgeformten Fuß vor den anderen, als schritte sie nicht durch die Natur, sondern auf einem Catwalk. Ihr Gang hat viel Katzenhaftes.
"Barfuß spürt man mehr von der Natur. Probier's mal."
"Ich hab nicht das Horn an den Sohlen für solche Experimente."
"Hasenfuß."
"Weicher Fuß, eher. Na gut."
"Ein Bruder Leichtfuß bist du sicher nicht."
"Ach was."
"Oder doch?"
Sie lacht mich an. Mit einem Mal spüre ich ihren Atem. Er riecht nach einer exotischen Pflanze. Ihre Zunge schiebt sich gegen meine. Normalerweise wäre ich jetzt bei Kassel, auf der Rückfahrt.
"Tim. Willst du mit mir schlafen?"
Wir liegen nebeneinander im tiefen Gras einer Weide, die lange keine Kuh gesehen hat. Über uns der Himmel, blau und endlos. Ich beobachte ihre Brüste, die sich heben und senken.
"Wenn wir uns lieben, Tim, dann wird das Konsequenzen haben. Ist dir das klar?"
"Hm."
"Mit mir treibt man keine Spiele. Ich bin nicht die süße Eva."
"Ich habe nicht mit ihr gespielt ..."
Sie macht eine unwirsche Handbewegung und setzt sich auf. Schaut geradeaus.
"Du willst nicht verstehen. Du bist ein Feigling, Tim. Wie alle Männer."
"Ich verstehe nur nicht, was hier abgeht."
"Das ist offensichtlich."
Ich sollte die Füße unter die Arme klemmen und mich im wörtlichen Sinn vom Acker machen. Ein fingernagelgroßes Stück Restvernunft sagt mir das überdeutlich.
- 7 -
"Lass uns zum Haus gehen", sage ich leise.
"Verschwinde, Tim. Verschwinde, kleiner Junge. Und komm nie, niemals wieder!"
Lilith springt auf. Ich unterdrücke den Impuls, ihr zu folgen. Schließlich bin ich niemandem nachgelaufen, sondern habe bei einer Panne geholfen. Und ich habe um nichts gebeten.
"Herr Seligmann - es ist wundervoll hier. Große Gastfreundschaft, von Ihnen und ihren reizenden Töchtern. Aber ich muss - in meine Welt, um es mal so zu sagen."
"Ich begreife Sie gut, junger Freund."
"Und ... wenn ich hier geblieben wäre?"
Er lächelt, der alte Mann mit dem breitkrempigen Strohhut. Und wünscht mir Glück. Ohne mich noch einmal umzudrehen, mache ich mich auf den Weg. Ich wage den Blick nicht. Den Blick auf das sonderbare, kleine Steinhaus mit dem hellen Dach, das inmitten der wogenden Felder steht. Die Sonne ist im Zenit, als ich beim Lieferwagen ankomme. Alles scheint in Ordnung.
Gerade will ich einsteigen, da sehe ich etwas zwischen den Getreidehalmen. Es leuchtet blau und blond.
"Eva!"
"Du willst uns tatsächlich verlassen? Hat meine Schwester dich so verärgert?"
"Was ... was findet ihr eigentlich an mir?"
"Ist das so wichtig?"
"Mir schon."
"Ihr Männer seid schwierig. Nehmt es nie, wie es kommt. Tim? Ich würde dich lieben. Ohne Bedingungen."
"Das geht nicht."
"Wieso nicht?"
"Weil ..."
Mir fällt kein guter Grund ein. Und die Zeit des Nachdenkens scheint vorbei. Blaue Augen sehen mich an, zwei Perlen zum Glück. Zwischen mir und gestern liegt eine Ewigkeit, liegt ein Ozean von Träumen, liegt eine Flut, die ich nicht bändigen kann. Ich steige ins Auto. Nehme das Feuerzeug aus dem Handschuhfach. Nehme eine Zeitschrift aus der Seitenablage, zünde sie an. Öffne die Motorhaube. Das Titelbild verkohlt. Ich werfe das brennende Papier auf die Mechanik.
"Komm, Eva, wir müssen weg!"
Hand in Hand rennen wir den Weg entlang, halten an, keuchend. Ich drücke das blonde Mädchen ins Korn.
"Tim", flüstert sie. "Tim!"
Mit zärtlichen Bewegungen entfernt sie Weizenhalme von meinem T-Shirt und der Hose. Und sagt, dass sie mich liebt. Etwas in mir verbietet es, dieses Bekenntnis zu erwidern. Ich beiße auf meine Unterlippe. Ihr trauriger Blick trifft mich mehr, als mich jemals eine menschliche Regung berührt hat. Verzweiflung ist das Wort. Sie ist ein Engel, zum Verzweifeln schön. Zum Verzweifeln liebenswert. Am Nachmittag gestehe ich dem alten Herrn, was geschehen ist.
"Ich hoffe, Sie sind nicht entsetzt, Herr Seligmann?"
"Nein. Es liegt alles in guter Hand."
"Aber die Dinge entwickeln sich anders, als Sie es sich vorgestellt haben, nicht?"
"Haben Sie Lust auf eine Partie Schach, junger Freund?"
Das Spiel scheint endlos. Und am Ende bin ich matt. Todmüde. Dabei ist es früh am Abend, es gab noch keine Pizza. Ich muss Seligmann fragen, was es mit der Unaufessbarkeit auf sich hat. Morgen. Morgen ist ein guter Tag dafür. Ich warte. Warte darauf, dass Eva mir gute Nacht sagt. Doch sie kommt nicht. Keines der Mädchen besucht mich.
8 -
Morgen beginnt nicht in der Früh. Kein Sonnenstrahl kitzelt mein Kinn. Vielmehr habe ich den Eindruck, das kratzige Stroh unter dem Betttuch hat mich vorzeitig aufgeweckt. Ich fühle mich wie jemand, der seinen einzigen nennenswerten Besitz verfeuert hat, für ein Gefühl von Verzweiflung und Trauer - und für einen Fingerhut voll Hoffnung.
Ich schaue nach draußen. Die Luft scheint zu vibrieren, scheint dicht, als könne man sie mit einem Messer zerteilen. Keine Sterne. Kein Mondlicht. Tiefschwarzer Himmel. Es ist eine Sommernacht. Eine wolkenverhangene, verzehrend heiße Sommernacht!
"Hallo Tim."
Mit Anstrengung erkenne ich eine Silhouette. Der Wind weht lange Haarschatten um die Figur. Ich hatte die Tür doch abgeschlossen!
"Lilith!"
"Du hättest nicht zurückkommen dürfen."
"Wo ist Eva?"
"Eva geht es gut."
"Was ... was heißt das?"
"Nur wir beide, Tim."
"Allein?"
"Ja, allein, so allein zu zweit, wie man nur sein kann!"
Die letzten Worte presst sie heraus mit einer Stimme, die mich erschauern lässt. Ich stehe auf, gehe auf sie zu.
"Bleib weg von mir!"
"Aber ..."
"Ich weiß, was du gestern getan hast. Du liebst sie doch gar nicht!"
"Vielleicht doch."
"Vielleicht? Vielleicht! Du Abziehbild von einem Mann! Ich hasse dich!"
Ein erstickter Ton entfährt ihr, dann verschwindet ihr Schatten. Ich zögere eine Sekunde, bevor ich nach draußen renne. Erste, schwere Tropfen fallen vom Himmel.
"Lilith! Lilith! Verdammt! Komm her! Lilith! LILITH!"
Ich horche. Nichts.
Doch - das Getrappel von Hufen. Es gelingt mir, ins Zaumzeug zu greifen. Der Schwarze bäumt sich auf, Lilith versucht, sich festzuhalten. Im Fallen fange ich sie auf. Sie wehrt sich nicht. Ihre Augen sind geschlossen.
"Lieb mich", flüstert sie. "So, wie du noch keine Frau geliebt hast. Und wenn es unser einziges Mal bleiben wird."
"Unser ...?"
"Frag nicht. Wir haben nicht viel Zeit!"
Ich trage sie ins Haus, ihre Finger krallen sich in meine Arme. Ich steige mit ihr hinauf in das kleine Zimmer, das mich seit zwei Nächten beherbergt. Widerstandslos bleibt sie auf dem Bett liegen. Vorsichtig entkleide ich sie. Ihre Augen sind noch immer geschlossen. Ihre Lippen beben.
In dem Moment, als ich sie nehmen will, zuckt ein Blitz durch die Nacht. Und der Regen prasselt aufs Dach. Lilith funkelt mich an. Schiebt sich auf mich. Drückt mich auf das Lager.
"Du wirst still liegen, hörst du? Ganz still!", flüstert sie heiser.
Liliths schlanke Gestalt hebt sich gegen die Steinwände ab, gegen die dunklen Wände, stemmt sich gegen die Nacht, gegen den grollenden Donner. Sie bewegt sich, immer heftiger wird ihr Rhythmus. Ich schließe die Augen. Lasse mich treiben bis zum Horizont, bis hinter den Horizont. Und sehe ein Bild vor mir. Das Bild einer Frau. Versuche, es festzuhalten. Es gelingt mir nicht. Ein Aufschrei vertreibt die letzten Konturen des Bildes.
"Gott! Adam!"
Ich muss mich verhört haben.
"Wer, zur Hölle, ist Adam?"
"Unwichtig", keucht sie.
Das Dach kann die Wassermassen nicht mehr abhalten. Tropfen rinnen auf mich herab, doch sie kühlen nicht. Tropfen benetzen meinen Körper, doch sie lindern nicht das Brennen in mir. Ich versuche, mich von Lilith zu lösen, aber sie hält mich mit eisernem Griff nieder. Ich gebe auf. Im Donner des großen Wetters gehe ich unter.
- 9 -
Ich stürze aus dem Haus, renne den Pfad entlang, das Wasser geht nieder, als wolle es die Felder, als wolle es die ganze Welt fortschwemmen. Ich nehme kaum etwas wahr, stolpere, richte mich wieder auf.
Abrupt bleibe ich stehen. Ein weißer Kasten leuchtet zwischen den senfbraunen, niedergedrückten Halmen hervor. Eine Blechkiste. Hastig suche ich meine Schlüssel. Sie sind noch in der Hosentasche! Ich sperre die Fahrertür auf und setze mich ins Auto. Von außen prasselt der Regen. Meine Zähne klappern.
Nach einer Zeit lasse ich den Motor an. Er läuft, als hätte ich nicht gestern versucht, ihn zu ermorden. Es dauert keine fünf Minuten, bis es warm ist im Führerhaus. Wieso ist das Auto noch okay? Kein Regen der Welt kann mich davon abhalten, nachzudenken. Die Klappe des Motorraums ist geschlossen. Ich öffne das Fenster der Beifahrertür, spähe hinaus. Ein aufgeweichtes, verkohltes Häufchen liegt rechts neben dem Wagen. Mein Playboy-Heft. Sonst nichts. Ich habe eine Idee, wer eingegriffen hat. Er war immer in der Nähe. Er war nicht weit, als ich mit den schönen Mädchen wanderte, nicht weit, als Eva mir ihre Liebe schenkte, ganz nah, als Lilith mir die Sinne raubte.
Ich schaue mich um. Feldeinsamkeit. Sonst nichts. Der Regen fällt jetzt stetig. Ich setze zurück, wende den Wagen an der nächstmöglichen Stelle. Der Weg. Die kleine Straße mit dem Kopfsteinpflaster. Die Landstraße. Die Bundesstraße. Ein Schild mit der Autobahnauffahrt. Mein Handy liegt in der Ablage unter dem Lenkrad. Es zeigt vollen Empfang.
Es ist ganz einfach, den Weg zu finden. Was wird mein Lieferwagen einbringen? Sicher genug, um die letzten Raten zu begleichen. Ich werde mich bei Marie melden. Werde ihr sagen, dass ich mich entschieden habe. Gegen die langen, gefährlichen Fahrten durch die Nacht. Werde ihr alles sagen. Sie wird toben. Wird tagelang schweigen. Dann wird sie verzeihen. Und ihre sanften braunen Augen werden leuchten, wenn ich ihr von einem kleinen Pfarrhaus im weiten, flachen Land erzählen werde; umgeben von wogenden Feldern, mit nichts als dem Himmel darüber.
Noch dreihundert Meter bis zur Auffahrt.
Am Straßenrand steht jemand. Der Jemand winkt. Ich gebe Vollgas. Im Rückspiegel wird die Figur kleiner.



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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