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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Zeitloses Inventar
© Tobias Sommer
Die Frage kam nicht unerwartet. Ich war wehrlos, obwohl ich wusste, dass sie kommen würde, früher oder später. Auch zwölf Monate später wirft das letzte Wort den Rhythmus ihres Satzes durcheinander, fordert eine Einschränkung, die ich nicht verstehe und eine Antwort, die ich nie gab. Es schmerzt.
Ich erinnere mich, wie es nur bei bestimmten Erlebnissen möglich ist. Wie eine Mutter, die sich an jede Einzelheit vom Tag der Geburt ihres Kindes erinnert, sehe ich unsere Abreise, in einer Genauigkeit, die ein Vergessen unmöglich macht. Mein Sportpullover, der rau und unpassend auf ihrer Haut wirkte, das Morgenlicht, das ich bereits vor dem Klingeln des Weckers durch die Ritzen der Jalousien herbeisehnte. Während ich vor dem Auto stand, auf ein abschließendes Zeichen wartend, spürte ich die Strahlen, die einen
heißen Julitag ankündigten, in meinem Gesicht, strich mit dem Finger durch den feinen Film aus Tau auf der Fensterscheibe und dachte an das Wort Aufbruchstimmung. Es verband sich nahtlos mit einer Reihe sorgfältig verschnürter und beschrifteter Koffer vor dem BMW meiner Eltern, eine andere Erinnerung.
Wir waren kaum unsere Auffahrt hinabgerollt, als der Rasierschaum, das Obst auf der Herdablage, das Buch auf dem Nachttisch sich in meine Erinnerungen drängten; ich weigerte mich, weiter nach Dingen zu suchen, für die ich früher unweigerlich zurückgefahren wäre. Kaum hatte ich diesen Entschluss gefasst, öffnete sie die Beifahrertür, wartete nicht, bis der Wagen stand und lief zu unserer Wohnung, um fünf Minuten später wieder neben mir zu sitzen. Heute bin ich mir sicher, dass es eine Träne war, die sie aus ihrem
Augenwinkel wischte, bevor sie mit einem dezenten Kopfnicken ihre Abfahrbereitschaft zeigte. Eine Mischung aus Schweiß, Sex und ihrem Parfüm, ein Duft von herben, reifen Orangen, klebte an meinen Fingern und zog die letzte Nacht für Sekunden auf die asphaltierte Oberfläche vor mir. Wir liebten uns, sanft, ziellos, angespannte Adern an ihren Schläfen zeigten mir ihre Nähe zum Höhepunkt; ich konnte keinen Unterschied spüren und doch musste etwas passiert sein. Ihr Blick aus Wut und Angst war unausweichlich, ein
harter Blick, selbstsicher und bestimmend. Die Frage, die in ihren Augen zu lesen war, verstand ich damals nicht; es war dieselbe Frage, die mir jetzt nicht aus dem Kopf geht. In meiner Wohnung auf den seidenen Bettlaken und zwischen den Kissen, die nur nach ihr rochen, erfuhr ihre Frage keine Einschränkung, war konturlos und scheinbar wortlos beantwortet worden.
Es gibt Erinnerungen, die länger haften, als unser Kurzzeitgedächtnis es will. Ich habe keine Hoffnung den Ausflug zu vergessen, jedes Detail ist eingebrannt, wird ewig bestehen, zeitloses Inventar. Nur ein Bild verblasst. Ich glaube, mit jedem Versuch, es in meinen Tagträumen zu rekonstruieren, verliert es einen Teil. Der Tag, an dem auch die entscheidenden Puzzleteile verschwinden, wird kommen. Wo ich dann sein werde, weiß ich nicht.
Unser Ziel war etliche Kilometer von Hamburg entfernt und hatte nichts mit der kühlen, technischen Distanz meiner Heimatstadt gemein. Sie schwärmte von der Piazza della Signoria, die Kirche Santa Maria del Fiore, zwischen Pinien und Zypressen mitten in Florenz. Ich konnte nicht nein sagen und wusste, dass es die einzige Möglichkeit war, ihr etwas zu geben, was ich ihr schuldig war; es stand ihr zu, dieser kleine Teilerfolg in unserer zehnjährigen Beziehung. Den ersten Teil der Strecke fuhr ich, doch bereits nach
hundert Kilometern wollte sie mich ablösen, mir etwas Erholung auf dem Beifahrersitz gönnen. Ich sah ihre müden, roten Augen und den erschöpften Gesichtsausdruck, der versuchte, eine präsente, dominante Haltung zu wahren. Ich verweigerte jede Interpretation der Gegenwart, die Vergangenheit war verdrängt und die Zukunft reichte nur bis in den Süden Italiens, nicht weiter. Ein Fahrerwechsel erschien mir in diesem Moment überflüssig, fast lächerlich.
Mein Wagen verbrauchte mehr Benzin, als ich kalkuliert hatte. Im Shop der Tankstelle kaufte ich kühle Getränke und ging in den Waschraum der Toilette. Eine alte Frau saß vor der Tür an einem kleinen Tisch, auf dem ein leerer Teller stand. Sie starrte an mir vorbei, war in das Fugenmuster auf der gegenüberliegenden Wand vertieft, eine Hand stützte ihren Wangenknochen, der unter der dünnen, faltigen Haut sichtbar war. Verbraucht, fiel mir in meine Gedanken, und beinahe hätte dieses Adjektiv meine Lippen verlassen.
Ich formte dieses Wort immer wieder, in einer lautlosen Schleife, bis es seine Bedeutung verlor und ich meinem Spiegelbild gedankenlos gegenüber stand. Ein gelbliches, künstliches Licht erzeugte Flecken auf meiner Haut, die Poren und Unebenheiten unterstrichen. Über das Becken gebeugt, fragte ich mich, ob es die Reste meiner Pubertät oder die Vorzeichen des Alters waren. Ich stand zwei Tage vor meinem dreißigsten Geburtstag und war froh, ihn in einem fremden Land verbringen zu können. Das kalte Wasser tat für
wenige Sekunden gut, es entstand der Wunsch zu bleiben, mit dem Kopf unter Wasser zu warten. Die Toilettenfrau konnte mich sehen und ich wusste, dass meine Freundin ihren wartenden Blick auf das Armaturenbrett geheftet hatte und nach spätestens zwanzig Minuten beginnen würde, mich zu suchen. Meine Haare klebten an der Stirn, das Blau der Augen zeigte keinen Hauch von Glanz, der Dreitagebart keine Männlichkeit. Ich fand mich schon immer durchschnittlich, aber sie würde mich suchen, in den Innenraum der Tankstelle
treten und meinen Namen rufen. Früher hätte dieses Bemühen eine angenehme Art von Selbstvertrauen erzeugt. Vielleicht war das der Grund, warum ich damals glaubte, es könne funktionieren, irgendwann. Depressive Einschätzungen und sinnlose Wut verloren ihre Grenzen, auch das Licht auf meinem Gesicht wechselte in eine andere Gelbnuance und die Lüftung im Hintergrund wurde leiser. Ich wollte schlafen, war ich mir sicher. Sie konnte fahren.
Sie las in dem Roman, den ich auf dem Nachttisch glaubte, Max Frisch, Homo Faber. Ich nahm ihr das aufgeschlagene Buch aus der Hand, behutsam, in einer Langsamkeit, die mich an Filmszenen erinnern ließ, in denen der Hauptfigur, einer suizidgefährdeten, wehrlosen Frau die Waffe abgenommen wird. Was für eine peinliche Niederlage, dachte ich ungewollt. Mein Lesezeichen steckte erst im zweiten Kapitel und doch hatte ich mich bereits erkannt, wie wenige Minuten zuvor im gelben Licht mein Spiegelbild.
Der seitliche Blick auf ihr Gesicht wirkte fremd. Ihre Haare waren zu dünn, fanden keinen Halt hinter den kleinen, subtil geformten Ohren. In gleichmäßigen Bewegungen versuchte sie vergebens, einzelne Haarsträhnen aus ihrem Sichtfeld zu halten. Das Gefühl, sie wirklich zu lieben, suchte ich, war mir auf einmal nicht sicher, ob es je bestanden hatte. Es gab kaum Gemeinsamkeiten, obwohl wir uns schon seit der Grundschule kannten, alles erlebt hatten, fehlte etwas, das man voraussetzt. Was verbindet uns noch, fragte
ich mich und bevor ich antworten konnte, fiel ich in einen brüchigen, traumlosen Schlaf. Dass auch der letzte Gedanke, bevor sich die Augen plötzlich und willenlos senken, noch greifbar ist, erschien mir wie eine vernichtende, endlose Utopie, zeitloses Inventar.
Lichtstrahlen veränderten die schwarzen Farben auf der Innenseite meiner Lider, sie zogen vorbei und gaben mir den Blick auf ihre Augen frei. Das Muster aus klarem Blau, dem Schwarz der perfekten Rundung und einem weißen Hintergrund war unverkennbar ihr fragender Blick. Im rechten Augenwinkel nahm ich die Scheinwerfer eines Lastwagens wahr, die ihr Gesicht diffus teilten. Bevor ich verstand, wunderte ich mich, warum sie ihren Kopf nicht geradeaus, sondern in meine Richtung gewendet hielt. Neben der langsamen
Erkenntnis entstand die Erinnerung an das Gesicht, das ich vor Jahren entdeckte. Ich erkannte, dass es mich damals reizte, unbewusst fesselte, der zarte, unschuldige Ausdruck, das kindliche Lachen, die blassen Lippen, deren Zuckungen ihre Verlegenheit unausweichlich zeigen konnten. Im Moment dieser Wiederentdeckung formten ihre Lippen jene Frage, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Ich habe sie verloren, dachte ich, noch ehe ihre Worte von meinem Gehirn registriert werden konnten, letzte Nacht, eine kaum spürbare
Zurückhaltung, vielleicht ein unbewusstes Abwenden, reichten aus. Ich konnte mich nicht wehren und ließ es zu, die Frage forderte etwas Vergangenes, Unentdecktes. "Liebst du mich, heute?"
Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.