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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Seine letzte Vorstellung

© Felix Zozmann


Er muss schuften, wenn sie sich entspannen. Wenn er Stress hat, haben sie Spaß. Aber das ist es ihm wert. Er macht seine Arbeit gewissenhaft.
Familien und Freunde, erwartungsvolle Kinder, lachende Mütter und gönnerhafte Väter kommen in kleinen Gruppen in die Vorhalle, gehen zur Kasse und kaufen sich Eintrittskarten. Heute ist es eine Komödie. Popkornkino.
Im Vorführraum muss er sich bücken und auf den Knien herumrutschen. Es ist heiß wie im Schweinestall. Deswegen schwitzt er auch wie ein Schwein. Aber das ist es ihm wert. Er macht seine Arbeit gewissenhaft.
Noch wenig Zeit bis Vorstellungsbeginn. Mit schweißnassen Fingern führt er den Film durch den Raum. Über Zahnräder, Kufen, Malteserkreuz und Tonablesegerät.
Draußen streben sie lachend in den Saal und suchen voll Vorfreude und Erwartungen ihre Plätze auf. Nehmen ihn nicht wahr.
Er hat seine Show perfekt geplant. Auf die Sekunde pünktlich öffnet er den Vorhang, dämmt mit der einen Hand das Licht, mit der anderen die Saalmusik runter und startet den Projektor.
Die Finger seiner linken Hand ruhen auf dem Rädchen der Bildsteuerung, als er mit dem Kopf im Nacken gebückt und konzentriert durch das kleine Sichtfenster auf die Leinwand blickt. Schon naht der erste Trailer. Fünf Sekunden vielleicht. Jetzt! Aufblenden. Blitzschnell Bildstrich berichtigen. Schärfe optimieren. Nicht die geringste Verzögerung. Gut gemacht! Harmonische Übergänge sind ihm wichtig. Er macht seine Arbeit gewissenhaft.
Es ist sein letzter Arbeitstag im kleinen Kino. Das große Kino in der Stadt will ihn wegen seiner auf zahlreichen Fortbildungen erworbenen Qualifikationen auf Probezeit einstellen. Bei den zwölf Sälen dort wird er mit Filmstarts vom Schaltpult aus, Monitoren zur Kontrolle und Matrix-Stufenplänen arbeiten. Dort wird es kein Schwitzen, kein Herumrutschen auf den Knien und keine Rückenschmerzen mehr geben. Er freut sich schon auf das neue Leben, das vor ihm liegt.
Der fliegende Objektivwechsel, der höchste Konzentration und Schnelligkeit erfordert, naht. Abblenden. Kinologo einspielen, damit im dunklen Saal keine Panik ausbricht. Sicherungsstift raus. Objektiv wechseln. Sicherungsstift wieder rein. Bildfenster austauschen. Cache weiter öffnen. Hauptfilm kommt. Schnell! Kinologo weg. Aufblenden. Gerade so geschafft. Bildstrich bestens. Schärfe verbessern. Ton angleichen. Er macht seine Arbeit gewissenhaft.
Um einen Saalbesuch kommt man nicht herum. Als er eintritt, läuft noch der Vorspann. Alles scheint in Ordnung zu sein. Die letzten Plätze werden getauscht, Popkorntüten und Getränke noch mal herumgegeben und Hereingeschmuggeltes heimlich hervorgeholt. Die Gäste sind zufrieden. Nehmen ihn nicht wahr.
Ihm ist wieder kein Fehler unterlaufen. Als stiller Starvorführer ist er immer um die Qualität der Vorstellung, immer um das Wohl der Gäste besorgt. Er selbst hasst es, wenn er im Kino sitzt und der Film schlecht vorgeführt wird. Genauso hasst er es, wenn Gäste zu seiner Vorstellung zu spät kommen. Was für eine Missachtung seiner Anstrengungen!
Die anderen Vorführer geben sich bei den Vorstellungen weniger Mühe. Bei ihnen sind die Wechsel unharmonisch, der Film nicht gleichmäßig scharf und der Ton zu leise oder zu laut. Die Gäste sehen meistens darüber hinweg. Nur manchmal beschweren sich auch welche. Sind diese Beschwerden freundlich, bringen die anderen Vorführer es meist in Ordnung. Treten die Gäste allerdings aggressiv auf, lassen die anderen Vorführer sie arrogant auflaufen und abblitzen. So haben die anderen Vorführer immer Kontakt zum Publikum.
Bei ihm hat sich noch nie jemand beschwert. Deswegen kennt ihn auch keiner. Die anderen Vorführer sind für die Art ihrer Vorstellungen bekannt. Sie scherzen sogar mit den Stammgästen darüber.
Aber die Leute jetzt erkennen gar nicht, was für eine großartige Vorstellung er ihnen bietet. Sie haben sich in ihren Sitzen zurückgelehnt und genießen die Komödie. Nehmen ihn nicht wahr.
Dieses Provinzpublikum! Eine kleine Anerkennung für seine Mühen wird man doch wohl erwarten dürfen. Heute ist nach jahrelanger Tätigkeit sein letzter Arbeitstag hier und niemand hat sich für die perfekten Vorstellungen bedankt.
Im großen Kino in der Stadt wird das besser. Dort werden ihm Leute bei der Arbeit über die Schulter schauen. Es wird Besucher, Neugierige und Kontrolleure geben. Dort wird er die Anerkennung bekommen, die er verdient.
Soll er aber hier sang- und klanglos verschwinden, dass sich später niemand mehr an ihn als den großen Vorführer erinnert?
Ein leichtes, unwilliges Zögern lässt ihn innehalten. Er ist doch ein Perfektionist, ein Perfektionist im Guten. Doch wenn die Wohltätigkeiten zur Selbstverständlichkeit werden, muss der Gönner an das Schlechte erinnern.
Er geht in den Vorführraum zurück und bleibt vor dem laufenden Projektor stehen. Das will er schon immer einmal tun. Wenn er erstmal im großen Kino arbeiten wird, kann er das nie mehr machen. Gleich werden sie ihn wahrnehmen.
Er tritt zum Projektor, blendet ab und schaltet die gleißenden Putzstrahler ein. Aus dem Saal dringen empörte Rufe zu ihm. Seine Hand legt er auf das Rädchen der Lautstärkeregelung. Ganz kurz dreht er voll auf. Die Explosion in den Lautsprechern lässt im Saal die Wände wackeln. Ängstliche Schreie dringen zu ihm. Durch das Sichtfenster sieht er Menschen, die aufgesprungen sind und sich die Ohren zuhalten. Da grinst er zufrieden. Jetzt haben sie ihn wahrgenommen.
Er blendet auf und lässt den Normalzustand wiederkehren. Im Saal wird es ruhiger. Die Gäste setzen sich und heben umgestoßene Popkorntüten und Flaschen auf. Niemand schickt sich an, das Kino zu verlassen.
Scheinen sie es hinzunehmen? Haben sie vielleicht noch nicht genug?
Sie sollen sich bei ihm beschweren! Dann kann er sie auch wie seine Kollegen arrogant abblitzen lassen.
Nicht? Dann wird er halt schlecht vorführen! Den Ton dreht er langsam ein bisschen leiser. Das Bild lässt er auf der linken Seite unscharf werden. Wenn im Saal irgendjemand Ahnung vom Kino hat, wird es demjenigen negativ auffallen.
Er verlässt den Vorführraum, geht in die Vorhalle, nimmt sich eine Cola, nickt der Kassiererin zu, lässt sich in einen der Stühle fallen und blickt erwartungsvoll zur Saaltür. Gleich werden sie kommen und vielleicht sagen: "Entschuldigen Sie, aber auf der linken Seite ist es etwas unscharf. Könnten Sie vielleicht…?"
Nur wenn sie so freundlich sind, wird er gnädig sein, gewichtig nicken, würdevoll aufstehen, "Ich seh' einmal nach!" sagen, majestätisch zum Vorführraum schreiten und es zum Besten richten.
Nicht viel später sieht er tatsächlich die Saaltür aufgehen. Ein Mann mittleren Alters, der gar nicht freundlich aussieht, nähert sich ihm. Jetzt wird er endlich Kontakt mit dem Publikum haben, wird endlich ein Streitgespräch führen.
Was macht es schon, es ist sein letzter Arbeitstag. Die letzte Gelegenheit, jemanden gehörig in die Schranken zu weisen. Er sieht das große Kino zum Greifen nahe vor sich.
Der Mann setzt sich jedoch schweigend neben ihn und lässt seinen Blick über die Filmposter, die Kasse, die Popkornmaschine und den Flipper gleiten. Erst nach einer Weile fragt er: "Du hast vorgeführt?"
"Jawohl!" entgegnet der Angesprochene provokativ, steckt sich einen grünen Kaugummi in den Mund, kaut schmatzend darauf herum, lehnt sich lässig zurück und schiebt die Arme hinter den Kopf. Endlich sieht jemand in ihm den Vorführer, den Verantwortlichen.
"Da drinnen war ein ziemliches Durcheinander!", sagt der Mann. "Wäre beinahe zu einer Panik gekommen. So etwas habe ich zum Glück noch nie erleben müssen. Für das Kino ist das nicht die beste Werbung!"
Der Mann soll nur reden! Der Getadelte selbst bleibt locker und kaut auf dem grünen Kaugummi herum.
"Das Vorprogramm war einwandfrei vorgeführt.", fährt der Mann fort. "Hat mir gefallen. Aber das danach… Was war denn da los?"
"Die Feinsicherung ist kurz rausgeflogen.", antwortet der Überhebliche. "Beim Hochfahren sind mir dann die Endstufen durchgeknallt. Das passiert den Besten!" Was versteht dieser Mann schon vom Kino?
Der Mann nickt, überlegt kurz und fragt dann: "Die Endstufen? Ich habe doch Ton gehört. Seltsam."
"Sie scheinen etwas vom Kino zu verstehen!" erwidert der nun Verunsicherte und bläst mit seinem Kaugummi eine große, hellgrüne Blase.
Der Mann nickt: "Ich arbeite im großen Kino in der Stadt. Da können wir uns so etwas nicht leisten. Wir legen großen Wert auf kontinuierliche Qualität. Genauer gesagt, " der Mann sieht ihn eindringlich an, "bin ich dort fürs Personal zuständig."
Damit steht der Mann auf, geht zur Tür hinaus und lässt den Verdutzten sitzen. Die große, hellgrüne Blase zerplatzt und hängt schließlich schlaff herunter.



Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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