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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Perfekte Melodie
© Sebastian Kraftmeier
Die gelben Strahlen schrieben "Prefect Melody" in den dünnen Nebel, der durch den Club waberte, und machten seine Schwaden und Schlieren sichtbar. Dann projizierten die insgesamt vier Laser zusammen eine riesige blaue Welle die über Lautsprechertürme und Zuschauer rollte und brach, bevor sie plötzlich aufflackerte, wie das Bild eines Filmprojektors, der langsamer wird, und schließlich verblasste. Für einen kurzen Moment lag die Bühne im Dunkeln. Das war das Startsignal.
Wie jeden Abend fing es leise an. Sonnys Sticks berührten die Becken nur ganz leicht, fast zärtlich, sodass nur ein kaum wahrnehmbares Wispern erklang. Sein Takt war gleichmäßig wie das Pendel einer Standuhr und leitete Coopers Gitarrensolo durch das Intro. Die beiden anderen E-Gitarristen Josh und Andy warteten auf ihren Einsatz, mit gesenkten Köpfen lauschten sie der Melodie.
Die perfekte Melodie, oder besser gesagt die Suche nach ihr, hatte sie vier so stark zusammengeschweißt, dass Sonny gute Angebote von bekannteren Bands stets abgelehnt hatte. Nun suchten sie schon sieben Jahre lang den perfekten Song. Zuerst in feuchten Kellern und Garagen, in denen es nichts gab, außer Steckdose und Glühbirne, später in beinahe jeder heruntergekommenen Bar zwischen Kopenhagen und Wien. Manchmal auch in noch mieseren. Das bedeutete, fast jede Nacht in einem anderen Club spielen, in einer anderen
Stadt mit anderen Straßen. Doch mit der Zeit wurden Orte wie Tage im Kalender, wenn man sich nicht entsinnen kann, ob es Sonntag oder Dienstag ist.
Bestimmt waren sie in einigen Bars schon zwei-, drei- oder viermal aufgetreten, doch Sonny wusste es nicht. Denn das war doch eigentlich unbedeutend. Über tausendzweihundert Auftritte in sieben Jahren, jeder ein Schritt näher zum Durchbruch. Das zählte! Sieben Jahre. Was hatte er eigentlich davor gemacht?
Während Cooper "Burning our beds" beendete, lauschte Sonny dem verhallenden Echo mit geschlossenen Augen. Dann öffnete er sie und betrachtete die johlende Menge. Strahlende Teenies, die bestimmt um zwölf den Club verlassen mussten, Piercings und schrille Klamotten und auch die alten Rockfans, Mitte dreißig, in Lederjacken und Dreitagebart, Frauen und Männer, cool oder nicht, einzig verbunden durch die Musik, die in Sonny und der Band, als auch in den Erinnerungsstücken und Fotos in den Vitrinen lebte.
Und doch waren sie alle nur graue Gesichter, die sich in den kleinen, verrauchten Club gedrängt hatte, um sie zu erleben. Prefect Melody. Doch Sonny ließ nicht zu, dass Stolz in ihm aufkeimte. Er wusste, dass noch etwas fehlte. Früher hatte er sich immer vorgestellt, dass die Musik durch ihn sprechen würde, wenn er sie perfekt spielte.
Er nippte an seiner Wasserflasche, strich das Lederbändchen glatt, das er fünf oder sechs Mal ums Handgelenk gewickelt hatte, und beobachtete, wie Cooper die Akustikgitarre ablegte und die E-Gitarre für "Dirty Dreams" griff. Ein neuer Filter schob sich vor die Scheinwerfer, tauchte die Band in ein tiefes Blau, als Cooper mit herangezogenem Mikrofonständer dem Publikum einheizte. Die Laser tauchten sie alle in ein Meer des Lichts. Rufe und Schreie wurden in Sonnys Wahrnehmung dumpfer und begannen sich
wie Wellenrauschen anzuhören. Ab und zu stieß der Kopf eines Hüpfenden durch die Lichtschicht über ihm, wie ein Felsen, der das Wasser durchbrach, aber von der nächsten Welle sofort wieder verschluckt wurde.
Dann brachte Andy auf Coopers Zeichen seine Gitarre zum Schreien, fiel aber gleich in ein harmonisches Intro. Sonny zählte die Takte, bis er dran war und schloss die Augen. Noch bevor sein erster Schlag die Trommel traf, begann Musik durch seinen Körper zu fließen und seine Hände zu führen. Im nächsten Moment verlor er die Kontrolle und ließ sich treiben.
Als Sonny am nächsten Abend an der Bar saß, stellte er fest, dass der Tag so schnell verflogen war, wie er es immer tat, wenn man im Nachhinein an vorbeiziehende Leitplanken und Ortsschilder dachte. Er strich über sein Handgelenk und spürte das warme Leder der Kordel, die er fünf oder sechs Mal um seinen Unterarm gewickelt hatte. Cooper und die anderen waren noch im Hinterzimmer und gaben ihren Frisuren den letzten Touch. Deshalb, schätzte Sonny, blieb ihm noch mindestens eine halbe Stunde, in der er die Leute
beobachten konnte, die sich für das Konzert heiß tanzten.
Sie waren in einem jener Kellergewölbe, deren Backsteinmauern im nekrophilen Fantasystyle dekoriert waren, einige Nischen waren mit Glasscheiben zu Vitrinen umkonstruiert worden und beherbergten gusseiserne Drachen, Schlangen, düstere Comicstrips, Motive für Tätowierungen und haufenweise Totenköpfe. Dazwischen Gitarren, Autogramme und Fotos berühmter Bands, von denen der Manager sich wünschte, sie wären in seiner Bar aufgetreten.
Von der anderen Seite der Theke nickte ihm ein gedrungener, dunkler Typ mit Boxernase zu. "Bier?", fragte er, und Sonny brüllte ihm "Ich weiß noch nicht!" entgegen. Boxernase zog fragend die Brauen hoch, wandte sich dann aber doch stumm anderen Gästen zu.
Plötzlich spürte Sonny die Wärme eines anderen Menschen, wie als Beweis, dass er noch lebte. Eine Frau hatte ihren Arm auf seine Schultern gelegt. Sie hatte wasserstoffblonde Haare mit mausgrauem Ansatz, dünne Strähnen fielen in ein rundes Gesicht und umrahmten die unter einer dicken Make-Up-Schicht versteckten Krähenfüße. Dutzende Armreifen glitzerten, auf ihrem kräftigen Oberarm zischte ein Drachentattoo und in dem extrem tiefen, sich an seine Brust schmiegenden Dekolleté konnte man eine kleine, verwelkte Rose
erkennen.
Blutrote Lippen reckten sich zu seinem Ohr. "Dich habe ich gesucht, mein Süßer." Sie roch stark nach Scotch.
Sonny zog die Brauen hoch. "Dina!"
"Ich war gestern in Remscheid." ihre Stimme klang vorwurfsvoll. "Ich dachte, du meldest dich, wenn du in der Gegend bist." "Wir hatten nichts abgemacht", erinnerte Sonny sie. "Mir war nicht danach." Dina zog an ihrer Zigarette. Lasziv blies sie den Rauch seitlich in die Luft. "Und wonach ist dir heute? Nachher?" Sonny zuckte mit den Schultern. Er löste das Lederbändchen von seinem Arm und begann, es um zwei Finger zu wickeln. Ein kleines Herz hatte einst an ihm
gehangen, doch es war nicht richtig gewesen und Sonny mochte sowieso keinen Schmuck. Nur das Bändchen trug er immer bei sich. Als er es zwischen seinen Händen wieder spannte, trug es einen Knoten. Ohne Hinzusehen löste er ihn wieder, nur um sofort einen weiteren Knoten zu machen.
Dina lehnte sich neben ihn an die Theke und folgte für eine Weile seinem Blick, doch sie sah nur Menschen. "Was machst du eigentlich, wenn du nicht auftrittst?" "Wir fahren zum nächsten Gig. Zur nächsten Stadt." "Ich weiß. Du kennst viele Städte." Sonny schüttelte den Kopf und löste den Knoten. "Ist es nicht nur eine einzige Stadt? Manchmal kommt es mir so vor. Eine Stadt, aus der wir jeden Tag fliehen, doch jede Straße führt uns wieder dorthin zurück, wo wir losgefahren sind."
Dina lächelte. "Ich finds gut, wenn du lyrisch wirst." "Das sollte nicht lyrisch sein. Das ist die Wirklichkeit." Sonny schaute das alte Mädchen an, doch sein Einwand veränderte den schwärmenden Ausdruck ihrer Augen nicht im Mindesten. "Meine Wirklichkeit." Wieder verknotete er das Bändchen, und wieder entknotete er es. "Im Sommer," sagte er, "an Tagen, wenn wir keinen Gig haben, fahren wir irgendwo in den Wald, suchen uns eine Wiese, weit weg von der Stadt und zelten.
Wir haben immer Zelte dabei, falls wir mal in kein Hotel wollen.
Jedenfalls liege ich dann im Gras und schaue hoch in die Sterne und stelle mir vor, ich wäre zwischen ihnen, und Josh spielt Gitarre und Cooper pisst ins Lagerfeuer." Dina lachte spitz und hell, und Sonny zuckte mit den Schultern. "Na ja, so was macht er halt. Manchmal sind auch Mädchen da. Du weißt schon. Aber auch, wenn keine Mädchen da sind, und Josh nicht spielt, und wir nicht singen oder summen, ist irgendwie Musik da, überall um uns herum und in mir drin." Er dachte darüber nach und starrte
in die tanzende Menge, als wäre sie Luft. "Wenn man Musik hat, ist man nie allein." Plötzlich war Bewegung um ihn herum, als sich jemand durch die Menge an ihm vorbeischob. Nur kurz sah Sonny einen schwarzen Fransenkopf und bekam eine Gänsehaut. Die Musik in der Luft erbebte, doch kein anderer außer ihm spürte die Veränderung. Es war, wie wenn ein Ton langsam verhallt und irgendwann der Punkt kommt, an dem man sich fragt, ob man den Ton noch hört, oder ob die Erinnerung einem dies nur weismacht. Einen
Moment später war es vorbei. Dinas Arm legte sich um ihn, doch diese fremde Wärme fühlte sich kalt an.
"Das hast du beim letzten Mal auch gesagt." Sonny schob die Kordel, in der nun zwei Knoten saßen, zurück in die Tasche und blickte Dina an. Ihre Krähenfüße schrieen darum, nicht beachtet zu werden, doch ihre Augen und ihr Mund glitzerten so jung und erlebnishungrig, wie er es doch eigentlich sein sollte. Er betrachtete Dina lange und fühlte mehr ihre Ferne, als den Arm, der zärtlich seinen Rücken streichelte, und dass weder sie noch irgendein anderes Mädchen je etwas bedeutet hatte.
Erleichtert stieß er sich von der Theke ab, denn Cooper stand schon auf der Bühne und stimmte seine Gitarre. "Alles, was zählt, ist die Musik." "Ich warte hier auf dich, Süßer. Sei mein Rockstar!"
Sonnys Augen waren geschlossen, als die Wellen zum vierten Mal über die Bühne rollten und noch drei Mal kommen würden bis zum Ende der Show. Die Wärme der Laserstrahlen strich über sein Gesicht und er sah rote Blitze auf seinen Lidern. Gesichter wurden vom bunten Licht von allen Seiten erhellt. Konturen verschwammen. Das Publikum wurde zu einer Masse, die rhythmisch hin und her wogte. Im Herzschlag der Musik.
Auf einmal flogen Sonnys Sticks wie von Geisterhand geführt über die Drums und es schien ihm, als wäre es nicht mehr er selber, der spielte. Die Musik brachte nun alles um ihn herum in Einklang; die Laser, die Bühne, der ganze Keller mit den Zuschauern, Josh, Andy, Cooper wurden von ihr eingehüllt, ausgefüllt, als gäbe die Musik ihnen ein ganz neues Leben. Für einen Moment gab es nur ihn und die Musik. Die Musik sprach zu ihm, mit ihm und durch ihn hindurch. Sein Herz raste. Es war perfekt.
Plötzlich riss er die Augen auf, denn es war wieder da, dieses Geräusch, dieses Gefühl, das er an der Bar gehabt hatte! Er konnte es fast spüren, neben der Musik, doch es ging nicht von ihr oder von Sonny aus. Was war es? Das Gefühl verband sich mit der Musik, veränderte sie und gab ihr etwas vollkommen Neues.
Dann sah er die junge Frau. In der zweiten Reihe vor der Bühne, inmitten des Sturms der tanzenden, hüpfenden und jubelnden Fans, stand sie ganz still und ohne sich zu bewegen. Sie tanzte nicht. Sie wippte noch nicht einmal mit dem Fuß oder den Händen im Takt. Alles, was sie tat, war ihn anzusehen mit ihren großen, dunkelbraunen Augen.
Wer bist du?
Ist das wichtig? Ich bin doch hier, in diesem Moment, an diesem Ort.
Sonny konnte nicht anders, als den Blick zu erwidern. Ihre kurzen, schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab, nur einige Zipfel fielen auf die blasse Stirn, ließen sie wild wirken wie ein Reh, aber gleichzeitig zahm wie ein einzelner Gedanke. Die weichen Gesichtszüge verrieten ihre einfühlsame Seele, doch die Art, wie sie stand, bezeugte ein stolzes, mutiges Herz. Unwirklich, schoss es Sonny durch den Kopf. Ein Traum. In den riesigen Spiegeln ihrer Augen erkannte er sich selbst und wusste, dass auch sie die
Musik spürte.
Woher kommst du?
Ich bin hier.
Je länger er die Frau anblickte, desto zufriedener wurde er. Lag es an ihr, dass er heute zur perfekten Melodie gefunden hatte? Oder war es die perfekte Melodie, die ihn zu dieser Frau geführt hatte? Er konnte es nicht entscheiden, doch das störte ihn nicht. Er schaute die Frau an, und je länger sie zurückschaute, desto leiser wurde die Musik, bis sie nur noch eine ferne Erinnerung war.
Seine Arme wurden leichter, während sie unbewusst weiter auf die Drums zuckten, es kostete keine Kraft, keine Konzentration, die Sticks zu schwingen. Und doch verlor es die Wichtigkeit, die es immer gehabt hatte.
Sonny blinzelte und brach sein Spiel ab. Im selben Moment bäumte sich die Welle über ihm auf. Und das Mädchen lächelte.
Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.