Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Prosa02, 14.02.05

© Benedikt Wahner


Die Möwen kreischen, als wenn sie mich mit ihren Schreien füllen müssten, als wenn meine Leere auch sie ergreifen würde. Sie schreien so laut, dass ich fast das Dröhnen in meinem Kopf vergessen könnte - fast. Das Meer rauscht dazu verhältnismäßig leise, die Steine unter meinen Füßen bröckeln die Klippe herunter. Ich kann mich nicht erinnern: Wie bin ich hier hergekommen? Was ist mein Ziel? Was ist das für ein Ort? Ich blicke mich um, sehe zwei Menschen, jünger als ich selbst, unter mir an der Küste stehend, der Brandung lauschend. Jetzt küssen sie sich. Jetzt flüstert sie ihm etwas ins Ohr. Ich sehe sein Gesicht, das Lächeln versteinert trotz seines mir zugewandten Hinterkopfes.
Er sagt etwas. Ich kann es nicht hören und doch kenne ich seine Worte genau.
Aber sie sind unwichtig......ein Wartesaal in einem Krankenhaus, weiße Wände, Stille, Nacht. Ein alter Mann wird im Rollstuhl durch die Gänge gefahren. Wo bin ich? Immer noch der alte Mann, blicklos, wortlos, weltlos.
Die Frau die ihn schiebt...kenne ich sie? Ich, wo auch immer ich sein mag, steige in den Fahrstuhl. Dritter Stock, Station elf, Zimmer 357. Wer liegt dort? Ich habe es vergessen... Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung, es geht nach unten. Er hält im fünften Stock, wie bin ich nach oben gekommen? Eine Mutter mit Kind steigt ein, beide mit blutleeren Lippen, ihnen fehlen büschelweise Haare, das Kind hält die linke Hand der Mutter, ist es die Rollstuhlschieberin, sie haben keine Augen. Sie sehen mich an, auch ohne Augen kann ich ihre Beobachtung spüren. Ich schaue nervös auf die Stockwerkanzeige. Es ist so weit: Dritter Stock. Verstört klettere ich aus dem Fahrstuhl, befinde mich plötzlich zu Hause. Drehe mich um, die Fahrstuhltür schließt sich. Plötzlich sind tausend Augenlose dort eingepfercht, sie lächeln mich hämisch an. Sollte ich versuchen zu ihnen zu gelangen? Die Türen schließen sich - der Fahrstuhl nicht mehr sichtbar. Ich gehe zum Whiskyschrank, schenke mir ein Glas ein, trinke es, muss brechen - was war das? Kein Whisky...was erbreche ich? Gezuckerten Sirup, nein, das ist kein Sirup, es ist Harz, Baumharz. Woher kommt das? Ich bin fertig, werde den Teppich säubern müssen. Das nächste Ziel muss also die Küche sein.
Die Tür öffnet sich, an ihr ist ein Schild befestigt. Auf ihm steht in goldenen Lettern "Station elf". Ich trete ein. Da ist wieder der alte Mann in seinem Rollstuhl, diesmal ohne seinen Helfer, er sitzt dort allein. Ich gehe auf ihn zu, er sieht mich nicht. Sein Blut schmeckt metallisch auf meinen Lippen, stillt nicht meinen Durst, meine Augen wollen nicht länger sehen. Gewaltsam zwinge ich sie in meinen Dienst doch sie verweigern sich mir. Jetzt habe ich sie wieder unter meiner Kontrolle, öffne sie, befinde mich in meiner Zelle. Kalter Stein säumt meinen Weg, vergoldete Fenster, laminierter Boden. Noch immer muss ich den Teppich reinigen, ich muss den Teppich reinigen... Ich eile durch mein Gefängnis, erblicke dort hinten am anderen Ende der Halle jemanden, trete näher herbei, es ist die Augenlose.
Wo ihr Kind sei ist meine Frage, sie lächelt, zeigt auf eine Plastiktüte in ihrer linken Hand, am Ringfinger hängend zwischen 1. und 2. Glied. Ich verstehe. Sie will das ich mit ihr gehe, ich folge ihr. Sie öffnet die Tür, bedeutet mir hindurchzugehen, ich gehorche, stehe wieder auf der Klippe, sehe eine Gestalt weiter vorne stehen. Ich rufe sie, es ist ein Mann, ich kenne ihn irgendwo her. Seine Schritte führen ihn über die Klippe, er entschwindet meinem Blickfeld. Vorsichtig nähere ich mich dem Abgrund, werfe meine Blicke hinunter, wo sie aufkommen liegen SEINE sterblichen Überreste.
Ich schließe die Augen um die Tränen zu bekämpfen. Zimmer 357 taucht vor mir auf. Ich öffne die Tür, trete ein. Ein leeres Bett, steril, ein Fernseher, Holzverschalung, ein dreibeiniger Tisch, zwei Stühle, einer davon umgeworfen, alles so als stünde es schon seit Jahrhunderten so, jedoch kein einziges Staubkorn. Warum dieses Zimmer? Was geschah hier? Plötzlich ein Geräusch auf dem Schrank, er öffnet sich, saugt mich in sich hinein. Wieder der Teppich, dieser vollgekotzte Teppich. Ein Eimer zu meinen Füßen, Lappen in meiner linken, Reinigungsmittel in meiner rechten. Ich mache mich an die Arbeit. Putze den Teppich. Sauberkeit ist wichtig, ein Denkmal eines jeden Menschen. Gewissenhaft befreie ich den Teppich von seiner unwürdigen Fracht.
Jetzt ist der Teppich wieder sauber. Nicht nur sauber sondern rein.
Zufrieden betrachte ich mein Werk. Ich falle. Wieder im Gefängnis, diesmal das Kind vor mir, das augenlose Kind. Es kommt auf mich zu, streckt mir die Hand entgegen, ich fliehe, laufe davon, weiß nicht warum, weiß nicht wohin.
Es erklingt eine Melodie. Die Melodie der Ungehörten, ihre Hymne, ihr Lied, ihr Zeichen. Vor mir plötzlich wieder das augenlose Kind. Diese Melodie macht mich krank. Wieder eine Tür, wieder die 357, wohin führt sie diesmal?
Wieder die Klippe, wieder der Mann. Kurzes Haar, verschlissener Trenchcoat, glänzende Schuhe, weißes Hemd, schwarze Nadelstreifenhose, der schlammverkrustete Strick um den Hals als Zeichen der Unterwerfung und Ergebenheit, eine dicke Zigarre in der Westentasche. Wer ist es? Er springt wieder und wieder bewege ich mich gen Abgrund, schaue hinunter, sehe, was von ihm übrig ist, blicke zu Boden. Flachdach? Ich stehe auf einem Flachdach, mitten in einer Stadt, unter mir die Menschen, klein wie Ameisen.
Hinter mir eine Tür...so viele Türen...auch diese durchschreite ich. Es ist ein Krankenhaus. Dasselbe Krankenhaus? Ich steige in den Fahrstuhl, dritter Stock, Station elf, Zimmer 357. Diesmal steigt niemand zu. Die Tür öffnet sich. Eine Halle, vergoldet. In der Mitte das Heer der Gelangweilten, ich ein Teil von ihnen. Einheitskleidung, Uniform. Verschlissener Trenchcoat, glänzende Schuhe, weißes Hemd, schwarze Nadelstreifenhose. Eine lange Schlange. Strickausgabe. Jetzt darf ich gehen. Die Augenlose geleitet mich nach draußen auf die Straße. Ein Taxi wartet auf mich, fährt mich nach Hause, dort warten Frau und Kinder, das Mahl ist bereitet. Gemeinsam am Tisch. Stille. Die Suppe verstopft den Hals, die Worte geifern nach den Augen, bedecken sie mit Schweigen. Stummer Schrei. Schnitt. Alle Helden tot.
Allein im Bett. Es ist weiß, das Zimmer holzvertäfelt, ein Fernsehgerät, ein dreibeiniger Tisch, zwei ordentlich angeordnete Stühle. Das Heer der Gelangweilten tritt ein. Krankenbesuch. Es erklingt die altbekannte Melodie.
Meine Leere verschlingt die Hälfte der Anwesenden. Jemand spricht von Happy End, von Glück, von Erfülltheit. Es ist Sonntag, meine Zunge brennt. Dem Krankenhaus wurde das Wasser abgestellt. Manchmal muss man Prioritäten setzen - Die Sonnensteuer war wichtiger. Unvermittelt klappt mein Bett nach oben. Einer der Stühle stürzt um. Wieder die Klippe. Ich in meiner Uniform weiß was zu tun ist. Ich spreche den Genossen an, er blickt sich um. Ich kenne sein Gesicht. Kein weiterer Gedanke daran. Stehe ihm nun direkt gegenüber, Auge um Auge. Stoße ihn die Klippe hinunter. Unten schlägt er nicht auf, lachend steht er dort, wartet auf mich? Ich mache mich zum Totalverweigerer, sie suchen nach mir mit Bluthunden. Wieder das Gefängnis, diesmal beide, die Augenlose und das Kind, sie weisen mir den Weg. Jetzt bin ich am Strand, sehe SIE dort stehen, werde erfüllt von Kraft, gehe aufrechter, beginne zu lächeln. Siegesgewiss schaue ich mit ihr gemeinsam aufs Meer hinaus, lausche der Brandung. Über uns ein altersmüder Ahnungsloser. Ein Kuss, wie ein Traum, innig und würdevoll, einer Königin würdig. Sie flüstert mir hohle Worte ins Ohr. Ich höre sie von Liebe sprechen, so ist auch sie nichts als eine Heuchlerin, auch sie benutzt Worte die sie nicht versteht, deren Bedeutungen schon lange vergessen, die heute nur noch Fragmente der einstmaligen Vollendung sind. Mein Gesicht fühlt sich an wie ein Stein, Granit vielleicht, zu rau für Marmor, auch nicht edel genug. Leere Worte entfliehen meinem Mund, kann sie nicht halten, will sie einfangen, einsperren, wegsperren. SIE versinkt im Meer. Von oben herab fällt der Unbekannte im Trenchcoat, geschmückt mit dem schlammverkrusteten Strick. Gemeinsam warten wir nun. Wieder im Krankenhaus, wieder im Bett. Die Horden haben mein Zimmer verlassen, die Melodie ist verstummt. Ich reiße mir die Kabel aus dem Rückenmark, die Schläuche aus den Lungen. Kann nun endlich wieder frei atmen, beginne zu laufen. Durch die Türen zurück in den Fahrstuhl. Keller, hier wohnte ich, meine Behausung. Ich verbrenne den Teppich, das Feuer greift über. Genau wie erwartet. Ich stehe in den Flammen, ringe mir ein heiseres Lachen ab. Das Haus über mir stürzt in sich zusammen, gibt den Blick frei auf den blauen, kalten, von Möwen erfüllten Himmel, auf das dunkelblaugrüne Meer, den weißen Sandstrand. Dort stehen zwei Gestalten, sie erwarten mich. Ich geselle mich dazu. Gemeinsam lenke ich meine Schritte den seichten Wellen entgegen, versinke darin, kann das Wasser auf meiner Haut spüren, kann es schmecken, fühle es meine Lungen füllen, meinen Brustkorb auseinanderpressen, es verschließt mir Augen und Mund, ich bin erfüllt von Wasser. Das Salz auf meiner Zunge tut gut, meine Augen reinigt es, meine Gedanken versiegelt es, meinen Willen verführt es durch wundervollen Gesang und lange in mir gereiften, für diesen Moment aufbewahrten Wein. Ein Stromschlag reißt mich unsanft in die Wirklichkeit zurück. Ein Krankenwagen, zwei Sanitäter, überall Blut.
Wiederbelebungsversuche. Ich lebe wieder. Ich erinnere mich. Das Auto, der Lastwagen, der Schmerz, die Dunkelheit. Ich erinnere mich. Kein Licht am Ende des Tunnels, nur Verwirrendes und noch mehr Verwirrendes. Sie bringen mich ins Krankenhaus, dort genese ich. Es dauert lange, schier unendlich lange. Der Schmerz ist manchmal fast unerträglich, besonders wenn das Morphium seine Wirkung verliert, ich aus einer Halbwahrheit, die mein zu Hause wurde, zurückkehre. Aber letztendlich habe ich es geschafft, habe mich reinkaniert, wurde resozialisiert, meine Steuerklasse wurde nun neu berechnet, meine alte Stelle ist neu besetzt. Ich trauere ihr nicht nach, bedauere eher meinen Nachfolger, er hat nicht gesehen was ich sah, nicht das Salz geschmeckt, nicht jene Vollkommenheit gespürt. Dreifaltigkeit. Hin und wieder wache ich nachts auf, war zurück in jener wirren Gedankenwelt. Oder ist dieses hier die wirre Welt und jenes ist die Wahrheit, wartend auf mich, meiner Ankunft harrend? Kein Weg zurück in die Lüge.



Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


»»» Weitere Schlüsselerlebnis-Geschichten «««



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Attrktivitätsforschung «««
»»» Haarausfall «««
»»» Schmetterlinge «««
»»» Schmetterlinge «««
»»» Pusteblumen «««
»»» Wintergedichte «««
»»» Wintergedichte «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Naturgedichte «««
»»» Liebesgedichte «««
»»» HOME PAGE «««