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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der Schlüsselmacher
© Oliver Uschmann
"Hier leben und lieben und Pfote und Zahn", liest Hartmut und hält das kleine blaue Türschild mit den Teddys in den Händen. "Lass mich raten: dein Onkel ist Pfote, deine Tante ist Zahn?" Wir stehen im Hausflur des alten Mietshauses in der Beguinenstraße. Wir haben die Wohnung geleert.
Vollständig. Das blaue Türschild ist das letzte, was wir einpacken. Hartmut steckt es in die Tasche seiner Trainingsjacke und schaut auf die Uhr: "Acht Stunden", sagt er, "bleiben noch 40." Acht Stunden ist eine verdammt gute Zeit, wenn man bedenkt, dass wir nicht etwa gepackte Kartons und abgebaute Möbel tragen mussten, sondern die Wohnung so vorfanden, als wäre sie vor fünf Minuten erst verlassen worden. Mit der Zeitung auf dem Tisch und dem Löffel neben dem Eierbecher. Das gehörte zu der
Wette, wegen der ich jetzt am Wochenende einen kompletten Umzug absolvieren muss. Und das so, dass mein Onkel sich am Ende wieder an seinen Küchentisch neben den Eierbecher setzen und die Zeitung studieren kann: nur eben in einer neuen Wohnung.
Im Hof warten unsere Helfer vor dem großen Miet-LKW. Jens vertreibt sich die Zeit, in dem er zur Musik aus der Fahrerkabine zwischen den Häuserwänden
hin- und herläuft und an ihnen hochspringt, als wären sie die Flügel einer Halfpipe beim Skateboarding. Hanno steht daneben, raucht und sagt, die Mucke sei ihm viel zu hektisch. Jörn schlägt die Tür des Lasters zu und nimmt einen Schluck Wasser. Dann fragt er: "Und das müssen wir jetzt nur noch in die Steinstraße fahren, auspacken, zusammenbauen, aufstellen und wieder so einräumen, wie es gewesen ist, richtig?" Ich nicke. "In maximal 40 Stunden", sagt Hartmut. "40 Stunden, ihr seid doch
bekloppt", sagt Hanno und drückt seine Zigarette aus. "Wir haben jetzt schon acht Stunden gearbeitet. Es wird höchste Zeit, was zu essen." "Wir dürfen das nicht unterschätzen", sagt Hartmut. "40 Stunden hört sich viel an, aber der Aufbau dauert länger als der Abbau. Viel länger." Ich kann ihm nur Recht geben. Ich denke daran, wie die Jungs seit heute Morgen 5 Uhr die Sachen gepackt haben.
Playstationspiele zwischen Badezeug. Gewürzkästen zu Romanen. Abendkleider quer über Grünpflanzen. Ich hörte die Musik von Wetten Daß im Hintergrund und sah eine Stoppuhr in gelber Schrift unten links im Bild die 48 Stunden abzählen. Jens stopfte zappelig wie ein Frettchen alles, was ihm in die Hände kam, in Kartons. Hanno schraubte die Möbel auseinander, Dreh für Dreh.
Hin und wieder raste Jens ihm durch die Beine hindurch in den Kleiderschrank und fetzte eine Portion Klamotten heraus, noch bevor Hanno den Akkuschrauber an die Scharniere angesetzt hatte. Hartmut, Jörn und ich trugen die Sachen nach unten. Ich ordnete sie später mit all meiner Erfahrung von UPS im LKW an. Acht Stunden. Wir sind schon ziemlich fertig. Außer Jens, der neben mir die Wand hoch rennt und mit dem Mund die drei Akkorde der Musik nachbrummt.
"Ich finde auch, wir sollten was essen", sage ich und Hartmut hebt den
Finger: "Am Dom ist großer Markt. Erbsensuppenkanone." Der Domplatz mündet an unsere Zielstraße. Wir steigen in den LKW und lassen den Motor an. Jens surft noch eine Runde auf der Trittplatte neben der Tür und springt dann auch herein.
"Es geht ja nicht nur um einen schnellen Umzug, sondern darum, dass sein Onkel was lernt" sagt Hartmut. Er winkt bei der Frau hinter der Suppenkanone die nächsten fünf Teller herbei. Ich löffle meine Suppe und schüttele den Kopf. Omas und Familien passieren uns mit Einkaufskörben. Marktschreier tönen über den Platz. Ein kleiner Junge schlägt einen Artgenossen mit einer Selleriestaude auf den Kopf, bis sie in Fetzen hängt. "Was muss dein Onkel denn noch lernen?" fragt Jörn. "Möglichkeiten.
Chancen. Flexibilität", antwortet Hartmut an meiner Stelle und verteilt die neuen Portionen. Er pult die Mettwurst aus seinem Teller und schiebt sie in Hannos Teller. "Sein Onkel ist, wie soll ich sagen, nicht gerade impulsiv." "Er lässt seine Entscheidungen eben reifen", sage ich. "Er will seit 21 Jahren mit seiner Frau nach Übersee fliegen", sagt Hartmut. "Er hat eben Flugangst", sage ich.
"Jedenfalls sagt er immer eher, dass etwas nicht geht als dass es geht", sagt Hartmut. "Was nicht geht, macht immerhin weniger Arbeit", sagt Hanno.
Er verbrennt sich an seinem Löffel. Ich muss ihm Recht geben. Ich denke daran, dass ich mit meinem Onkel 48 Stunden vor der Playstation verbringen könnte, anstatt in dieser Zeit seine Wohnung zu transferieren. Der kleine Junge am Gemüsestand hat sich eben erst wieder aufgerappelt, als ein Bund Suppengemüse auf seinem Kopf zerschmettert wird. "Na ja, jetzt beweisen wir seinem Onkel auf jeden Fall, dass man an einem Wochenende umziehen kann.
Vielleicht wird das ja ein Schlüsselerlebnis für ihn. Wobei: sollen wir mal bei ihm vorbeischauen und ihm den aktuellen Stand berichten?" "Wie, vorbei?
Wo ist er denn?" fragt Jens. Er hat seine Erbensuppe längst ausgelöffelt hat hüpft nervös auf der Stelle herum. "Er sitzt auf dem Trödelmarkt und verkauft seinen Kellerinhalt", sage ich. Hanno sagt: "Trödeln ist gut." Wir gehen zum Transporter, lassen die Maschine an und fahren zum Stadtrand.
Der Trödelmarkt findet auf dem Parkplatz vom real-Großmarkt statt. Wir finden den Stand meines Onkels zwischen einem Plattenhändler und einem jungen blonden Mann, der steif hinter zwei Tapeziertischen mit Militaria und Büchern steht. Ich sehe deutsche Sturmhelme neben einer großen Biografie von Mao. Mein Onkel steht hinter seinem Gemischtwarenallerlei aus Geschirr, Konsalik und alter Technik. Meine Tante kriecht im Auto hinter dem Stand herum. Hanno und Jens grüßen die beiden und gehen zum Plattenstand nebenan.
Hanno zu den Platten, Jens zu den CDs. "Habt ihr schon aufgegeben?" fragt mein Onkel und zwinkert Hartmut zu. "Nein, der Transport der Aussteuer ist schon beendet." Mein Onkel sieht Hartmut an wie einen Regionalpolitiker, dem man glaubt, obwohl man ihm nicht glauben will. "Ach komm", sagt er, "in Wirklichkeit sortiert ihr doch noch die Eierbecher." Meine Tante kommt aus dem Wagen hervor. Sie legt ein paar bunte, rechteckige Kartons auf den Tapez iertisch. "Zahn, bist
du wahnsinnig!" sagt mein Onkel und nimmt sie direkt wieder auf, "die Super Nintendo-Spiele verkaufen wir doch nicht." "Aber die spielst du doch gar nicht mehr, seit du die Playstation hast", sagt meine Tante. "Ja, im Moment nicht, aber das heißt doch nicht, dass wir die verkaufen, Zahn." Mein Onkel besaß fast jede Konsole, seit es in den 80ern mit den Videospielen losging. Wenn wir über die Vergangenheit sprechen, sagen wir keine Jahreszahlen, sondern Dinge wie "das war,
als Super Mario 2 auf dem NES rauskam" oder "das war die Nacht, wo wir Suykoden gelöst haben."
Meine Tante seufzt. Sie räumt die Spiele ein wenig zur Seite, hinter ein Papier mit Marmorkuchen. "Wir wollten jedenfalls nur sagen, dass wir uns schon mal unseren Urlaubsort ausdenken", sagt Hartmut. Mein Onkel war sich bei der Wette so sicher, dass er uns im Falle eines Sieges einen Urlaub versprochen hat. "Und dass es für Sie bald nach Amerika geht", fügt Hartmut hinzu, denn auch das hat mein Onkel versprochen, falls er verliert. Mit seinem Zahn nach Amerika zu fliegen. Mein Onkel lacht
und boxt Hartmut in die Schulter. "Dann macht mal schnell weiter", sagt er. Hanno kommt herangeschlichen, zwei Platten von Motörhead in der Hand. Der blonde Standnachbar zur Rechten versucht, eine Frau zu beeindrucken, in dem er ihr von der Notwendigkeit der Kulturrevolution erzählt und dabei durch sie hindurch starrt.
Zurück in der Steinstraße tragen wir Möbel und Kartons in den schicken Neubau auf der Rückseite des Kornmarktes. Man kann von hier in die Küche des Irish Pub sehen. Auf einer Tafel steht, wie sich Mitarbeiter gegenüber Kunden zu verhalten haben. Hanno und Jörn stellen Schranktüren und Topfpflanzen, Kartons und Gardinenstangen, Lampen und Regalteile quer durcheinander. Jens reißt die ersten Kartons auf und grapscht Sachen heraus.
Wie alte Türkinnen auf dem Trödelmarkt, die einem schon um 6 Uhr morgens beim Standaufbau die Sachen aus dem Kofferraum rupfen. Hartmut steht in dem Treiben und ruft "Stopp! So geht das nicht! Wir brauchen einen Plan!" Es ist mittlerweile 16 Uhr geworden. Auspacken ist schwerer als Einpacken. "Hartmut entfaltet die Skizzen, die er sich zum Aufbau der Möbel gemacht hat. Er klebt sie an die Tür zur neuen Küche. Ich sehe die losen Anschlüsse für Spüle und Herd aus der Wand ragen. Ich denke daran,
dass wir die komplette Küche noch abbauen, holen und installieren müssen, was Hartmut auf dem Trödelmarkt dezent verschwiegen hat. Jens holt ein paar Bücher aus einem Karton. Er stellt sie sinnlos auf die Fensterbank, als könne man dort eine ganze Einrichtung zwischenlagern. Dann schaltet er einen kleinen Kassettenrekorder ein. Es ertönen hektisch geschrubbte Gitarren und ein karnickelschnelles Schlagzeug. Da niemand konzentriert arbeitet, sieht Jens uns nur kurz an, zupft eine Runde an seinem Ziegenbart, strahlt,
als wolle er etwas ankündigen und rast dann zur Musik einmal quer an der Wand durch das neue Wohnzimmer wie eines dieser Motorräder auf der Kirmes, das durch bloße Fliehkraft an den Schrägen bleibt. Ich schaue zu Hartmut herüber. Es wird doch nicht so einfach.
Gegen vier Uhr nachts stehen die ersten Möbel. Hanno ist eingeschlafen. Er liegt mit dem Kopf in der Wäsche des Onkels. Jörn schraubt mit leerem Blick an der Glastür der Schrankwand. Hartmut und ich richten ein Regal auf. Jens schmückt es mit Büchern, kaum, dass es in der Vertikalen steht. Es geht so schnell, als würde von oben Wasser in die Fächer laufen und sie in Sekundenschnelle auffüllen. Ich frage mich, ob er Drogen nimmt. Gegen halb acht Uhr morgens ist auch Jörn zusammengebrochen. Hartmut und ich bauen
immer noch weiter auf. Es gibt keinen Trick dabei, außer es einfach zu tun.
Jens flitzt hin und her und räumt Sachen von links nach rechts. Wenn man seine Energie kanalisieren könnte, wäre er zu Großem fähig, denke ich. Gegen zehn Uhr morgens werde ich ohnmächtig.
"Ach du Scheiße!" sagt Hartmut und ich schlage die Augen auf, als er aufspringt und den Blick von der Uhr nimmt. Hanno schnarcht mit dem Kopf in des Onkels Hosen. Jörn liegt neben der Schrankwand auf dem Bauch. Selbst Jens muss es irgendwann umgehauen haben. Er wird auf dem Klo gefunden, den Kopf an den Fliesen. Wahrscheinlich nickt er in Sekunden weg und es gibt bei ihm nur "aus" und "an". Jetzt ist er wieder an. Er rast durch die Kartons.
"Wir haben derbe verpennt", sagt Hartmut. Mir wird flau im Magen, als ich auf die Uhr sehe. Es ist drei Uhr nachmittags und morgen um fünf muss die Wohnung stehen. Ich fühle mich wie in der Schule, wenn einem einen Abend vorher einfiel, dass morgen Mathe-Arbeit ist. Wir wecken Hanno und Jörn und sagen ihnen, was sie arbeiten sollen. Dann fahren zu zweit zur Beguinenstraße, um die Küche abzubauen.
"Das schaffen wir nie", sage ich, als wir die schwere Arbeitsplatte in den LKW wuchten. Es ist schon fast sieben. Küchenabbau ist kein Pappenstiel.
Noch zehn Stunden. "Dann eben kein Urlaub", sage ich. Hartmut fährt die Hydraulikklappe hoch und sagt, er gebe nicht auf. Zurück an der neuen Wohnung, halten uns drei junge Männer die Haustür auf, als wir das erste Küchenteil herein schleppen. Sie gehen uns nach. Sie überholen uns und schlüpfen in die Wohnung meines Onkels. Hanno steht im Rahmen und raucht. Er sagt, dass er gerade Pause macht, da ohnehin Hilfe da sei. Er winkt uns rein. Wir finden eine eingerichtete Wohnung vor, in der alle Möbel an
ihrem Platz stehen. Eine Menge junger Leute sortieren Bücher ein, bauen die Stereoanlage aufbauen, justieren Fernsehprogramme und hängen Gardinen auf.
"Ich habe ein paar Freunde angerufen", erklärt Jens die Situation. Er tippt auf seinem Handy und pfeift dazu die Musik im Rekorder nach, die anscheinend alle hier mögen. Lauter kleine Varianten von Jens tummeln umher. Sie tragen Ziegenbärtchen und bunte T-Shirts von Bands, die in Kalifornien leben und nur zwei Lieder schreiben können: schnelle und sehr schnelle. Ein paar der Jens-Klone haben Menschenketten gebildet. Sie werfen sich quer durch die Wohnung Gegenstände zu, die am Ende in einem Schrank
landen. Fehlt nur noch die Küche und es ist vollbracht. Zehn Stunden hört sich doch nicht mehr nach viel an. Hartmut und ich stellen das Schrankteil ab. Es wird sofort von wuselnden Jensen in die richtige Ecke gerückt. Hartmut zückt sein Handy und fragt mich nach der Nummer meines Onkels. Ich sage sie ihm. Er horcht. "Ja, hallo", sagt er, "ich glaube, Sie verlieren die Wette... Ja, steht schon.
Ja, steht auch schon. Ist gemacht. Ist gerade im Gange." Hartmut genießt es, auf jedes Nachhaken meines Onkels am anderen Ende der Leitung keck mitteilen zu können, dass schon alles geschafft wurde. Ich sehe meinen Onkel vor mir, wie er in seiner Gastunterkunft bei seinen Schwiegereltern sitzt und sich überreden muss, Hartmut zu glauben. Zehn Minuten geht das so. Dann wird Hartmut plötzlich bleich und ihm fällt der Kiefer herunter. "Ja, haben wir auch", sagt er und lügt dabei. Dann verabschiedet
er sich und legt auf. Ein Jens rast kurz zwischen uns hindurch, als Hartmut mich ansieht und sagt:
"Wir sind im Eimer..." "Wieso?" frage ich. "Wir sind im Eimer", wiederholt Hartmut und geht mit fuchtelnden Armen durch das Gerenne der Jense, die immer mehr werden und jetzt wie Ameisen um Hanno und Jörn herumwuseln, die den Kühlschrank hereinschleppen. "Ich habe mit deinem Onkel gewettet, dass er nach 48 Stunden eine vollwertige Wohnung vorfindet", sagt Hartmut. "Und zu einer vollwertigen Wohnung gehören in Deutschland nun einmal drei Schlüssel, richtig?" Ich
nicke, obwohl ich nicht so genau weiß, ob das stimmt. Hartmut wedelt mit dem Finger in meine Richtung. "Dein Onkel mag vielleicht nicht sehr spontan sein, aber dafür denkt er an alles", sagt Hartmut. Da hat er Recht. Mein Onkel sitzt in der Verwaltung von UPS.
Während seiner Amtszeit gingen die wenigsten Pakete verloren. "Wir haben nur einen Schlüssel von dieser Wohnung", sagt Hartmut und hält die Hände links und rechts seines Kopfes. "Und wir brauchen drei." "Wir brauchen einen Schlüsselmacher", sage ich. Ein paar Jense stehen sich gegenseitig im Weg.
Es wird immer voller. Einer springt von der Fensterbank und surft über die Hände der anderen zum Klo. "Es ist Sonntag und der Notdienst macht keine Schlüssel nach", sagt Hartmut. "Aber trotzdem, wir brauchen einen Schlüsselmacher."
Wir stehen vor dem Eckhaus gegenüber der Jägerstube und wählen die Nummer, die der Besitzer des kleinen Schlüsselladens auf die Fensterscheibe geklebt hat. Es nimmt niemand ab. Der LKW steht auf dem Bürgersteig und versperrt die halbe Straße. Ein anderes Transportmittel haben wir nicht. Über dem winzigen Laden geht ein Fenster auf. "Sucht ihr einen Schlüsselmacher?", ruft eine alte Frau herunter. Sie hat Falten. Sie wirkt, als wäre sie im Leben häufig gegenüber in der Jägerstube gewesen. Wir nicken.
"Es ist dringend", sagt Hartmut. "Alfred" ruft die Frau in die Wohnung hinein, "war nicht der Schwager von der Loschelder auch Schlüsselmacher?" Ein blechernes Geräusch ertönt aus der Wohnung. Es war wahrscheinlich eine Antwort. Die Frau schüttelt den Kopf, als sei ihr Mann ein wenig matschig in der Birne.
Sie sagt: "Fahrt mal zu der Eisdiele am Bahnhof und fragt nach dem Schwager von der Besitzerin." In der Eisdiele sagt uns die Chefin, dass es sich um einen Irrtum handeln muss und fragt, wer uns das alles erzählt habe. Ein Fahrradfahrer schimpft, dass ein LKW den Weg versperrt. Wir erzählen von der Frau gegenüber der Jägerstube und die Eisfrau lacht: "Ach, die olle Niemann, sicher. Die meinte bestimmt den Neffen von dem Vorbesitzer hier. Der war früher mit dessen jüngerer Cousine verheiratet. Terstegen
heißen die. Sag mal, Marcello, weißt du noch, wo die jetzt wohnen?" Ein Italiener sagt etwas aus dem Hintergrund. "Marcello weiß es auch nicht, aber fragt mal im Berliner Tor nach. Die haben auch immer mit denen zu tun gehabt. Wegen Karneval und so." Wir steigen wieder in den Laster und fahren eine Straße zurück zum Berliner Tor. Der Transporter passt kaum irgendwohin. Wir stellen ihn quer über drei Parkplätze. Ein Rentner blickt böse. Im Restaurant, das sich oben in dem historischen Tor befindet,
sagt der belgische Chef mit französischem Akzent zu uns: "So so, da hat man Ihnen also gesagt, ich würde diesen Herrn Terstegen vom Karneval kennen." Der Mann spielt mit einer Serviette herum, als wolle er uns auf die Folter spannen. "Und bloß, weil das jemand gesagt hat, kommen Sie hierher. Ursache und Wirkung." Er kichert.
Er nimmt einen Schluck Wein, der hinter ihm auf der Theke steht. "Kennen Sie ihn nun oder kennen Sie ihn nicht?" fragt Hartmut. "Wollen Sie sich nicht erst mal setzen und etwas mit mir trinken?", fragt der Belgier und zeigt auf einen Tisch. "Nein, wir brauchen diesen Mann", sagt Hartmut. Er sieht auf die Uhr über dem Eingang zur Küche. Noch acht Stunden. "Was wollen Sie denn von ihm?", fragt der Belgier und blinzelt wieder. "Er soll Schlüsselmacher sein", sagt
Hartmut. "Ahhh, magnifique, ein Schlüsselmacher", sagt der Belgier und tänzelt herum. Hartmut rollt mit den Augen: "Gut, dann eben nicht", sagt er, doch der Belgier hält ihn ein wenig an der Schulter und
sagt: "Seien Sie doch nicht so hastig. Ich kenne den Terstegen, ja, aber der war kein Schlüsselmacher. Wenn Sie einen Schlüsselmacher suchen, fahren Sie zur letzten Tankstelle Richtung Autobahn. Der Sohn des Besitzers ist Schlüsselmacher. Fragen Sie, Fragen Sie..."
Wir fragen. Der Tankstellenmann sagt, sein Sohn sei zwar alles, aber kein Schlüsselmacher. Er kenne aber den Belgier aus dem Berliner Tor, vom Schützenfest. Er habe bestimmt den Sohn der Janckers gemeint, der sehe seinem sehr ähnlich. Der mache etwas mit Schlüsseln. Die Janckers schicken uns nach Flüren, zum Bruder des Platzwarts vom Waldstadion. Der gibt uns den heißen Tipp, bei Schweickers zu fragen, die sich aber sicher sind, vom Platzwart mit den Knöpfels verwechselt worden zu sein. Nach Mitternacht werden
die Antworten der einzelnen Familien schon ruppiger. Gegen zwei Uhr nachts kann Hartmut noch genau einen alleinstehenden Mann für den genauen Hergang der bisherigen Recherchen begeistern, den er exakt wiedergibt. Der Mann freut sich, wenn er einen Namen erkennt. Um 2:00 Uhr greifen die Befragten zum Hörer, um die Polizei zu rufen. Wir klingeln schon blind an den Häusern. Wir werfen den Menschen irgendwelche Namen an den Kopf, es gibt niemanden, der keinen davon kennt. Nur ein Schlüsselmacher ist nicht darunter.
Als es drei wird, fährt Hartmut wieder zu der Tankstelle. "Da waren wir schon", sage ich, aber Hartmut nickt nur, kommt mit einer Palette Bier zurück und sagt: "Wir haben die Wette verloren, fahren wir zum Rhein."
Es ist halb vier, als wir auf unsere Lieblingslandzunge am Rhein zugehen, um auf die verlorene Wette anzustoßen. Wir öffnen zwei Dosen. Das Bier schäumt und tropft ins Wasser. Der Rhein schwappt gegen die großen Steine. Im Wasser schräg vor uns steht ein kleiner Mann mit großen Stiefeln, die fast bis an seine Hüfte reichen, und angelt. Er sagt "Prost!" und wirft eine neue Leine aus. Man fühlt sich irgendwie verbunden, wenn man um 3:30 Uhr gemeinsam am Rhein ist. "Da gibt der Schlüssel den Ausschlag",
sagt Hartmut und schüttelt den Kopf. "Der dämliche Schlüssel..." Der Angler dreht sich zu uns um und sagt nichts, schaut wieder auf den Rhein, dreht sich wieder um.
"Hm?" macht Hartmut und sieht ihn an. "Ich dachte nur, Sie hätten über Schlüssel geredet", sagt der Angler. "Ja, und?" sagt Hartmut. "Nichts, ich bin bloß Schlüsselmacher, deswegen", sagt der Mann. Hartmut fällt die Bierdose aus der geschlossenen Hand. Der Angler zieht einen Fisch an Land.
"Man muss es nur nicht krampfhaft wollen", sagt er, lächelt und wirft ihn in seine Box.
Um 4:50 Uhr klingeln mein Onkel und meine Tante an der Tür ihrer neuen Wohnung. Sie waren bis eben im Marlene, der kleinen Weinbar in der Nähe.
Mein Onkel hat sogar noch mit den Wirten gewettet, dass sie gleich nicht in eine fertige Wohnung kommen werden. Meine Tante wettete dagegen. Sie will mit ihm nach Amerika. Hartmut bittet die beiden hinein. In der Küche brummt die Spülmaschine von den Tassen und Tellern der Helfer. Sie haben sich Pizza bestellt und einen Zettel dagelassen: "3:30 Uhr. Melden Vollendung.
Gezeichnet: die Stabschefs". Darunter ein Grinsemännchen. Die Zeitung liegt auf dem Tisch, neben dem Eierbecher. Mein Onkel berührt seine Möbel. Er schaltet die Stereoanlage an und den Fernseher. Dann schaltet er auf den externen Kanal und prüft, ob die Playstation funktioniert. Meine Tante sagt:
"Pfote, wir fliegen bald über den großen Teich." Mein Onkel setzt sich an den Tisch in der Küche und sieht zu Hartmut auf: "Die drei Schlüssel", sagt er und schmunzelt wie ein Stürmer, der den Torwart noch im letzten Moment umlaufen hat und alleine auf das Tor zurennt. Dann greift Hartmut in seine Hemdtasche und blättert drei Schlüssel auf den Tisch, langsam, wie Asse beim Poker. "Wie habt ihr denn das noch geschafft", flüstert er. Er sieht sich die Gurte im Jumbo anlegen, nachdem
er unseren Scheck für den Urlaub bezahlt hat. "Wir waren Angeln", sagt Hartmut. "Am Rhein." Dann schaut er auf seine Uhr, zieht das blaue Holzschildchen mit "Hier leben und lieben Pfote und Zahn" aus seiner Tasche und schraubt es draußen neben die Tür. "4 Uhr 59", sagt er. Ich puste wie ein Pilot, der eben noch die Kurve gekriegt hat, gehe zum Wohnzimmersessel und lege ein Spiel in die Playstation ein.
Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.