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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Notizen aus dem Werkspraktikum

© Claudia Siemon


13. Juni, 19.00 Uhr
Es wird Zeit, dass ich meine Aufzeichnungen beginne, sonst werde ich mich mit meinem Praktikumsbericht schwer tun. Aber die tägliche Arbeit ist so anstrengend, dass ich am Abend gerade noch die Kraft habe, mit ein Essen zu richten und zu duschen. Danach falle ich wie gerädert ins Bett, auch wenn es noch nicht einmal neun Uhr ist, und schlafe, schlafe wie ein Stein. Kein Gedanke daran, auszugehen. Kino, Theater, Disco, die Freundin, das muss bis zum Wochenende warten. Kaum, dass ich mich einmal aufraffe, auf ein Bier in den "Treffpunkt" zu gehen. Hätte nie gedacht, dass die Arbeit in der Werkstatt so anstrengend ist. Schade um die schönen Sommerabende! Ob es den Kommilitonen bei ihren Praktika besser ergeht?
14. Juni, 19.00 Uhr
Gott sei Dank, heute ist Freitag! Morgen kann ich pennen! Abends dann die Fete bei Chris, da wird's wieder spät. Also versuche ich mal, wie weit ich komme mit meinem Bericht.
So leicht ist es gar nicht, einen brauchbaren Bericht zu schreiben. Die Abläufe bei der Arbeit, nämlich die Wartung der Straßenbahngarnituren, (Waschen, Ölen, Kontrollieren der Waggons, die Reparaturen, die wir durchführen: klemmende Türen, defekte Fenster, abgerissene oder abgebrochene Haltegriffe), das ist kein Problem. Da kopiere ich einfach die Tagesberichte aus dem Journalheft. Aber das ist es ja nicht allein. Die Arbeitswelt unterscheidet sich so sehr von meinem gewohnten Arbeitstag an der Uni! Dabei bin ich kein Student, der nichts tut und nur bummelt. Das kann ich mir nicht leisten. Das Stipendium gibt es nur für eine bestimmte Zeit, und innerhalb derer muss ich fertig werden.
Dennoch - irgendwo muss ich anfangen. Beginne ich einfach einmal am Morgen eines beliebigen Arbeitstages. Aufstehen um 4.00 Uhr (na ja, meist erst um 04.30 Uh, da komme ich immer noch rechtzeitig, wenn ich das Frühstück ausfallen lasse). Um fünf verlasse ich das Wohnheim. Die Zeitungen liegen schon vor der Tür. Da muss jemand noch früher aufstehen als ich.
Meine Schicht beginnt um 06.00 Uhr. Die Arbeit ist in Zwei-Stunden-Blöcke eingeteilt, theoretisch jedenfalls. Um acht eine Pause, eine halbe Stunde, dann Arbeit bis um 11.00, eine Viertelstunde Pause, dann Arbeit bis um eins. Eine Stunde Mittagpause. Weniger wäre sinnlos, denn in der Werkstatt gibt es keine Kantine, und wir müssen mit der Straßenbahn vier Haltestellen fahren, bis wir ein Lokal erreichen, das einen billigen Mittagstisch bietet. Ich kann auch im Supermarkt belegte Semmeln und Cola kaufen, aber letztlich ist das fast genau so teuer wie das Stammessen im "Schwarzen Lamm", und nicht halb so gut. Mit der Mensa ist es im Grunde genommen ähnlich. Allerdings ist sie noch etwas billiger.
Eigentlich sollten wir am Nachmittag um 16.00 Uhr fertig sein, aber das klappt selten. Meist ist dann immer noch ein Wagen fertig zu machen, durchzuchecken; vor 17.00 Uhr bin ich fast nie draußen. Das ist halt so, sagen die Männer. Du kannst ja meckern, bist eh bald wieder weg. Wir können uns das nicht leisten, wenn wir unsere Stelle behalten wollen.
Vorbehalte gegen mich haben sie sonst nicht. Es kommen so oft Praktikanten, da sind sie es gewöhnt, immer wieder jemanden einzuarbeiten. Irgendwie, glaube ich, mögen sie mich sogar. Jedenfalls haben sie noch nie versucht, mich hereinzulegen, und sie haben mich davor gewarnt, durch die südliche Vorstadt zur Haltestelle zu gehen. Da leben nur Sandler und Ausländer, haben sie gesagt. Selbst wir vermeiden es, uns da aufzuhalten. Das will etwas heißen. Der das gesagt hat, ist ein Trumm von Kerl. Der fürchtet sich nicht so schnell vor etwas. Sagt er selber.
Ich nehme aber trotzdem diese Abkürzung. Sonst muss ich noch früher aufstehen. Aber verstehen kann ich die Männer. Befände sich dahinter nicht meine Straßenbahnhaltestelle, dann gäbe es wahrhaftig keinen Grund, hier durchzugehen. Schon tagsüber ist diese Gegend nicht sonderlich einladend. Zu den Zeiten, zu denen ich sie frequentiere, ist sie - ich kann's nicht anders sagen - fragwürdig. Das liegt nicht nur an den keineswegs mehr zweideutigen Etablissements, die hier beheimatet sind, sondern an ihrer mittelalterlich anmutenden Enge, dem Schmutz und der generellen Schäbigkeit. Irgendwie ist dieser Teil unserer Stadt den wachsamen Augen der Städteplaner entgangen, auch wenn es Bürger gibt, die über diesen Schandfleck wettern. Trotzdem, irgendwie mag ich diese Gegend, die windschiefen Mauern und hutzeligen Häuser, die sogar ein interessanter Anziehungspunkt für Touristen sein könnten, spendierte man ihnen nur einige Reparaturen und ein wenig Farbe.
Länger aufhalten tue ich mich hier allerdings nicht. Schließlich komme ich nicht als Kunde der Damen, die zu der unchristlich frühen Stunde, zu der ich mich hier aufhalte, ohnehin in den wohlverdienten Schlaf gesunken sind. Ich will einfach Zeit sparen auf dem Weg zur Arbeit. Morgens noch zehn Minuten länger schlafen zu können, dafür kann man schon durch eine düstere Gasse eilen, anstatt den hell erleuchteten Brunnenplatz zu queren! Auf den Monat gerechnet bedeuten die morgendlichen zehn Minuten bereits drei Stunden und zwanzig Minuten mehr Ruhe. Wenn ich mir ausrechne, was da im Jahr zusammenkäme! Für mich lohnt es sich jetzt schon.
Übrigens bietet das Viertel Gelegenheit zu interessanten Beobachtungen. Ein bisschen Abwechslung auf dem Weg zur Arbeit ist doch nicht zu verachten. Ich liebe die skurrilen Begegnungen und Anblicke. Im Hauseingang Nummer drei zum Beispiel steht ein Weihnachtsmann. Seltsam genug, mitten im Sommer. Aber damit nicht genug: dieser Weihnachtsmann sieht aus, als stehe er hier bereits seit Jahren. Tut er wahrscheinlich auch. Staubig, mit gräulich zerzaustem Bart, der weiße Pelz seines Mantels zu einem schmutzigen Grau mutiert, steht er da und grinst mich allmorgendlich an. Noch an keinem Tag hat er es verabsäumt, mir mit erhobener Hand, aus der ihm jemand den Sack mit den Geschenken entwendet hat, seinen Gruß zu entbieten, wenn ich vorbeigehe.
Vor dem verwitterten Plakat, von dem niemand mehr zu sagen weiß, was es ursprünglich anpreisen sollte, treffe ich regelmäßig die kleine Frau Gundula (ich weiß nicht, ob sie so heißt, aber in meinen Augen sieht sie so aus, und überhaupt würde kein anderer Name zu ihr passen), die vermutlich sommers wie winters ein Kopftuch trägt, blau gepunktet oder rot kariert, immer abwechselnd, je nachdem, welches gerade in der Wäsche ist. Sie begrüßt mich mit einem strahlenden "Wunderschöner guter Morgen!", wobei sie ihre vereinzelten, blendendweißen Zähne großzügig und völlig ungeniert zur Schau stellt. Das unlesbare Plakat haben die Bewohner seit langem zu einer inoffiziellen Nachrichtenübermittlungsstelle umfunktioniert, an der neben den üblichen Verkündigungen wie "Natascha ist doof", "Rudi liebt Bojanka" und unmissverständlichen Aufforderungen wie "Fuck!" auch Informationen wie "Graue Damenjacke verloren" und "Repariere günstig alle Elektrogeräte" zu finden sind.
Im Haus gegenüber sitzt ein verfetteter Dackel im Fenster und gähnt. Ist er einmal nicht zur Stelle, male ich mir sofort die schrecklichsten Schauergeschichten aus, was mit ihm und seinem betagten Herrchen (den Mann sehe ich fast jeden Nachmittag mit einer Bierflasche unter dem Arm und dem Hund an der Leine das Haus betreten, exakt um fünf Uhr zweiundzwanzig) geschehen sein kann und bin erst beruhigt, wenn ich ihnen auf meinem Rückweg begegne. Grüßen tun sie nie. Herr und Hund sind viel zu intensiv damit beschäftigt, das einzige neue Plakat zu studieren, das es hier seit einigen Wochen gibt: "Bock auf Rock?". Ob sie wirklich erwägen, sich einen Jägermeister zu genehmigen? Oder träumen sie von "Bock" und "Rock"? Dabei dürften ihre Träume sich von dem tatsächlich Gemeinten dann allerdings ganz erheblich unterscheiden.
Überhaupt die Plakate! Es gibt noch einige davon, an den Wänden, die schon vor Jahrzehnten von cleveren Hausbesitzern als lukrative Werbeflächen angeboten wurden. Manchmal lenken sie mich davon ab, darüber nachzusinnen, woher die Menschen kommen, die gerade daran vorbeigehen: die blonde junge Frau in dem kurzen schwarzen Kleid zum Beispiel - eine Kellnerin in einem der Frühstückscafés? -, ein älterer grauhaariger Türke, der, wie ich inzwischen weiß, bei der Straßenreinigung beschäftigt ist, die beiden Putzfrauen der Firma "Blitz und blank" in ihren Firmenkitteln, der junge Bursche, der betrunken im Hauseingang fünfzehn A sitzt.
Warum sollten die beiden Putzfrauen sich für ihre Wohnung schämen? Oder mit einem Fremden darüber reden? Ich weiß ja noch nicht einmal, ob sie einen Mann haben, wie das Plakat andeutet. Und wenn - hätten die Männer Grund, sich zu schämen? Warum haben sie den Fremden überhaupt zu sich eingeladen?
Soll der junge Bursche "schon einmal üben, reich zu sein"? Vielleicht träumt er ja jede Nacht davon. Tu ich auch. Zuweilen. Auch ohne Rausch. Und was denkt sich der Türke bei den jungen Mädchen, die mehr als nur leicht bekleidet für Tangaslips Reklame machen? Freut er sich, sie zu sehen? Fühlt er sich beleidigt? Nimmt er sie gar nicht wahr?
Ich jedenfalls habe festgestellt, dass ich mich darüber ärgere, wenn ein Politiker strahlend von der Wand herunter den Vorbeigehenden kundtut, er habe die Betriebe entlastet. "Warum nicht die Arbeiter? Die zahlen Steuern, dass ihnen die Schwarte knackt, arbeiten, seit sie vierzehn waren und werden, wenn's so weiter geht, arbeiten müssen, bis sie siebzig sind. Ihr solltet lieber …"
An dieser Stelle unterbricht mich regelmäßig ein wüstes Knattern.. Ich springe zur Seite, um mich vor dem Mopedfahrer in Sicherheit zu bringen, der durch die Straße braust und mit gezieltem Schwung vor jeder Tür Reklamematerial abwirft. "He, Kumpel, mach Platz und lass die Selbstgespräche! Da vorne kommt die Straßenbahn. Renn, sonst ist sie weg!" Er knattert davon, winkt dem Straßenbahnfahrer zu, deutet auf mich: ‚Da kommt noch einer!'
Ohne den Jungen würde ich meine Bahn selten erreichen. Die Menschen auf dem Weg zur Haltestelle, lebendige und photographierte, halten mich fast jeden Tag so lange auf. Ob es anderen Menschen an anderen Haltestellen, in anderen Städten, auch so geht? Zur Arbeit war ich bisher jedenfalls rechtzeitig da. Und ein Tag verläuft wie der andere.
17. Juni, 20.00 Uhr
Gerade habe ich meinen Bericht noch einmal durchgelesen. Von dem, was ich beschreiben und wissenschaftlich analysieren soll, ist noch nicht viel drin: der Arbeitsablauf, die Beschreibung der Werkstatt, die Pausenregelung, Sicherheitsvorkehrungen, Löhne, Versicherung. Ich werde noch einmal ganz von vorn beginnen müssen. Diesen Text kann ich für meine Seminararbeit nicht gebrauchen.
Nur eines ist mir plötzlich und schlagartig klar geworden: ich habe viel gelernt. Sehr viel sogar. Nicht nur, wie man einen Straßenbahnwagen ölt. Das auch, natürlich; Fertigkeiten, die ich möglicherweise nie wieder in meinem Leben werde verwenden können. Aber - das ist es ja gerade.
Ich habe gelernt, wie ein Arbeiter zu arbeiten. Aber ich komme mir nicht vor wie einer von ihnen. Und sie sehen mich auch nicht als ihresgleichen. Sie akzeptieren mich, ok. Aber ich gehöre nicht wirklich dazu.
Irgendwie kränkt mich das. Gefällt es mir nicht. Schließlich drücke ich mich vor keiner Arbeit, greife überall mit zu. Mehr Geld als sie habe ich auch nicht. Weder hier, mit dem Praktikantenentgelt, noch mit der Studienbeihilfe. Damit kann man auch keine großen Sprünge machen.
Aber - es fällt mir wie die berühmten Schuppen von den Augen - für mich ist das nur ein Abschnitt in meinem Leben. Ein lehrreicher, wichtiger, aber nichtsdestotrotz nur sehr kleiner Abschnitt. Bald kehre ich zurück an die Uni. Habe dann noch ein paar Wochen Semesterferien. Und danach geht es mit dem Studium weiter. Wie meine Zukunft aussehen wird, weiß ich noch nicht. Ich kann meinen Doktor machen. In eine große Gesellschaft eintreten. Ins Ausland gehen. Es gibt so viele Möglichkeiten.
Für die Arbeiter hier gibt es keine Möglichkeiten. Oder fast keine. Sie werden diese Arbeit machen, bis sie in Rente gehen. Wenn sie Glück haben und nicht gekündigt werden. Arbeitslos werden ist eine ganz große Gefahr. Es passiert häufig in letzter Zeit. Davor fürchten sich alle.
Tag für Tag derselbe Trott, dieselbe Arbeit, derselbe Weg. Die Highlights ihres Lebens sind Feiertage, die so günstig fallen, dass sie einen Urlaubstag einsparen können. Eine Betriebsfeier, bei der es gut zu essen gibt. Ein Tag, an dem sie nicht ganz gerechtfertigt in Krankenstand gehen.
Diese Gleichförmigkeit hielte ich nicht aus. Meine Arbeit hier in der Werkstatt hat mir gezeigt, wie privilegiert ich bin, mit meinen Zukunftsaussichten. Garantien gibt es auch für mich keine. Arbeitslose Akademiker sind heutzutage keine Seltenheit mehr. Aber vorläufig - vorläufig habe ich eine gute Zeit vor mir. Ich freue mich darauf, an die Uni zurückzukommen. Ich schäme mich dafür, aber ich kann es nicht leugnen: ich bin gern privilegiert. Ohne dieses Praktikum hätte ich nie gewusst, dass ich es bin.



Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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