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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Sonntag

© Ortrud Büthe


In der Schwärze des an die Straße grenzenden Waldstücks leuchteten plötzlich zwei kleine Punkte auf. Es waren Augen. Als die Konturen des Tiers im Scheinwerferlicht des Wagens zu sehen waren, trat Lene auf die Bremse, aber sie war schon zu nah dran. Ein dumpfer Knall. Der Geländewagen rutschte einige Meter über die Grasnarbe. Durch eine Baumreihe hindurch blinkte die Tankstellenreklame vom Rasthof an der Autobahn-Auffahrt. "Scheiße, autsch!" fluchte Jens und massierte sich die linke Schulter, "Wieso kannst Du nicht aufpassen?"
Der Geburtstag ihrer Schwiegermutter bedeutete für Lene auch dieses Mal ein verhageltes Wochenende. Sie begrüßte es deswegen sehr, dass sie sich heute bereits nach dem Abendessen auf den Weg nach Hause machen mussten, denn es hatte begonnen, sehr stark zu schneien. Jens hatte sich nicht zurückgehalten, als nach dem Kaffee Weinbrand angeboten wurde. "Du musst fahren" hatte er entschieden. Lene war erleichtert, als sie sich verabschiedeten. Sie hatte den ganzen Tag zwischen den Frauen seiner Cousins, Ruth und Karin auf dem Sofa gehockt. Beide zeigten wenig Interesse an dem, was Lene erzählte, ganz gleich ob sie von beruflichen Angelegenheiten oder ihren zahlreichen Hobbys sprach. Das war ihr schon vor sechs Jahren auf ihrer eigenen Hochzeitsfeier unangenehm aufgefallen. Lene hatte erwartet, dass sich dieses Problem langsam besserte, weil sich die Frauen näher kennen lernten. Stattdessen schien es sich bei jedem erneuten Zusammentreffen zu verschlimmern.
"Unser Sportverein bietet einen Selbstverteidigungs-Kurs für Frauen an...", hatte Lene begonnen und wollte fortfahren zu erzählen, doch Ruth war ihr dazwischen gefahren: "Ich müsste unseren Tobias auch mal bei einem Sportkurs anmelden. Der ist so hibbelig, irgendwann zertrümmert er uns noch das ganze Mobiliar, echt eine Plage das Kind!" Und Sina fiel ein: "Kenn ich. Kira zerdeppert auch ihr ganzes Spielzeug, nervtötend ist das, sag ich dir." Das einzige Gesprächsthema, das die beiden Frauen akzeptierten, schienen ihre eigenen Kinder zu sein.
Abwechselnd wurde Lene über Nöte, die eine Mutter mit Kindern hat, sowie die absolute Notwendigkeit des Kinderkriegens aufgeklärt. "Du hast ja keine Vorstellung wie viel Arbeit die Kids machen", hatten Ruth und Sina ihr versichert während Jens Mutter dazwischen nicht müde wurde, sie zu fragen, warum sie mit Jens kein Baby habe.
Ihr Mann hielt sich grundsätzlich aus dem, was Frauen sagten, heraus. Jens wollte zum jetzigen Zeitpunkt ebenso wenig Kinder haben wie sie. Trotzdem überließ er sie den Überredungsversuchen seiner Mutter. Etwas hatte sich in ihrem Magen zusammengekrampft, als sie daran dachte, dass ihr ein genauso müder Sonntag schon in zwei Wochen wieder bevorstand, wenn sich fast dieselben Leute zum Geburtstag seiner Schwester in deren Haus versammelten.
Was hab ich getan, dachte Lene. Sie öffnete die Tür und stieg aus. Es war kalt. In unmittelbarer Nähe des Wagens war es fast schwarz. Das Standlicht beleuchtete nur einen kleinen Kegel um die Vorderseite des Autos herum. Von den blinkenden Zeichen in der Ferne geblendet, konnte Lene zunächst keine Spur eines verletzten oder toten Tieres entdecken.
Lene neigte den Kopf, da sah sie plötzlich ein paar braune Läufe unter dem Auto. Sie zitterten. Es lebte noch! Lene zog abwechselnd schnell die kalte Luft ein und stieß sie wieder aus. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Konnte sie dem armen Tier noch helfen? Immer noch hastig atmend kroch sie unter das Auto, ihre braunen Locken verfingen sich an der Einstiegskante der Tür. "Was suchst Du?" fragte Jens, der auf der gegenüberliegenden Seite unter das Auto sah. "Ach Du Scheiße, ein verdammter Rehbraten. Es schneit wieder doller, wir sollten schleunigst abhauen."
Lene keuchte vor Anstrengung, als sie sich abmühte, den überraschend schweren Körper an den Beinen unter dem Auto hervorzuziehen. Offensichtlich war das Reh nicht unter die breiten Räder geraten. Ein Glück? Hinter ihr knirschte der frische Schnee. Jens tippte ungeduldig mit der Schuhspitze auf den Boden. "Das Vieh ist hin" erklärte er, "jetzt komm, steig wieder ein" "Nein, es atmet noch" flüstere Lene. Sie beobachtete, wie der Brustkorb des Tiers sich auf und ab bewegte. Es zitterte am ganzen Körper. "Was willst Du denn machen, noch mal drüberfahren oder was?"
Oh, es wird sterben, dachte Lene. Der Schnee um den zitternden Körper herum färbte sich rot. Sie war noch nie zuvor einem Reh so nahe gekommen. Die Augen waren so groß. Sahen sie immer so hilflos aus? So voller Unschuld. Und Leid. Das Reh ist schwach, dachte Lene. Sie konnte nicht aufhören, in diese Augen zu schauen, die eine Botschaft zu überbringen schienen, nur für sie. Als wolle es sagen "Ich sterbe für Dich." Langsam und vorsichtig strich sie über das Fell. Wenn ich es doch ungeschehen machen könnte, wenn ich dich doch wieder lebendig machen könnte, dachte sie. Das Zittern wurde schwächer. Lene sah, wie die Augen des Tieres brachen. Es bewegte sich nicht mehr. Es war tot. Ich bin auch schwach, dachte sie. Ich werde überfahren wie dieses Reh, jeden Tag. "OK, Du hast Bambi ermordet, beruhig Dich wieder und lass uns endlich weiterfahren. Mir ist kalt". Jens tätschelte seiner Frau den Arm. "Los jetzt", wiederholte er noch einmal. Dann marschierte er eilig um den Wagen herum und stieg auf der Beifahrerseite ein. Zitternd und mit bleichem Gesicht nahm Lene wieder am Steuer Platz und nestelte eine Kugelschreiber aus ihrer Handtasche. Es gelang ihr kaum, ihre Hand ruhig zu halten, während sie etwas auf die Rückseite einer Parkquittung schrieb.
"Spinnst Du komplett? Willst Du hier in der Wildnis Briefe schreiben?". Jens blickte genervt aus dem Seitenfenster, die schneebedeckte Straße führte an der Raststätte vorbei ins dunkle Nichts. Er gähnte laut. Lene faltete den Zettel mehrere Male zusammen bis er ganz klein war. Als Frank sich umdrehte, stieß er sich mit dem Kinn an den Fingerknöcheln ihrer Hand, mit der sie ihm den Zettel vorhielt.
"Au!" rief er mit übertriebenem Schmerz in der Stimme. Er betätigte den Fensterheber, schnappte den Zettel und warf ihn hinaus in den Schnee. "Was ist denn jetzt noch?" fragte Jens, als er Lene erneut aussteigen sah, den Zündschlüssel hatte sie im Schloss stecken lassen. Sie verschwand zwischen den Bäumen und strebte auf die Lichter des Rasthofs zu. "Wieso bist Du nicht bei Mama noch aufs Klo gegangen, aber Du machst ja aus Prinzip nicht was ich Dir sage", rief er ihr durch die geöffnete Fahrertür hinterher.
Irgendwann würde er sich auf die Suche nach der Parkquittung machen. "Ich verlasse Dich" stand darauf.



Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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