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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Befreiung
© Ger Seidel
Im sechsten Stock, Kinderzimmer, steht ein Bett, dessen Oberfläche seit Stunden von der gleichen, unbeweglichen Last gedrückt wird. Durch die Jalousie fällt gedämpftes Nachmittagslicht auf die vielen großen Poster englischer Boygroups. Hinter einem verrutschten Poster lugt ein Flecken bunte Kindertapete hervor. Über dem Bett prangt ein unrasierter Typ mit Waschbrettbauch zwischen Shakira, Avril Lavigne und anderen makellosen nackten Superfrauen in aufreizender Pose.
Lange, blonde, Haare mit stellenweise verräterisch dunklen Wurzeln verdecken wild verteilt einige Pickel auf dem dicklich runden Gesicht, das ins Kissen drückt.
Wieder schreit eine hysterische Frauenstimme von außen gegen die verschlossene Tür: "Wenn du nicht sofort aufmachst, hole ich den Schlüsseldienst!" Die Klinke rasselt sinnlos auf und ab. "Aber diesmal kommt gleich die Frau Doktor Müller-Reiss mit und dann gehst du ab! Das ist dir wohl klar!"
Wie durch dicke Watte gedämpft, dringen die Worte zusammenhanglos ins Ohr auf dem Bett. Einzig der Name Müller-Reiss lässt eine kleine Flamme aufgestauten Hasses züngeln. Sechs Wochen hatte die "Müller-Scheiss" angedroht, liegt irgendwo im Abfallberg der Erinnerungen vergraben. Wertlose Erinnerungen an die Versuche, alles zu tun, um bloß nicht wieder da hin zu müssen, wo die Wände schreien und weiße Peiniger ausspeien, eingemauert ohne Tür und Fenster.
Doch die Versuche waren allesamt aussichtslos, sinnlos, egal, so egal, so dermaßen egal, so unbeschreiblich egal wie das Geschrei vor der Tür, der Bohrlärm des Schlüsseldienstes, so egal, wie das Rütteln an ihrer Schulter, gleichgültig wer es tut und dass ihr linkes Augenlied hochgezogen wird. Doch als ein grelles Licht schmerzhaft ihr Auge blendet, schlägt sie gegen den Peiniger. Ihre Hand verfehlt den Arm, der die Lampe hält, und trifft die Bohrmaschine. Der scharfe, gewundene Stahl des Bohrers rammt sich in
ihren Unterarm. Schmerz zerfetzt ihr innerstes Schutzschild, Bilder blitzen durch die aufgerissene Wand: Die Schule, der Neue, der sie Pfannekuchen genannt hatte. Das Einzige, was bis eben noch zählte, das Unüberwindbare, Endgültige, erscheint jetzt fern und unbedeutend. Ihr Zimmer, die Mutter, die Bohrmaschine, der Bohrer, der ihren Arm zerschneidet, - auf einmal ganz nah, ganz wirklich, ganz in ihr. Sie kostet den höllischen Schmerz aus. Verdient hat das ihr hässlicher Körper. Soll der nur gepeinigt werden!
Sie spürt ihr warmes Blut am Unterarm herunterlaufen, hört es auf das Bettlaken rinnen, wie aus einer Gießkanne, die den Blumentopf verfehlt hat.
Vater bewegt sich hektisch durch den Raum, telefoniert. Der Mann mit der Bohrmaschine ist schockiert, kreidebleich, wagt sich nicht, zu bewegen.
Die ganze Umgebung wird wieder sichtbar, fühlbar, hörbar, als würde sie aus einem ausweglosen Albtraum geweckt. Die warme Decke wird weggezogen und frische eisige Morgenluft streicht über ihre zarte Haut.
Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.