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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Jetzt lache ich

© I.J.E. Maria


1. Phase
"Ich kann jetzt nicht reden, meine Frau hört zu." Verwundert blickte Soe zu ihrem Mann, der ihr hastig, als er diese Worte ins Telefon raunte, den Rücken zuwandte und verschämt den Kopf zwischen seinen hochgezogenen Schultern vergrub.
Soe spürte sofort, dass sie ihn bei etwas ertappt hatte, bei etwas Unerhörtem, bei etwas, was nicht in ihren Alltag passte. Ein ungutes, beklemmendes Gefühl beschlich sie - ausgelöst durch zwei Sätze, durch eine abgewandte Körperhaltung, durch den gesenkten Blick ihres Mannes, als er wieder zu ihr an den Küchentisch zurückkehrte, als er zu ihr an den Küchentisch zurückschlich und sich wie ein reuiger Hund auf den Stuhl gleiten ließ, auf dem er kurz vorher noch so entspannt und in ein Gespräch mit ihr über alltägliche Belanglosigkeiten vertieft gesessen hatte.
"Wer war das am Telefon?", fragte Soe mit leicht zittriger Stimme; jedoch wollte sie gar nicht die Wahrheit hören, die sie ahnte und fürchtete. Es schien ihr unmöglich, dass der Bruchteil einer Sekunde ihr Leben in eine ganz neue Bahn lenken könnte, dass sicher Geglaubtes plötzlich nicht mehr gelten sollte, aus den Fugen geraten könnte. Sie versuchte, die Bilder ihrer Phantasie, die noch keine Gesichter angenommen hatten, die nur als schemenhafte Fratzen in ihren Gedanken schwirrten, als unbegründete Eifersüchteleien beseite zu schieben. Johannes hatte Soe während der sieben Jahre ihrer Ehe noch nie Anlass gegeben, Zweifel daran zu hegen, dass sie füreinander bestimmt waren. (Erst viel viel später wusste sie, dass sie wie ein Kopf und ein Arsch miteinander verbunden waren.)
"Ich muss dir was sagen," hob Johannes mit dünner Stimme an. Nicht auch noch dieser dämliche Schluss-Aus-Vorbei-Satz! Soe fühlte eine große Leere in ihrem Kopf, Magendrücken, Taubheit. Irgendwas war im Gange, was sie nicht greifen konnte, was ihr Angst machte.
"Ich liebe zwei Frauen." Noch immer wollte sie nicht verstehen. "Ja, deine Tochter und mich. Aber wer war das eben am Telefon?" Johannes antwortete nicht. Er konnte ihrem Blick nicht standhalten und seine Augen schienen auf dem Boden nach den Worten zu suchen, die ihm nicht über die Lippen kommen wollten. "Wer war das?", schrie ihn Soe plötzlich hysterisch an. "Am Telefon war Arnika." Jetzt verstummte Soe. Arnika war Johannes' große Jugendliebe gewesen und er hatte immer eigenartig, befremdlich reagiert, wenn Soe ihn auf dieses Thema angesprochen hatte. Im Verlauf ihrer Ehe war der Name allerdings immer seltener gefallen und Soe hatte geglaubt, dass ihr Mann diese alte Geschichte überwunden hätte.
Johannes begann zu erzählen, alles, alle Einzelheiten seiner außerehelichen Affäre sprudelten aus ihm heraus, einem Befreiungsschlag gleich - und er bohrte Soe immer tiefer das Messer ins Herz, schien es fast genussvoll in ihrer blutenden Wunde zu baden, stieß erneut zu, dieses Mal heimtückisch von hinten. Dann stand er auf, entschuldigte sich für die Verletzungen und verließ das Haus, um - wie er es formulierte - zu der Frau zu gehen, ohne die sein Leben keinen Sinn hat.
Soes Herz pochte, hämmerte. Eine Hand hatte sich um ihren Hals gelegt und drückte langsam und unaufhaltsam zu. Nach Luft ringend stürzte sie auf die Terrasse. Seine Sätze umkreisten sie, drängten sie in die Ecke - unerhörte, unglaubliche, unwirkliche Sätze: "Warum kann nicht sein, was nicht sein darf?": "Wir beide haben nicht die gleiche Denke, nie gehabt."; "Du bist ein Kopfmensch, ich bin ein Bauchmensch, Arnika ist auch ein Bauchmensch."
Soe eilte zum Telefon. Sie konnte nicht untätig zusehen, wie Grenzen überschritten wurden, musste das soeben Geschehene rückgängig machen. Soe rief Johannes' besten Freund an. "Johannes hat mich verlassen," platzte es aus ihr heraus. "Was? Ist er gestorben?"
2. Phase
Die Sommernacht war schwül, tropische Feuchtigkeit hatte sich auf Soes Haut gelegt, vermischte sich mit ihren im Mondschein schimmernden Schweißperlen. Soe ging in die Küche und mixte sich in einem schönen alten Whiskeyglas Rum mit Cola. Anschließend begab sie sich wieder zurück auf die Terrasse und nahm auf dem Gartenstuhl Platz, mit dem sie noch vor ein paar Monaten nach ihrem Mann geworfen hatte. Ein leichter Windhauch, der plötzlich aufgekommen war, streichelte sanft ihre Haut. Nachdenklich betrachtete Soe ihre rot lackierten Zehennägel, ihre braun gebrannte Haut, die ihr kurzes schwarzes Kleid nur kaum bedeckte.
Soe nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und zündete sich eine Zigarette an. Die Mistkuh kann bestimmt besser kochen als ich, schoss es ihr durch den Kopf. Soe verstand immer noch nicht, was passiert war, warum es passiert war. Aber ihr freier Fall in ein tiefes dunkles Loch schien sich zu verlangsamen.
Soe beugte sich über ihr Tagebuch und griff nach dem Füllfederhalter, den sie extra für ihre Einträge gekauft hatte - sie liebte Füller und war schon oft durch Schreibwarengeschäfte gebummelt, nur um sie anzutesten:
"Geliebtes Tagebuch, heute werde ich dir zum letzten Mal schreiben. Ich habe keine Tränen mehr. Und ich will einfach nicht mehr, dass meine Gedanken taumeln, dass mir die seelische Verletzung, die mir zugefügt worden ist, körperliche Schmerzen bereitet.
Kann ich mich wieder finden? Kann ich meine Freiheit lieben lernen? Einen Schritt habe ich schon geschafft. Ich werde nicht mehr rasend vor Wut bei der Vorstellung, wie J. und seine Schlampe es miteinander treiben - dieses hirnweiche Ei und diese kranke Frau mit dem Pferdegesicht -, wie er stöhnt, der Fotzenclown, wobei seine Augen einen kleinen Spalt breit geöffnet sind, sodass nur noch das glitschige Weiß der Augäpfel zu sehen ist, während das Pferd wiehert und ihre Nüstern flattern lässt.
Nein, ich darf, will und werde mich nicht mehr reinsteigern. Ich verbiete mir einfach solche Gedanken, fertig, aus! Der Rum schmeckt gut, tut mir gut, ich muss mir Gutes tun, meine Seele hätscheln und tätscheln, das ist der richtige Weg. Und ich weiß, dass ich es schaffen werde. Ich lasse mich nicht unterkriegen, von nichts und niemandem, verdammt noch mal, und schon gar nicht von jemandem, der es nötig hat, sich in eine Pubertätsliebe zurückzuflüchten. J. hat inzwischen Aknepickel bekommen. Ha, die habe ich ihm auf die Haut gehext! Ich bin nämlich eine Hexe.
Mist, was schreiben ich denn da für einen Schwachsinn? Übermut tut selten gut. Hochmut kommt vor dem Fall. Aber der Rum ist lecker. Schwule Schwalben schwirren zwitschernd zwischen schwanzgesteuerten Schwänen. Der Schwachsinn lebt. Er hat einen Namen: Johannes. Und Schwachsinn kann man nicht verstehen. Also brauche ich es erst gar nicht zu versuchen.
Ich möchte manchmal nur kotzen, geistig kotzen!
Nein, Johannes, den Triumph gönne ich dir nicht, dass du mich am Boden zerstört siehst, um dann mit deiner blonden Tussi über mein Ende zu lachen! Ich gehe nicht kaputt, ich habe neun Leben!"
Soe legte den Füller beiseite. Ihr Kopf schien plötzlich leer. Sie setzte erneut zum Trinken an, hielt jedoch kurz inne und blickte geistesabwesend in die braune Brühe in ihrem Glas, die fast unappetitlich wirkte - ein morastiger, abgestorbener Tümpel, kurz davor, nach Verwesung zu riechen. Plötzlich sprang sie auf, wankte in die Küche, um sich die ganze Flasche Rum zu holen. Danach schrieb sie wieder weiter.
Am nächsten Morgen wachte Soe mit stechenden Kopfschmerzen auf. Sie war im Gartenstuhl eingeschlafen und die Nachbarskatze hatte es sich auf ihrem Schoß bequem gemacht.
3. Phase
Und heute? Soe sitzt an ihrem Schreibtisch und hat noch mal ihr Tagebuch durchgelesen, wobei ihr auffiel, dass nicht ein einziges Mal das Wort Liebe auftauchte; dabei hatte sie doch aus Liebe geheiratet. Soe griff nach ihrem alten Füllfederhalter, der vor ihr lag, und notierte in ihrem Tagebuch:
"P.S.: Mein geliebtes Tagebuch, ich danke dir, dass du immer ein offenes Ohr für mich hattest, als ich mich am Abgrund wähnte. Ich will dir noch eins verraten, dass ich nämlich gewonnen habe, und zwar viel gewonnen habe. Ich weiß jetzt, dass ich stark genug bin, aus eigener Kraft heraus vom Boden der beängstigenden Dunkelheit in eine linde, manchmal sogar beglückende Sphäre aufzutauchen. Ich weiß jetzt, dass ich niemanden brauche, hinter dem ich mich verstecken kann, von dem ich mir die Kraft, die in mir selber steckt, leihen muss. Ich habe Freunde gewonnen. Ich habe auch Falten "gewonnen". Aber wenn ich heute mein Spiegelbild erblicke, sehe ich nicht mehr durch mich durch, sondern nehme einen erwachsenen Menschen wahr, der immer noch Träume, Sehnsüchte und Verrücktheiten im Kopf hat, aber nicht mehr mit doppeltem Boden agieren muss, weil er keine Angst mehr vor dem tiefen Fall hat. Und meine Falten erinnern mich daran. Ich habe eine ganz besonders wertvolle Beziehung zu meiner Tochter aufgebaut, die sich so nie entwickelt hätte, wenn ich weiter mit Johannes so gelebt hätte, wie es sich dem Alltagstrott gehorchend eingeschlichen hätte. Es geht mir gut. Und ich bin bereit, mich wieder zu verlieben. - Und Johannes? Er hat sein Ich an eine Frau abgegeben, die ihm den Kontakt zu seinen früheren Freunden, ja sogar zu seinem Kind verbietet. Er ist zu einer gespenstischen Marionette mutiert. Er ist und bleibt das, was er immer schon war, nämlich ein Arsch."



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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