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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Ein deutsches Schlüsselerlebnis
© Okrim Niehoff
Exakt zehn Monate sind seit meiner Rückkehr aus Bonn vergangen, und nun sitze ich in einem Londoner Nobelhotel, habe die Themse im Rücken und lasse mir einen Haut-Brion aus seinem besten Jahrgang auftafeln.
Der britische Concierge serviert den geöffneten Rotwein in geschliffenen Kristallkaraffen, verbeugt sich ehrerbietig und verlässt das Zimmer anschließend gemessenen Schritts. Draußen, jenseits der voluminösen Fensterfront, fällt Schneeregen lautlos auf den Balkon. Es ist noch viel zu kalt für diese Jahreszeit und ich bin froh, mich in das feudale Ambiente zurückziehen zu können. Mir gegenüber sitzt Tiphane DuPont, eine französische femme fatale, mit der Schönheit und Eleganz
eines Engels und der Verführung eines Teufels. Ich habe sie vor wenigen Wochen auf der Kreuzfahrt von Marseille nach Sydney kennen gelernt. Wie die meisten Franzosen liebt sie ihre Kultur, besonders die Musik und einen edlen Bordeaux. Unzählige Male genossen wir den Sonnenuntergang auf hoher See, stets bewaffnet mit dem edelsten Tropfen, den die Schiffsküche zu bieten hatte.
Tiphane schenkt mir einen ihrer kardialen Blicke, hebt ihr Glas und atmet das Bukett tief ein. Dann nippt sie am wohltemperierten Rotwein, lässt ihn genüsslich auf der Zunge prickeln, um im nächsten Moment dem Gaumen ein wenig Luft zuzuführen. Es ist eine Freude ihr dabei zuzuschauen: Ihre feurig roten Lippen bewegen sich wie ein Liebespaar beim Vorspiel - sie ist wahrlich etwas Besonderes.
"Oh Thomas, alles ist so wundervoll!", schwärmt Tiphane mit leichtem Akzent.
Ich lächele sie an, um mich dann ebenfalls vom Rotwein zu beköstigen, wobei ich mir allerdings das langwierige Genussprozedere erspare. Ich habe mich noch nie für Weine und ihre persönlichen Noten interessiert. Um ehrlich zu sein, schmecken sie mir fast alle gleich - die teueren wie die billigeren. Aber wenn ich durch einen adligen Qualitätswein die reichsten und schönsten Frauen sämtlicher Industrienationen zu mir auf die Hotelzimmer locken kann, nehme ich auch gerne ein kleines Vermögen in Kauf. Und, bei Gott,
ich kann es mir ja leisten - nicht wahr Deutschland!?!
Anfangs konnte ich das ganze Geschehen kaum glauben. Jeden Ersten im Monat musste ich mich von neuem überzeugen: ich ließ mir solange den aktuellen Kontostand meines Schweizer Kontos durchgeben, bis ich schließlich begriff: ich bin Millionär! Mit stolzgeschwellter Brust kann ich behaupten, dass ich vermutlich der erste Mensch auf der Welt bin, der durch den Fußball zu einem Vermögen gekommen ist.
Tiphane DuPont ist immer noch mit ihrem Haut-Brion beschäftigt. Genüsslich nippt sie an dem apfelförmigen Glas und summt französische Chansons. Diese Frau bringt mich um den Verstand - keine Frage, sie ist die beste bisher! Ich muss daran denken, wie ich ihr in Sydney Sahne zwischen die Beine geschmiert habe und wir uns anschließend siebenmal liebten. Sie ist eine sehr taktvolle Frau, die sich bisweilen so gewählt ausdrückt, dass ich mir vor Angst beinahe in die Hose mache. Aber im Bett, wenn ihre Oberschenkel
glühen, klingt sie wie ein wildes Pariser Vorstadtmädchen: bodenständig, rau und laut.
"Oh Thomas! Sag mir, woher hast du dein ganzes Geld?", fragt sie mich.
"Das kann ich dir nicht sagen!", antworte ich bestimmt.
"Ach Thomas, komm schon! Hast du das Geld von deiner verstorbenen Mutter?"
"Nein, nein! Meine Familie hatte nie viel Geld."
"Aha!?! Hast du es dir etwa erarbeitet?"
"Nein, so würde ich das nicht nennen wollen!"
"Oh, hast du es gestohlen?"
"Nein, wo denkst du hin?", sage ich und wende mich gleichzeitig ab, um weiteren Fragen zu entgehen.
Tiphane erhebt sich von ihrem Stuhl und setzt sich vor mir auf die Tischkante. Sie nimmt meine rechte Hand in die ihre und sagt: "Ich will einen Cocktail! Thomas, sei so gut und bestelle uns Cocktails."
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen! Denn als ich das letzte Mal mit Tiphane Cocktails getrunken habe, waren wir in einem vornehmen Restaurant neben der Staatsoper zu Sydney - wir schafften es nicht einmal mehr bis ins Hotel und trieben es hemmungslos auf der Damentoilette.
Ich nehme den letzten Schluck von meinem dritten Cocktail und lasse mich zurück ins Bett fallen. Meine Rechnung ging auf. Ähnlich wie in unserer ersten Nacht liebten wir uns mehrere Male hintereinander. Tiphane ist heiß - glühend und unersättlich.
Langsam zeigt der Alkohol seine Wirkung. Ich zünde mir eine Zigarette an, während Tiphane ihren Kopf auf meinen Bauch legt.
"Tiphane DuPont?", frage ich.
"Im Raum!", gibt sie mir belustigt zu verstehen.
"Wollen Sie noch immer wissen, woher ich das ganze Geld habe?"
"Oh ja, erzähle es mir bitte!", sagt sie, indes sie mir tief in die Augen guckt.
"Du musst mir aber schwören, dass du es niemandem weitererzählst!"
"Ja!"
"Nein Tiphane, ein einfaches "Ja" reicht mir nicht, du musst es schon schwören - sonst erzähle ich es nicht!"
"Oh ja, ich schwöre es dir!"
"Na gut! Du erinnerst dich doch, dass ich dir von meiner Mutter erzählt habe, oder?"
"Ja, ich erinnere mich. Du erzähltest, dass sie kurz vor Ende des Krieges im Schweizer Exil verstarb und nun auf einem Genfer Friedhof liegt, der zu einem calvinistischen Kloster gehört."
"Richtig! Vor etwas mehr als zehn Monaten, es war der 2. Juli letzten Jahres, fuhr ich von Berlin mit dem Zug nach Basel und von dort weiter nach Genf. Am frühen Morgen des 3. Juli stand ich vor dem Friedhof auf dem meine Mutter begraben liegt. Der Friedhof war noch geschlossen, aber anstatt mich in ein bescheidenes Café zusetzen, um erst einmal gemütlich zu frühstücken, kletterte ich über den Zaun auf das Friedhofgelände. Ich ging zu der Ruhestätte meiner Mutter und beseitigte das Unkraut. Anschließend
legte ich einen üppigen Blumenstrauß vor den Grabstein und machte ein paar Fotos. Dann hörte ich auf einmal Stimmen aus der Friedhofskapelle. Ich versteckte mich hinter einer nahegelegenen Tanne, von wo aus ich die Kapelle im Auge hatte. Ich erkannte zwei Personen mit langen dunklen Mänteln, schwarzen Hüten und zwei schwarzen Koffern. Zunächst dachte ich an eine Trauergemeinde, doch dann spürte ich die Nervosität, die den beiden Männern ins Gesicht geschrieben stand. Andauernd schauten sie sich um. Sie waren
ständig auf der Hut nicht entdeckt zu werden: Keiner von beiden ahnte, dass sie längst beobachtet wurden. Einige Minuten später kamen zwei weitere Personen. Auch sie trugen schwarze Hüte - beide wurden freundlich per Handschlag begrüßt. Während meiner Pubertät träumte ich davon Journalist zu werden, vielleicht war das der Grund, wieso ich instinktiv meinen Fotoapparat aus der Tasche zog und mehrere Fotos von der rätselhaften Zusammenkunft machte. Und jetzt rate mal, was auf den Fotos zu sehen war?"
"Oh Thomas, ich habe doch keine Ahnung. Aber ich hoffe du wirst es mir erzählen!"
"Es war eine Geldübergabe. Die zwei Männer mit den langen dunklen Mänteln öffneten die Koffer und ich konnte deutlich erkennen, wie sich in beiden die Geldscheine sprichwörtlich stapelten. Glaube mir Tiphane, in den beiden Koffern müssen hunderttausende Schweizer Franken gewesen sein!"
"Oh! Und dann hast du die beiden Koffer genommen und bist abgehauen?"
"Natürlich nicht! Ich blieb in meinem Versteck und machte eine Reihe von Fotos."
"Und dann, was passierte dann?"
"Die Männer mit den dunklen Mänteln verschwanden in die eine Richtung, die anderen in die andere, wobei die beiden schwarzen Koffer ihre Besitzer tauschten."
"Und was hast du dann gemacht?"
"Zunächst einmal gar nichts! Ich bin zurück zum Grab meiner Mutter und habe mich in aller Ruhe von ihr verabschiedet. Dann habe ich mir ein Hotelzimmer in der Innenstadt besorgt und die Fotos zum Entwickeln gebracht. Am Abend spazierte ich durch die Altstadt, entlang der Rhone und auf die kleine Rousseau-Insel. Am nächsten Morgen nahm ich dann den Frühzug von Genf nach Bern. Bevor ich wieder nach Berlin musste, wollte ich mir die Hauptstadt der Schweiz nicht entgehen lassen. Die Suche nach einem Hotel in
der Innenstadt gestaltete sich aber schwierig. Zu meiner Überraschung waren alle Betten ausgebucht. So lief ich mit meinem Rucksack ziellos durch die Altstadt und war begeistert von den gotischen Prachtbauten und fasziniert von der Lebendigkeit der Stadt: viele Deutsche waren auf den Straßen zu sehen. Ich lief weiter und weiter und weiter, bis ich auf einmal eine mir bekannte Person sah. Sie stand an einem Kiosk und kaufte sich ein Dutzend Tageszeitungen. Und dann fiel mir ein, woher ich die Person kannte."
"Lass mich raten! Es war bestimmt einer der Männer, die du auf dem calvinistischen Friedhof in Genf beobachtet hast, oder?"
"Ganz recht! Ich kramte in meinem Rucksack nach den Fotos und dann sah ich es ganz deutlich. An dem Zeitungskiosk stand derselbe Mann, den ich tags zuvor beobachtet und fotografiert hatte, wie er einen der beiden Geldkoffer überreichte. Ich witterte eine heiße Geschichte, also verfolgte ich ihn. Er lief zwei Querstraßen weiter, wartete kurz an der Straßenkreuzung und stieg dann in ein schwarzes Auto. Ich hielt ein vorbeifahrendes Taxi an und beauftragte den Fahrer die Verfolgung aufzunehmen. Nach etwa zehn
Minuten wurden die Straßen voller und voller, wir standen im Stau. Dann sah ich meine Zielperson aus dem schwarzen Auto steigen. Ich gab dem freundlichen Taxifahrer sein Geld und bevor ich ausstieg, wünschte er mir noch viel Glück für das Spiel. Ich wusste zunächst nicht, was der Taxifahrer meinte, aber nach einigen Metern sah ich vor mir das Wankdorf-Stadion. Jetzt fiel mir alles wieder ein. Noch in Berlin hatte ich davon gehört. Es war der 4. Juli, und am 4. Juli spielte die deutsche Fußballnationalmannschaft
im Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft gegen die Mannschaft aus Ungarn. Mein Herz klopfte. Wie konnte ich nur so blöd sein und das vergessen. Kein Wunder, dass alle Betten belegt waren. Vor lauter Aufregung verlor ich den rätselhaften Mann mit den Tageszeitungen. Es vergingen einige Minuten ehe ich ihn wieder fand. Er stand direkt vor den Stadiontoren und wartete. Dann wurde es auf einmal sehr unruhig. Ich sah mich um und hinter mir erschien der Mannschaftsbus der deutschen Nationalmannschaft, ganz deutlich
konnte ich Sepp Herberger erkennen. Der Bus quälte sich an den Passanten vorbei und hielt kurz vor den Stadiontoren. Die ersten Offiziellen verließen den Mannschaftsbus und wurden von dem rätselhaften Mann freundlich begrüßt. Ganz offensichtlich kannte er die komplette Fußballnationalmannschaft. Nur wenige Minuten später sah ich einige Offizielle vom ungarischen Fußballverband. Ich erkannte sie an ihren Trainingsanzügen. Und plötzlich schloss sich der Kreis. Einer der Ungarn war dieselbe Person, die gestern einen
Geldkoffer überreicht bekam. Mir war sofort klar: ich hatte einen handfesten Bestechungsskandal beobachtet und fotografiert."
"Aha, das ist ja interessant! Und was hast du dann gemacht?"
"Ich witterte meine Möglichkeiten und ich hatte Lust auf das Fußballspiel, also ging ich zu einem Ordner und nötigte ihn, mir einen Offiziellen des deutschen Verbandes kommen zu lassen. Ich machte ihm eindrucksvoll glaubhaft, dass ich wichtige Informationen hätte - und das war ja nicht einmal gelogen. Während ich dann auf den Offiziellen wartete, ordnete ich meine Gedanken und prognostizierte mir eine hervorragende Verhandlungsbasis. Die Grundlage meines Optimismus setzte sich aus folgenden Elementen zusammen:
Vor etwa neun Jahren verlor Deutschland seinen perversen Vernichtungskrieg, dementsprechend lag das Nationalgefühl der jungen Republik in Trümmern. Einzig die deutsche Fußballnationalmannschaft schien im Stande gebrochenes zu kitten; doch dürfte sie gegen die Mannschaft aus Ungarn im Normalfall nicht die Spur einer Chance haben (in der Vorrunde trafen die beiden Nationen schon einmal aufeinander, Ungarn siegte hoch mit 8:3). So entschied man sich, vermutlich in Absprache mit den obersten Staatsinstanzen, den
Sieg zu kaufen, nicht zuletzt um seiner gebrochenen Bevölkerung wieder ein Nationalbewusstsein einzuimpfen.
Als der Offizielle schließlich kam, überrumpelte ich ihn mit meinen Überlegungen und forderte selbstbewusst ein Schweigegeld plus eine Eintrittskarte zum Spiel. Der Offizielle nannte mich daraufhin "verrückt und geisteskrank!" und sagte, "so etwas würde niemals passieren!" und "ich sollte mich schämen so etwas infames zu behaupten!". Er machte mir solange Vorwürfe, bis ich ihm erzählte, dass ich im Besitz von mindestens zwanzig Fotos sei, die alles beweisen würden. Ich drohte mit
der Presse und dem ersten Skandal der neuen Republik. Tja und dann wurde der Offizielle ganz blass!"
"Und dann?", fragt Tiphane.
"Du fragst mich, was dann passierte? Dann war ich im Stadion, hatte einen erstklassigen Platz, sah wie Helmut Rahn kurz vor Schluss den vermeintlich überraschenden Siegtreffer schoss, konnte hören wie der ahnungslose Herbert Zimmermann in sein Mikrofon jubelte und sah wie Sepp Herberger auf den Schultern seiner Spieler getragen wurde. Wenige Stunden später, am Abend des 4. Juli 1954, wurde ich von zwei groben Geheimdienstagenten in ein kleines Privatflugzeug gesteckt, das mich über Nacht nach Bonn ausflog.
In Bonn hatte ich dann eine Unterredung mit irgendeinem Abgesandten des deutschen Parlaments, der alle meine Überlegungen nachhaltig bestätigte. Der Abgesandte schwafelte tatsächlich etwas von einem deutschen Schlüsselerlebnis und dem daraus resultierenden erneuertem Selbstbewusstsein der ganzen Nation, das man um keinen Preis aufs Spiel setzen wolle. Somit hatte ich erneut eine günstige Ausgangsposition, um in die Verhandlungen zu gehen. Nach einer knappen Viertelstunde einigten wir uns darauf, dass ich ihnen
die Fotos gebe und sie mir im Gegenzug eine monatliche Sofortrente von 200.000 DM auf ein Schweizer Konto überweisen. Seitdem bin ich ein reicher Mann. Vermutlich bin ich der erste Mensch auf der Welt, der durch Fußball und einem deutschem Schlüsselerlebnis zum Millionär wurde."
Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.