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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Humbert, Humbert

© Anja Liedtke


Mein Name ist Lolita. Das ist nicht mein richtiger Name. Humbert hat mich so genannt. Humbert war nicht der Liebhaber meiner Mutter und nicht mein Stiefvater. Mein Vater lebte noch, und Humbert ist in Wahrheit meiner Mutter nie begegnet. Ich bin nämlich schon als junges Mädchen von Zuhause weggelaufen. Humbert sah mich zum ersten Mal - nein, nicht auf der Wiese im Garten meiner Mutter unterm Rasensprenger, sondern schlicht am schnöden Strand von Santa Monica. Es war früh am Morgen. Noch keine Mexikaner da, deren Männer für einen Dollar Blechdosen einsammelten, deren Frauen die Kinderwindeln im Sand verscharrten und deren Kinder auf mir rumkraxelten und mich nass spritzten. Am frühen Morgen störten mich beim Schlafen nur die Hunde ihrer reichen Besitzer, die vor mir stehen blieben und an mir herumschnüffelten. Humbert war einer von ihnen. Humbert war Filmproduzent. Mäßig erfolgreich, aber ein Haus am Strand. Wie ich ausgerechnet nach Santa Monica gekommen bin? Ganz einfach. Bei uns oben im Norden war es morgens neblig und die Nächte kalt. Das bemerkte ich erst so richtig, als ich von zu Hause weggelaufen war und im Freien schlief. Vielmehr nicht schlafen konnte. Also bin ich einfach die Küste runter Richtung Mexiko. In Santa Monica war dann genug Mexiko. Zumindest um diese Jahreszeit war es nachts am Strand warm genug zum Schlafen. Ich war nicht die Einzige. Weiter oben am Rande der No.One lagen die ganzen Schwarzen. Mir roch es dort zu sehr nach Urin und Essen. Also legte ich mich weiter unten an den Rand der Brandung. Im Herbst würde ich dann wohl weiter nach Süden ziehen müssen. Ich war also auf der Durchreise. Und ich war tot müde und lag platt wie eine Flunder am Strand. - Von wegen, sie lag auf dem Bauch und ließ die Beine in der Luft hochgestreckt baumeln, oder so. Und ich grinste ihn auch nicht an, und ich trug auch kein hübsches buntes Sommerkleidchen, sondern ausgefranste Hot pants aus Jeans und ein T-Shirt, wo draufstand: Fuck yourself. Humberts blöder Hund schnüffelte an mir herum und weckte mich mit seiner kalten feuchten Nase und schüttelte sich auch noch das Meerwasser samt Sand aus seinem Fell direkt auf mich. Er stank bestialisch und ich schrie angeekelt auf. Humbert stand ein bisschen weiter oben am Strand und sah bloß zu und grinste blöde. Er pfiff dann gnädigerweise seinen blöden Köter heran und stieg die verwitterten Holzstiegen zu seinem Strandhaus hinauf. Mit verschlafenen Augen sah ich, wie er es sich mit einem Pott Kaffee auf der Terrasse bequem machte und fortsetzte, was er schon die ganze Zeit gemacht hatte: Mich anglotzen. Ich hätte ihm am liebsten den Pott Kaffee aus der Hand gerissen. Nein, nicht, um ihn ihm ins Gesicht zu schütten, sondern um ihn in mich hinein zu schütten. Ich hatte eine Gänsehaut vor Kälte und Nässe und mein Kreislauf war ganz unten. Und von einem der anderen Strandhäuser zog auch noch der Geruch nach Eiern mit Speck und Toast den Strand entlang. Ich dachte, ich sterbe. Und so bohrte ich meinen Bauch tiefer in den Sand und versuchte einfach weiter zu schlafen. Aber die Sonne störte ungemein, nachdem mich der blöde Köter nun einmal aufgeweckt hatte. Auf allen Vieren kroch ich den Strand rauf unter die morschen Balken, die Humberts Haus stützten. Mitten am Tag würden die Spinnen darunter ja wohl nicht auf Jagd gehen. Ich weiß auch nicht wann, aber irgendwann kam Humbert dann runter. Mit einem Pott Kaffee! Und er fragte mich aus. Ich sagte nicht viel. Dann fragte er, ob ich Hunger hätte. Ich sollte doch mit hoch kommen, er würde mir Frühstück machen. Und auf der Terrasse fragte er mich dann, ob ich zum Film wollte. Weil ich doch nach LA gekommen war. Ich lachte ihn aus. "Wenn du mal Duschen gehen würdest, und wenn du nur ein bisschen anders lachen würdest, und wenn du ein bisschen gerader gehen und sitzen würdest, und wenn du was Anständiges anziehen würdest... Du könntest ein breites Spektrum an Rollen abdecken, weißt du?" Nee, wusste ich nicht. Und ich könnte eine Menge Geld damit verdienen. "Ja, aber nur, wenn dein blöder Film Erfolg hat." Ich bin nämlich nicht auf den Kopf gefallen, wisst ihr? Kennt ihr den Song It never rains in California? Nein? Na, dann hört ihn euch mal richtig an! "Er wird ein Erfolg. Da mach dir mal keine Sorgen." "Ja, ja, das sagen sie alle." "Und manche schaffen es. Du zum Beispiel." "Klar." "Genau." Ich guckte ihn mir von unten herauf ziemlich misstrauisch an. Er lächelte wie ein netter Vati. Den brachte echt nichts aus der Ruhe. "Aber natürlich nur, wenn ich nicht mit einer Pauschale abgefertigt werde, sondern am Gewinn beteiligt werde", warf ich ihm ins Gesicht. "Da hast du Recht. Du kennst dich aus." Ich sagte ihm natürlich nicht, dass ich das in einem Filmmagazin gelesen hatte. Man muss schweigen können in Kalifornien. Wir alle sind great Pretender, wisst ihr? " Und? Willst du?", fragte er grinsend. "Will ich was?" "Die Hauptrolle." "Hm." "Na komm schon. Schlag ein." Er hielt mir seine Hand hin. Sie sah ein bisschen faltig aus. Aber gut gepflegt und ganz weich. Sah jedenfalls so aus. Ziemlich glatt an der Innenseite, wenn ihr versteht, was ich meine. Und saubere Fingernägel. Darauf lege ich Wert. Traue keinem Produzenten mit dreckigen Fingernägeln, wisst ihr? Aber ich schlug trotzdem nicht ein. "Was willst du?", fragte er ganz freundlich. Geradezu einladend. "Wer ich?" "Wer sonst?" Geduld hatte er ja. "Weiß nicht." "Dachte ich mir." "Wieso?", fragte ich, weil ich es wirklich wissen wollte. "Das Wünschen kommt mit den Erfahrungen?" "Mit welchen Erfahrungen?" "Na mit allen Lebenserfahrungen." "Ach so." Ich stützte meinen Kopf in die Hand und den Ellenbogen auf die warme Holzplatte. Er machte das gleiche auf der anderen Seite des Tisches. Er war eigentlich ganz lieb, wie er mir so tief in die Augen sah, so...na, ich weiß auch nicht. "Also ich mache dir ein Angebot", sagte er. "Hast du doch schon", sagte ich. "Na, das reicht dir doch nicht." "Was noch?" "Wir machen nichts, was du nicht auch willst." Ich hob den Kopf aus der Hand und wurde rot. Ich merkte es daran, wie es warm im Gesicht wurde. Und das kam nicht von der Sonne. Die stand hinter mir. Es war mir ein bisschen peinlich. Aber ihm offenbar nicht. Und er grinste auch gar nicht blöde. Er meinte es echt ernst. "Na schön", versuchte ich leichthin rauszubringen, und er hielt mir wieder seine Hand über den Tisch hin. Ich berührte erst nur seine Fingerspitzen. Konnte ja sein, dass er zu fest zugriff oder mich über den Tisch zog. Machte er aber nicht. Er hielt ganz still und wartete. Also ließ ich dann so nach und nach meine kleine Hand in seine große gleiten. Und es fühlte sich echt gut an, muss ich sagen. Er zeigte mir dann mein Zimmer. Es war eine Wucht mit Blick aufs Meer. Aber das zeigte ich nicht. Ich meine, dass ich es klasse fand. Er fragte dann, ob ich es gewohnt sei zu lesen. "Klar", sagte ich, und er drückte mir das Skript in die Hand. Diesbezüglich hatte er also schon mal nicht gelogen. In den nächsten Stunden würde ich dann mal feststellen, ob die Story auch gut war. Ich glaubte ja nicht daran. Er fragte dann noch nach meinen Eltern. Weil unter 21 müssen die die Verträge für einen unterschreiben. Ich wollte ihm meinen Namen aber nicht verraten. Er hatte ja auch schon einen für mich. Lolita eben. Er kriegte es dann doch aus mir heraus. Meine Eltern waren begeistert. Ich war ein bisschen enttäuscht von ihnen, muss ich zugeben. Sie behaupteten, sie wären stolz auf mich. In Wirklichkeit waren sie nur geil auf den Ruhm. Ihre Tochter und so. In Wahrheit wollten sie mich wohl nur loswerden. Zwei Fliegen mit einer Klappe und ein Esser weniger. Guter Deal für sie. Humbert redete mit mir über die Rolle, und dann stellte er mich unter die Dusche und meinte: "Sehr schön." Ich sollte mich bewegen. "Nein", meinte er, "das ist zu aufgesetzt. Du musst fühlen, was du tust." "Ich fühle doch, wie ich mich bewege." "Nein, das tust du nicht." "Tu ich wohl." "Tust du nicht." "Tu ich wohl." Er schüttelte den Kopf und machte mich wahnsinnig damit. Ich stritt mit ihm, ich schrie ihn an, bis ich müde wurde und den Kopf hängen ließ. Das Wasser floss mir über den Kopf, meine Haare flossen mir durchs Gesicht, ich zitterte vor Zorn und Müdigkeit am ganzen nackten Körper und hatte schon längst eine Gänsehaut. "Komm da raus", sagte er ruhig und sanft. Und ich glaube, er hat damit noch mehr gemeint als nur aus der Dusche. "Na komm schon."
Mit hängendem Kopf trat ich über die Schwelle. Nass wie ich war, nahm er mich ganz vorsichtig in seine Arme, legte meinen Kopf an seine Schulter unter sein glattrasiertes Kinn, strich mir die nassen Haare aus dem Gesicht und streichelte mir den Rücken. Ich machte sein Hemd nass, aber das machte ihm wohl nichts aus. Als ich aufhörte zu heulen und so verspannt zu sein, griff er ohne mich loszulassen nach einem Handtuch und trocknete mich ab. Es war toll, wie er das machte. Er kniete sich sogar vor mich und trocknete mir die Füße ab. Dann wickelte er mich in seinen flauschigen, weißen Bademantel und nahm mich auf seine Arme und trug mich auf meinen Lieblingsplatz auf die Terrasse und setzte sich auf die Rattancouch und legte mich über seinen Schoß und hielt mich in seinen Armen, mein Kopf auf seiner Schulter unter seinem glattrasierten Kinn. Er roch übrigens nach Egoiste. "Ruh dich aus. Es ist genug für heute." "Bist du enttäuscht?" "Nein, gar nicht." "Bist du wohl." "Nein, bin ich nicht. Ich führe dich nur bis an deine Grenzen. Und deine Grenzen werden jeden Tag weiter. Also bin ich zufrieden." "Das verstehe ich nicht." "Du bist nur unzufrieden, weil du nicht merkst, dass du heute weiter gekommen bist als gestern und gestern weiter als vorgestern. Du siehst dich nur jeden Tag vor einer neuen Grenze scheitern. Ich sehe mehr." Ich war total durcheinander und müde und ließ es gut sein und mich von ihm in den Schlaf streicheln. Humbert kaufte mir Kleider - und ich meine richtige Kleider, auch für den Abend und so, und er scheute sich auch nicht mit mir auszugehen - und ich meine richtig ausgehen zum Candlelight-Dinner am Malibu Beach bei Geoffrey's auf der Terrasse unter der der Ozean gegen das Ufer klatscht. Und er bestellte Champagner und sah mich über die Karte hinweg an wie eine richtige Dame, und er behandelte mich auch so. Während er stundenlang die Karte studierte, sah ich mich an den anderen Tischen um, wie sich die älteren Damen benahmen - ich meine, nicht, dass ich das noch nicht gewusst hätte, nur die Details musste ich mir noch mal abschauen, um sie spielen zu können - nein, ich meine, fühlen zu können. Und ob ihr es glaubt oder nicht, es klappte ganz vorzüglich. Ich fühlte es! Und es fühlte sich gut an. So gut, dass ich ganz euphorisch wurde und kaum noch auf meinen vier Buchstaben sitzen konnte. Ich wurde ganz kribbelig, so gut fühlte sich das an. Ich hatte nämlich gesehen, dass und wie die Ladys... nun, zum Beispiel fühlten sie das Satin und die Seide auf ihren Schenkeln, die fast nie zur Ruhe kamen. Eben weil bei der Unruhe die Seide so schön hin und herrutschte. Und das schien sogar ihre Stimmen angeregter steigen zu lassen, obwohl sie scheinbar gar nichts von der Seide merkten, nicht einmal von ihren Beinen und was ihre Beine unterm Tisch taten. Beim bloßen Zusehen wurde man schon selbst ganz aufgeregt. Es war richtig ansteckend. Ich machte es eine Weile nach und - ja, es funktionierte. Ich fühlte es auch....Als mein strahlend glücklicher Blick zu Humbert zurückkehrte, bemerkte ich erst, dass er mit der Karte längst fertig war und mich beobachtete. Ich wurde mal wieder rot, was unter der Hitze der Heizstrahler aber auch nicht schwer war, und schlug die Augen aufs weiße Tischtuch. Aber wenigstens drehte ich dabei schon den dünnen Stiel des Champagnerglases zwischen meinen Fingern. Ich wartete auf eine blöde Bemerkung von Humbert, ... ich wartete lange. Aber sie kam nicht. Ich dachte mir, ich schaue mal auf, um nachzusehen, wo sie bleibt. So ganz vorsichtig von unten... da sah er mich immer noch an und lächelte. Er grinste nicht! Ich atmete erleichtert auf und streckte mich wieder. Als er seine Hand auf meine legte, dachte ich, es käme vielleicht doch noch etwas Mitleidiges oder so was, ich holte es mir geradewegs aus seinem Gesicht ab, so sah ich ihn an, aber er sagte überhaupt nichts. Er saß nur ruhig und mit sich und der Welt zufrieden da und lächelte mich an und hielt meine Hand. Eine Sekunde lang glitt mein Blick zur Seite zu den anderen. Die anderen Männer hielten auch die Hände ihrer Frauen. Ich gehörte jetzt also dazu. Es ist ein gutes Gefühl dazu zu gehören, wisst ihr. - Egal wozu wahrscheinlich, Hauptsache dazu gehören. Zuletzt warf ich noch einen Blick auf meine Hände - sie waren okay, denke ich, vielleicht ein bisschen kindlich, aber die Nägel schon gut mandelförmig geformt, nachdem ich sie jetzt wochenlang mit der Feile bearbeitet und nie mehr mit der Schere geschnitten hatte. Entspannt und stolz lehnte ich mich ein wenig zurück und ließ meine Hand unter Humberts fortgleiten. Sein Lächeln wurde eher noch stärker, während ich meine Aufmerksamkeit jetzt mal dem beleuchteten Ozean und den Lichtern der Malibu-Lagune zuwandte. Es war wirklich schön. Um nicht zu sagen umwerfend schön. Ich hatte bis jetzt noch gar keine Zeit gehabt das zu bemerken. Und auch nicht den Sinn dafür. Endlich kehrte mal Ruhe ein in mir, endlich konnte ich mal entspannen. Ich weiß ja auch nicht, warum ich mich immer so gestresst und genervt fühlte und so eine Hetze in mir. So richtig beruhigend wirkte der angeblich Stille Ozean allerdings auch wieder nicht. Erstens ist er ja gar nicht still, sondern wabert und schaukelt und klatscht die ganze Zeit, zweitens steckt er einen damit richtig an. Ich wurde jedenfalls wieder ganz aufgeregt - aber anders. Also vielleicht eher angeregt. Wasser soll ja ungemein anregend sein. Jedenfalls für den Kreislauf beim Baden. Mein Kreislauf funktionierte ausnahmsweise mal ganz vorzüglich. Meine Füße wurden ganz warm und schwollen in den Schuhen, die ich heimlich unterm Tisch auszog. Humbert bemerkte mein Rumfummeln da unter der weißen Decke, hob sie hoch, sah, was ich machte und lachte. Aber er lachte mich nicht aus. Es klang auch eher angeregt. Nun, er geht ja auch gern im Meer baden. Es schien ihm auch nichts auszumachen, dass meine Hand feucht wurde. Ich wollte sie zurückziehen, aber er behielt sie bei sich und streichelte sie sogar. Es schien sogar so, als lächelte er noch freundlicher, als er den Schweiß bemerkte. Es war mir dann auch nicht mehr peinlich. Zumal er einmal sein Taschentuch zückte, um sich seinerseits den Schweiß von der Stirn zu wischen, was mir bei ihm irgendwie sehr gut gefiel. Er bat dann den Kellner, den Strahler etwas niedriger zu stellen. Dadurch wurde das Licht schummriger und Humberts Augen glitzerten genauso wie die Wellen an den Stellen, wo die Lichter drauffielen. Es sah wirklich toll aus. Geradezu aufregend. Es wurde dann noch ein angeregter Abend. Wir lachten viel. Vielleicht ein wenig zu viel für unsere Nachbarn. Aber die Kellner lächelten nur und sagten nichts. Aber wir lagen fast unter dem Tisch. Um die langweiligen Leute nicht zu stören, sind wir dann lieber an den Strand gegangen und Hand in Hand am Strand entlang mit den Füßen durchs Wasser, die Schuhe in der anderen Hand und den Saum meines Kleides noch dazu, die weite Strecke bis zu uns nach Hause. Als wir endlich ankamen fiel ich gleich ins Bett. Humbert zog mich aus, deckte mich zu, gab mir einen Gute-Nacht-Kuss, machte meine Lampe aus und schloss leise die Tür. Wie sich seine Schritte leiser werdend entfernten, so wurde die Welt um mich herum leiser und entfernter, und ich entfernte mich für heute leise aus dem Leben. Ich hatte noch nie so gut geschlafen. Früher konnte ich nie einschlafen. Ich glaube, in dieser Nacht schlief ich überhaupt zum ersten Mal. Vielleicht musste ich erst mal schlafen, um hinüber zu gleiten in einen anderen Lebensabschnitt, den ich erst bemerkte, als er längst begonnen hatte. Humbert wurde immer zufriedener. Mit meinen Gesten, meiner Mimik, meinen Bewegungen - er schaffte es sogar mir eine bessere Sprache beizubringen. (Also, ob man das hier schon merkt, weiß ich nicht. Hier quatsche ich mich aus wie eh und je, okay?) Ich dagegen wurde nicht zufriedener, sondern immer nervöser. Es war nicht so, dass ich immer schlechte Laune gehabt hätte. Im Gegenteil. Meistens musste ich total unmotiviert lachen. Ich kriegte dann die Probeaufnahmen zu den traurigen Szenen nicht hin. Humbert war gar nicht sauer. Im Gegenteil. Manchmal lachte er laut heraus und krümmte sich mit mir vor Lachen, manchmal lächelte er und schüttelte den Kopf. "Du bist überreizt, Kleines", pflegte er dann zu sagen und die Kamera anzuhalten. Gott sei Dank war noch kein Film drin, sonst hätten diese Probeaufnahmen Millionen gekostet. Er ließ sie nur laufen, um mich daran zu gewöhnen, während ich gleichzeitig alles andere lernte. Erst wenn es saß, drehte er die eine oder andere Szene. Manche Szenen in dem Skript verstand ich nicht. Das heißt, ich verstand sie, aber Humbert behauptete, ich verstehe sie nicht. "Da gibt es doch nicht viel zu verstehen." "Doch gibt es. Und nun gib Ruhe." "Warum erklärst du sie mir dann nicht?" "Weil du sie erfühlen musst, um sie zu verstehen." "Und was soll ich machen, um sie fühlen zu können?" "Abwarten." "Abwarten?" "Genau." "Ja, wie lange denn?" "Bis du so weit bist." "Und wann wird das sein?" "Das weiß ich nicht." "Das weißt du nicht?" "Nein." "Na großartig. Du bist vielleicht ein Regisseur!" "Ja, nicht wahr?" "Angeber." Er grinste nur vor sich hin. "Das kann ja eine Ewigkeit dauern." "Nein. Eine Ewigkeit dauert länger." Er sagte es so ruhig und gelassen und schaute über den Ozean, den man unendlich nennt, obwohl er es nicht ist, wie Gott selbst, der angeblich die Unendlichkeit und Ewigkeit kennt. "Und was ist, wenn ich es nie erfühlen werde?" "Wirst du schon." "Woher willst du das wissen, wenn du nicht weißt wann?" "Ich weiß es." "Warum?" "Weil ich an dich glaube. Du erweiterst jeden Tag deinen Horizont.... Was ist?" Ich starrte ihm in seine warmen braunen Augen, während wir auf dem Rattansofa auf der morschen Terrasse saßen und uns den Wind um die Nasen blasen ließen. "Sag das noch mal", bat ich ihn. "Du erweiterst jeden Tag deinen...." "Nein, das vorher." "Ich glaube an dich." Ich starrte ihn noch eine Ewigkeit an. Er schaute warm und ruhig zurück und fragte nicht wieder: Was ist? Am liebsten hätte ich ihn noch mal gebeten es zu wiederholen. Vielleicht hätte ich euch dann erklären können, was daran so besonders war. Ich weiß es nicht. Es war irgendwie so...warm. Das ist Quatsch, aber es ging so warm durch mich hindurch, ich meine nicht von vorn nach hinten, sondern von oben nach unten, und es kam durch meine Augen und durch meinen Mund herein. So war es. Und weil nicht genug Platz dafür in meinem Inneren war, musste ich einatmen, um mich weiter zu machen. Ich meine, meine Lungenbläschen und meine Adern oder Venen oder beides. Genauso war es. Und dann war irgendwie das Glück in mir, und es musste wieder raus aus mir. Ich wusste erst nicht wohin damit, nur raus. Und was lag näher, als es da wieder raus zu lassen, wo es hinein gekommen war? Also aus den Augen und aus dem Mund. Ich beugte mich vor und küsste Humbert zum ersten Mal. Auf die Wange. Und weil noch nicht alles draußen war, küsste ich ihn noch auf den Mund. Er war ganz erstaunlich weich. Wie die Nüstern eines Pferdes. Nichts ist weicher. Und so warm. Ich musste es noch einmal tun. Um genau sagen zu können... Aber ich kann es immer noch nicht. Ich weiß es immer noch nicht. Weil, das ist jetzt kompliziert. Man kann es nicht einfach immer wiederholen. Inzwischen geht es irgendwie weiter. Zum Beispiel rutschte mir irgendwie die Zunge zwischen seine Zähne. Ich schwöre, ich tat es nicht mit Absicht, etwa weil ich es in den vielen Filmen gesehen hätte, die ich mir zum Lernen reinzog. Nein, denn da wird ja in Wirklichkeit nicht richtig geküsst. Der Mann legt seinen offenen Mund vielmehr auf das Kinn der Frau und drückt ihre beiden Lippen ganz fest zusammen und nach oben unter die Nase. Und dann sieht es so aus als ob. Auch das probierte ich mal mit Humbert, keine Frage, ich schleckte sein Kinn ab, aber jetzt, als meine Zunge in seinen Mund flutschte, da... nun, es passierte ganz einfach. Ich hatte wahrscheinlich gleichzeitig küssen und atmen müssen und dabei den Mund aufgemacht. Auf jeden Fall war meine Zunge dann drin. Humberts Zähne fühlen sich schön glatt und hart an. - Aber ich glaube, er hat noch keine künstlichen. Sie sind eben so. Und dahinter wurde es unglaublich weich. Überall und rundherum. Und feucht natürlich. Na ja, das wisst ihr natürlich alles schon, sorry. Aber für mich war es doch recht erstaunlich. Humbert schmeckte nach nichts. Und das gefiel mir. Das Nichts. Noch mehr gefiel mir, dass seine Zunge in Bewegung geriet, denn das heißt doch, dass Humbert selbst in Bewegung geriet, oder? Und ich war es, die ihn bewegte. Sein Körper bewegte sich auch. Vor allem sein Schoß unter mir. Vielleicht wurde ich doch langsam zu schwer in meinem Alter. Aber er hieß mich nicht aufzustehen, sondern zog mich näher zu sich hin. Ein bisschen bekam ich Angst. Vor seiner Zunge. Ich hatte gehört, manche stecken sie dir in den Hals. Aber Humbert machte das nicht. Er streichelte meine Zunge mit seiner. Ich hatte doch schon die ganzen Wochen gemerkt, das da noch was kommen musste. Das Streicheln seiner Hände hatte mir schon lang nicht mehr gereicht. Humbert, als ich ihn zum ersten Mal küsste, lange und intensiv, weil es ja immer weiter ging und nicht aufhörte, dass ich neue Entdeckungen machte und nie anhielt, um endlich genau erklären zu können, was eigentlich passierte, Humbert also atmete schwer auf. - Das war eigentlich alles. Seine Hände hingen hilflos in der Luft neben mir, solange er es über sich ergehen ließ. Er atmete nur so vor sich hin. Mit geschlossenen Augen. Dann, als ich aufhörte, öffnete er seine Augen - und sah ein wenig dümmlich aus. Aber ganz süß. Ich meine, Haschischraucher sehen auch ein wenig dümmlich aus nach einem Joint, aber nicht süß. Und Humbert war ganz in dieser Welt, ganz bei mir und nicht in sich, so wie Haschischraucher. Und ich fand das...na eben süß. Ich lächelte ihn an, und er lächelte zurück. Erst dümmlich, dann immer intelligenter. So war Humbert. Als ich das beim ersten Mal gemacht hatte, stand ich dann auf und kochte Kaffee. Humbert blieb sitzen - ich weiß das, weil er immer noch da saß, mit geschlossenen Augen, den Kopf zurückgelehnt auf die Nackenstütze, als ich mit dem Kaffee wiederkam. Er lausche dem Meer, sagte er, als ich ihn fragte, und dem Blut in ihm. Ja, mein Blut fühlte ich auch, muss ich sagen, deswegen interessierte ich mich für seins, das er offenbar auch hörte. Ich setzte mich dann daneben, und wir tranken Kaffee und redeten über das Meer und das Skript. Als ich es das nächste Mal tat, blieben seine Hände nicht hilflos in der Luft hängen, sondern legten sich um meine Taille, was noch mehr Wärme in mich hinein und hinaus fließen ließ, und seine sehr warmen Hände hielten mich fest, als ich aufstehen wollte - um Kaffee zu kochen. Es muss also mindestens einen Tag später gewesen sein. Humbert sorgte fürs Essen, ich für den Kaffee. Diesmal sollte ich nicht sorgen, sondern bleiben. Er zog mich langsam näher zu sich, so dass sich unsere Brüste berührten. Um es mir bequemer zu machen, schlug ich meine Beine über seine und robbte auf seinen Schoß. Er atmete auf. Seine Brust wurde noch viel weiter als so schon. Ich meine, seine war viel weiter als meine. Mit seiner Brust und seinen Armen konnte er mich fast zweimal umschlingen. Und er drückte mich so fest an sich, ganz langsam, dass ich sein Herz schlagen fühlte. Mein eigenes fühlte ich komischerweise weiter unten. Es pochte. Wirklich. Und es hatte nicht genug Platz. Natürlich. Das Herz ist ja auch ein viel größeres Organ als die rote Bohne da unten, die, so schien es, zu einer Dickebohne erwachsen wollte. Ich ließ ihr ein wenig mehr Raum zum Wachsen, indem ich aufhörte meine Schenkel zusammenzupressen. - Was ich tat wegen des Kribbelns und Pochens. Dann wurde es besser. Aber auch feucht. - Was ich erst spürte, als Humberts Hand mein Höschen berührte. Er schien auch mehr Platz zum Wachsen zu brauchen, denn er öffnete seine Schenkel unter mir. Aber mein Hintern rutschte nicht dazwischen. Etwas Hartes hielt mich auf. Um mich hochzuhalten hob Humbert wohl seinen Schoß ab und an und drückte sein Hartes gegen mein Weiches. Ich liebte es, wenn seine große Hand mein Knie umschloss und dann über meinen Schenkel streifte. Er fühlte sich dann so groß an, und ich so weich. "Steh auf", sagte er, und ich dachte schon, er schickt mich jetzt weg. "Zieh dich aus", sagte er, und ich tat es. Er betrachtete mich eine Weile, dann legte er seine warmen, großen Hände auf meine Hüften und zog mich zu sich und küsste mich auf den Bauch. Der zuckte ein wenig und Humbert lachte. Währenddessen legte er seine Hand wieder um mein Knie und streifte meinen Schenkel hinauf. Aber da war jetzt kein Höschen mehr. Er berührte meine Schamlippen, was mich atmen und einknicken ließ. Er fing mich auf und setzte mich wieder auf seinen Schoß. Ich fiel gegen seine Brust und in seine Arme, weil mir der Kreislauf glaube ich wegsackte. Mir ging es wirklich gar nicht gut, glaube ich, es kribbelte so in meinen Lippen und unter meinen Wangen, und ich fühlte mich äußerst schwach. Auf den Beinen hätte ich nicht stehen können. Sie gaben wie Gummi unter seiner Hand nach, die meine Schenkel öffnete und sich meiner Scham wieder näherte. Aber dieses Mal waren keine Schamlippen davor, ich meine vor der ganzen Feuchtigkeit über dem pochendem Herzen, ich meine, dem pochenden Kitzler, die unter seiner Hand immer dicker wurde, dass ich Angst bekam, sie würde platzen, so sehr pochte es, und es fing an weh zu tun, weil nicht genug Platz da war. Deshalb öffnete ich noch mehr meine Beine. Und es half auch. Zumindest als Humberts Finger langsam und vorsichtig, Millimeter für Millimeter in meine Vagina eindrang. Aber nicht so weit, dass er mich entjungferte. Das tat er erst, als ich zum Orgasmus kam. Er sagte später, er habe es so gemacht, damit ich den Schmerz nicht spürte. Das war sehr lieb von ihm. Inzwischen habe ich von meinen Kolleginnen am Set gehört, dass es nicht für alle so schön war. Man kommt halt so drauf, wenn man während der langen Kaffeepausen nichts zu tun hat als auf seine nächste Szene zu warten. Für Humbert haben mich alle beglückwünscht. Von allen Frauen am Set hatte ich das beste erste Mal. Er trug mich dann in sein Bett und schlief mit mir. Von da an wollte ich jeden Tag mit ihm schlafen. Ich war unersättlich. Manchmal lachte er darüber. Ich fragte ihn dann, ob er mich auslachte. Dann sagte er: "Nein, mein Kleines. Ich freue mich, dass ich dir einen guten Start ins Leben gegeben habe." Ich habe das nie vergessen. Und als wir bei der Premiere in der ersten Reihe nebeneinander saßen und The End auf der Leinwand erschien, da ging mir ein Licht auf, noch bevor das Licht im Kino anging und der Applaus begann. Ich beugte mich zu Humbert über die Lehne und steckte meinen Mund in seine grauen Haare. "Du hast mich nur für den Film genommen, oder?" Ich zog meinen Kopf wieder zurück, um sein Gesicht zu sehen, und weil es mir irgendwie nicht so gut im Magen ging. Humbert wartete, bis das letzte Bild auf der Leinwand verschwand und das Flimmern begann. Da beugte er sich über die Lehne, steckte seinen Mund in meine Haare - die bestimmt nach Haarspray stanken - und sagte: "Umgekehrt, Kleines." "Was?" "Ich habe dieses uralte Skript aus der Schublade genommen, als dich zum ersten Mal sah."



Eingereicht am 19. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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