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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Schlüsselerlebnis

© Melanie Opalka


Christine saß am Fenster und blickte dem Schneeregen zu, der gegen das Fenster klatschte. Die trübe Aussichte und der tief hängende, graue Himmel erzählten ihr von den letzten sechs Monaten, in denen sie, nachdem sie überraschend ihren Job verloren hatte, wieder in ihrer alten Einzimmerwohnung wohnte. Martin, ihr Exfreund, hatte damals einen Karrieresprung hingelegt in der Anwaltskanzlei, wo er seit fünf Jahren arbeitete, wobei sie auf der Strecke geblieben war. Als Journalistin beim Hamburger Abendblatt war es ihr gut gegangen, aber nachdem, bedingt durch die Kürzungen, ihr Ressort Mitte 2004 aufgelöst worden war, konnte sie intern wie extern keine neue Arbeit finden. Die allgemeine wirtschaftliche Situation, sie sei überqualifiziert, die Ausreden waren mannigfaltig, doch im Grunde wusste Christine, dass sie als 30jährige natürlich in erster Linie ein "Potentielles-Baby-Problem" für jeden neuen Arbeitgeber war. Sie lachte verächtlich, warf ihren blonden Pferdeschwanz über die Schulter und stieß ihren Stuhl zurück: Ein Tee würde ihr helfen, auf andere Gedanken zu kommen.
Zur gleichen Zeit läutete es im Redder 4 zur zweiten großen Pause. Alexander stand mit dem Rücken zu seiner achten Klasse an der Tafel und hörte mitten im Satz auf zu schreiben. Der Lärm hinter ihm bedeutet ihm, dass es sinnlos war, noch weitere Übungen anzuschreiben, da seine Schüler den Raum schon verlassen haben würden, ehe er sich umdrehen konnte. Er schloss eine Sekunde die Augen, nahm die Brille ab und fuhr sich durch die dunklen kurzen Haare. Immer häufiger fragte er sich, ob die Entscheidung richtig gewesen war, Englisch ausgerechnet in einer Hauptschule zu unterrichten. Ein Jahr! So lange lag sein Referendariat zurück und seither war kein Morgen vergangen, wo er sich diese Frage nicht mindestens einmal gestellt hätte.
Christine schleppte sich an ihren Schreibtisch. Sie liebte das Schreiben. Doch die Art wie die Redaktion ihren Berufsstand sah und behandelte, missfiel ihr zutiefst. Kurz vor ihrer Kündigung hatte sie sich noch mit einem Kollegen darüber unterhalten, dass es keinen Sinn machte über eine Katastrophe wie das Seebeben vor Thailand zu berichten, wenn man gut recherchierte Artikel mit Anspruch schreiben wolle. Gefragt waren nur noch reißerische Pamphlete mit noch extremerem Bildmaterial. Angewidert schüttelte sie den Kopf: das war nicht, was sie gewollt hatte, als sie nach ihrem Anglistikstudium mit dem Volontariat begann. Bedauerlicherweise war sie von dieser Art ernstzunehmendem Journalismus ohnehin weit entfernt gewesen. Nach zwei Jahren hatte sie es nur bis zum Extrajournal geschafft, wo sie für die Immobilenanzeigen zuständig gewesen war. Und nun schien nicht nur ihre Traumkarriere zu Ende zu sein, sondern auch dem Traum an sich war die Luft ausgegangen.
Die Konferenz hatte wieder länger gedauert, als er gehofft hatte. Alexander packte zwei Klassensätze Hefte ein, die er bis Morgen korrigieren musste. Seine Frau Bianca hatte ihm auf die Mailbox gesprochen, dass der Abfluss in der Küche verstopft war und tanken müsste er auch dringend, bevor er heute Abend mit Karsten in seine alte Schule fahren würde. Er seufzte: Was hatte er bloß als Student für Flausen im Kopf gehabt, dass er gedacht hatte, für diesen Job geschaffen zu sein? Er hatte gehofft, nebenbei seinem Hobby frönen zu können und etwas aus den vielen Kurzgeschichten zu machen, die ihm immer wieder einfielen, aber de facto hatten sie es nie weiter als bis in den Ordner über dem Schreibtisch geschafft. Nicht einmal Bianca las sie mehr mit so viel Begeisterung wie damals, als sie frisch verliebt gewesen waren. Er schob die Ledertasche unter den linken Arm und griff sich im Gehen seine Jacke.
Die 25-Jahr-Feier des Gymnasiums fand an einem Freitag in der Aula statt. Die Ehemaligen trudelten langsam und in Grüppchen ein. Es waren nur sehr wenige Mitglieder des Kollegiums anwesend. Christine konnte mit einem Blick erkennen, dass nur knapp 20 Leute aus ihrem Jahrgang anwesend waren und diese auch mehr oder weniger alle zur gleichen Clique gehörten. Sie atmete durch, was den Knoten in ihrem Magen nicht wirklich löste. Sie war nur Mariella, ihrer alten Schulfreundin, zuliebe mitgegangen und zog sich unauffällig an die Bar zurück, während Mariella überall stolz ihren Babybauch vorführte und Verlobungsringe verglich. Dort stand ein junger Mann, der finster in sein Bier starrte.
Alexander hatte es genau 15 Minuten unter den ganzen erfolgreichen Klassenkameraden ausgehalten. Wie sehr er sich verändert hatte war ihm binnen weniger Sätze klar geworden, heute jagte er keinen Röcken mehr nach oder machte den Lehrern das Leben schwer, ohne eine Sekunde an Konsequenzen oder Auswirkungen zu denken. Heute war er selber einer und die Scherze diesbezüglich konnte auch nicht mehr hören. Er hatte sich also entschuldigt, war zuerst einige Minuten vor die Tür getreten und um nicht wieder direkt zu den anderen zurückgehen zu müssen, stellte er sich an die Bar. Er spielte unterschiedliche Versionen einer frühzeitigen Flucht durch, als eine blonde Frau mit wachen, grünen Augen und sportlicher Figur neben ihn trat.
Ihre Blicke trafen sich und den Seelenverwandten erkennend lächelten sie einander zu. Christine bestellte ein Bier und während sie wartete, musterte sie Alexander eindringlich von der Seite. Er war einen halben Kopf größer als sie, seine Stirn mit feinen Linien gezeichnet, als ob er zu viel nachdächte und Schultern, die vertrauenserweckend breit aussahen, aber im Moment resigniert hingen. Sie wühlte in ihrem Portemonnaie nach Kleingeld und trank einen langen Schluck aus der Flasche, die man ihr hingestellt hatte. Als sie absetzte, begegnete sie seinem Blick wieder.
"Sie sieht traurig aus", schoss es Alexander durch den Kopf, als er Christine zusah, wie sie zahlte und das Bier ansetzte. Sie musste etwas jünger sein als er mutmaßte er, da sie nicht in den Jahrgängen um den seinen gewesen war, aber vielleicht war sie auch nur die Frau von irgendjemandem.
Sie sahen einander einen langen Augenblick an und dann fragte er sie, einer spontanen Eingebung folgend: "Wollen wir lieber woanders ein Bier trinken?" Mit gelassener Selbstverständlichkeit, als wären sie alte Freunde, schob sie ihre linke in seine rechte Hand und antworte: "Ja, am Besten jetzt gleich." Unbemerkt stahlen sie sich davon und schlenderten zu Fuß das kurze Stück bis zur Chaussee. Dort wandten sie sich nach links und gingen bis zu dem kleinen thailändischen Restaurant. Es war ziemlich voll, doch an der Ecke der Bar wurden gerade zwei Plätze frei als sie eintraten. Sie setzten sich und sahen sich abwechselnd kurz an. Überrascht von der eigenen Courage fehlten jetzt beiden die Worte und so folgte ein Schweigen, bis die ersten Mai Tais serviert waren. "Ähm", begann Alexander, "vielleicht sollten wir uns wenigstens vorstellen." "Nein", antwortete Christine herausfordernd, "das werden wir nicht. Es ist nicht wichtig. Wir kennen beide sicherlich genug Leute, lass uns das hier zu etwas besonderem machen." Sie lächelte ihn an und ihm schoss für eine Sekunde der Gedanke durch den Kopf, dass er seinen Ehering hätte ablegen sollen. Vor Aufregung wurde sein Mund trocken. Was für ein absurder Gedanke, ein Abenteuer war nun wirklich nicht, was er heute Abend gesucht hatte. Als habe sie seine Gedanken gelesen, blickten beide auf seine rechte Hand. Er versuchte zu lächeln und es wirkte etwas kläglich. Sie schüttelte ganz leicht und ohne Bedauern den Kopf. In ihrem Blick lag ein Blitzen und trotzdem wirkte sie so ruhig, dass er sich innerlich entspannte. Er nahm einen Schluck von seinem Cocktail und beobachtete, wie sie ihr Haar aus dem Gesicht hinter ein Ohr schob. "Ich will nichts wissen, von dem was Du bist oder tust, heute Abend kannst Du sein, wer Du willst", sagte sie langsam, ihre Worte mit Bedacht wählend. Das war nicht ganz, was er erwartet hatte, aber die Vorstellung war lustig. Er überlegte nicht lange und sagte: "Hi, ich bin Al und schreibe Liebesromane." Sie grinste und stieg in ihr eigenes Spiel ein: "Hey, super, ich bin Chris und Professorin für Germanistik an der Universität in Vancouver. Mögen Sie Kanada?" Das war viel leichter, als er gedacht hatte. Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug und sie spannen sich immer weiter in ihre alternativen Identitäten ein. Irgendwann nach mehreren Mai Tais und als des Gesprächs über eine fiktive Wirklichkeit seinen Reiz verloren hatte, trat eine kleine Pause ein. Sie lächelten beide vor sich hin und hingen eine Weile nur ihren Gedanken nach. "Und wenn es wahr wäre?" Sie kehrte in die Realität zurück, seine Frage hatte sie aus ihren alkoholschwangeren Träumen gerissen. "Wie bitte?" fragte sie. "Na ja", meinte er, "was wenn es wahr wäre, wenn wir die sein könnten, die wir gern wären?" Sie lachte auf, sah ihn voller Zärtlichkeit an, lehnte sich dann über den Tisch, küsste ihn auf die Lippen und setzte sich wieder. Sie lachte schon wieder, griff nach ihrem Handy und begann zu wählen. Eine Träne kullerte über ihre Wange. "Ja? Ja, einen Wagen zum Thailänder an der Bramfelder Chaussee bitte," sagte sie, sich mit Mühe beherrschend und legte auf. Er verstand sie ohne ein weiteres Wort, nahm ihre Hand und küsste sie an der Wurzel, bevor er sie sanft wieder auf dem Tisch ablegte.
Zwei Monate waren seitdem vergangen: Träumen waren in dieser Zeit nicht nur Flügel gewachsen, sondern sie hatten sogar erste Flugversuche unternommen. Christine hatte für sich hinterfragt, aus welchem Gedanken die Professorengeschichte entstanden war und umfassend recherchiert. Ihr fehlte die englische Sprache, Linguistik hatte ihr immer besonders viel Spaß gemacht und sie hatte gern mit Menschen zu tun. Inspiriert von diesen Überlegungen hatte sie sich als Dozentin an verschiedenen privaten und öffentlichen Einrichtungen beworben und hatte bei der Fremdsprachen- und Wirtschaftsschule in der Nähe des Zentrums angefangen. Das war alles war abgelaufen, als wäre es von langer Hand geplant gewesen und das Schicksal hatte nur noch auf ihren Startschuss gewartet. Die Halbtagsstelle, die sie nun hatte, brachte ihr genug ein, um ihre Kosten zu decken und nachmittags arbeitete sie an ihrem ersten Buch, einer Satire über den Wertverfall in der westlichen Gesellschaft. Seit vielen Jahren war sie nicht mehr so glücklich gewesen, sie fühlte sich frei, war voller Abenteuerlust und hätte die ganze Welt umarmen können. Sie stand vor dem Spiegel und lächelte sich zu: "Wo auch immer du jetzt gerade bist, Al, ich möchte dir sagen, dass mein Traum wahr geworden ist, und dass es sich großartig anfühlt." Sie warf sich übermütig eine Kusshand zu und verließ ihre schicke neue Wohnung.
Zur gleichen Zeit saß Alexander vor dem unaufgeräumten Schreibtisch eines Verlegers, der dabei war sein Manuskript durchzusehen. "Ja, junger Mann, das sieht doch sehr gut aus und auf CD haben Sie es auch noch mal mitgebracht, sehr gut." Alexander schob die CD über den Tisch und nahm den Vertrag entgegen, den man ihm im Tausch reichte. Er überflog ihn noch ein letztes Mal, bevor er ihn unterzeichnete. Dies sollte nur der erste Band Kurzgeschichten über einen Lehrer und die diversen Anekdoten seines Alltags werden. Mit dem zweiten hatte er direkt begonnen, nachdem er sich von der Schule hatte freistellen lassen. Alles war so einfach gewesen, nachdem er sich erst einmal getraut hatte. Im Internet hatte er einen kleinen Verlag ausfindig gemacht, der sich für sein Manuskript interessierte und von dahin bis zur Vertragsunterschrift heute waren es nur wenige Wochen gewesen. Nachdem sein Entschluss festgestanden hatte und er für sich wieder glücklich war, hatte er auch wie selbstverständlich einen neuen Anfang für seine Ehe gefunden. Bianca und er waren nie glücklicher gewesen und obwohl es in nächster Zeit finanziell etwas knapper werden würde, planten sie eine Familie. Als er das Büro des Verlegers verließ, blieb er einen Moment vor der Tür stehen und lächelte in den strahlend blauen Himmel. Laut sagte er: "Danke, Chris, wo auch immer du jetzt gerade bist, ich möchte dir sagen, dass mein Traum wahr geworden ist, und dass es sich großartig anfühlt."



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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