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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Es geschah im Oktober
© Laura Bräuninger
Es geschah in den letzten Oktobertagen. Niemals werde ich den Tag vergessen, der begann wie jeder andere und der damit endete, dass alles anders war. Nichts war mehr wie noch wenige Stunden zuvor. Es war Sand ins Getriebe geraten, die Welt hatte aufgehört sich zu drehen. Und dann, nach endlos ewigen Stunden, begann sie von neuem. Meine Welt wandte sich knirschend und stotternd um, wandte sich gegen mich und begann schließlich, sich rückwärts zu drehen. Schneller, immer schneller, ein Strudel in den Untergang.
Halt....
Als wäre es erst gestern gewesen, sehe ich die grauschwarzen Wolken über den düsteren Oktoberhimmel tanzen, die Birke im Hof rauscht und wiegt sich sanft im Wind. Es ist Samstag und es ist Marias Geburtstag. Endlich. Seit Wochen freut sie sich darauf und ich kann es selbst kaum abwarten. Der Tag verfliegt im Schatten abendlicher Erwartungen und schon ist es soweit.
Maria holt mich und zwei weitere Freundinnen mit ihrem neuen Auto ab. Bewundernd streiche ich über das schwarze Armaturenbrett, atme den Zitronengeruch des Duftbaums am Rückspiegel ein und beneide meine Freundin ein wenig. Wie gerne hätte ich selbst einen Wagen.
Auf der Party beginnen wir sofort zu trinken. Ein Glas nach dem anderen. Es ist noch früh, wir haben etwas zu feiern, das Trinken schmeckt toll. Maria will das Auto nachher stehen lassen und es morgen abholen kommen. Ja ja.... Noch ein Glas. Ich bin benommen. Weitertrinken. Wir lachen und kreischen. Noch ein Glas. Alles ist wunderschön. Alles dreht sich langsam im Takt der Musik. Noch ein Glas. Filmriss....
Ich öffne die Augen, kurz, nur ganz kurz. Ich kann nicht. Graffitibesprühte Wände. Ich schließe die Augen und wirble durch die Dunkelheit. Nein. Es soll aufhören. Ich muss es mir nur stark genug vorstellen, daran glauben, dann bin ich, wenn ich die Augen wieder öffne, schon zuhause. Zuhause. Bestimmt. Ich spüre den kalten Stahl unseres Gartentors in meiner rechten Hand. Schnell ins Bett. Und vergessen. Wie peinlich das alles ist....
Stimmen dringen an mein Ohr, mal laut, mal leise. Kommen näher und entfernen sich wieder. Kreischen und flüstern. Geht weg, geht weg, ihr seid doch gar nicht da, ich bin doch zuhause und ihr seid auf der Party. Jetzt packt mich jemand an der Schulter. Steh auf. Kannst du gehen? Ich versuche es. Kies unter meinen Füßen, kalte Luft, es knirscht leise. Graffiti. Kleine Steinchen reiben aneinander und ich falle. Nein. Nein. Ich kralle die Hände in den kalten, feuchten Kies. Wann hört das auf? Das Meer aus Gestein
bebt und schwankt. Heiße Tränen prallen auf den kalten Stein. Ich will nicht mehr, ich will nach Hause....
Ich sitze, liege und werde abwechselnd nach hinten gedrückt, nach vorne, rechts, links. Es richt nach Zitrone. Wieder höre ich Stimmen. Maria. Gott sei Dank. Ich kann nicht verstehen, was sie sagt. Es klopft unaufhörlich um uns herum. Es klopft, wackelt und rauscht. Es ist egal. Ich will schlafen, will weg sein, will aus mir selbst heraus, will....
Blaulicht. Sirenen. Taschenlampen. Rufe. Mehr Blaulicht....
Langsam öffne ich die Augen. Weiß. Alles ist weiß. Die Wand, die Decke, die Tür. Wo bin ich? Ich spüre einen leisen Schmerz in meinem linken Arm. Eine Nadel steckt darin. An der Nadel hängt ein Schlauch. Eine durchsichtige Flüssigkeit fließt in mich hinein und droht mich zum Platzen zu bringen. Was ist das? Wo bin ich? Mein Kopf tut so scheußlich weh. Langsam, ganz langsam nur wegen der Schmerzen, blicke ich mich um. Ein leerer Raum. Nur ich in meinem riesigen weißen Bett und der Schlauch in meinem Arm. Wie bin
ich hier bloß hingeraten? Leise klingen Erinnerungen in mir auf. Marias Geburtstag. Ob sie sauer auf mich ist? Die Party. Trinken. Graffiti. Blaulicht. Was ist passiert?
Da ist es. Das Wissen drängt sich erbarmungslos zu mir hin. Aber ich will es nicht. Der Schmerz. Fest umklammere ich den bohrenden Schmerz in meinem Kopf und sinke dankbar in tiefe Benommenheit....
Insgesamt muss ich mindestens vier Wochen im städtischen Krankenhaus verbracht haben. Ich dämmerte in einem Nebel aus Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmittel vor mich hin. Ich dachte nicht, ich fühlte nichts. Ich roch die Blumen, sah die betroffenen Gesichter, die ich nicht erkannte, hörte ihr Schluchzen und ließ es nicht zu mir hin. Ich wies alles ab. Ich wollte nichts wissen, nichts ahnen, nichts denken.
Nach einiger Zeit schickte man mir eine Psychotherapeutin und stahl mir meine besten Freunde, meine Tabletten.
Nie werde ich ihr Gesicht vergessen. Sie war blond, schulterlanges, leicht gewelltes Haar, schwarzer Kajal, an den Rändern leicht verwischt, blassblaue Augen, rosaroter Lippenstift, eine kräftige Schicht Make-up. Die Ballkönigin hatte erste Falten um Mund und Augen.
Ihre Freunde sind tot und Sie wissen es.
Ich kann nichts sagen, kann sie nur anstarren. Sekunde um Sekunde. Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Verschwinden Sie. Ich will nichts von Ihnen wissen, ich habe es nicht nötig mir so etwas anzuhören, verlassen Sie auf der Stelle dieses Zimmer.
All das will ich ihr sagen, doch ich kann nicht. Meine Zunge klebt mir trocken am Gaumen und ich bin nicht fähig, auch nur ein einziges Geräusch von mir zu geben. Das ist doch alles nur ein böser Traum. Ich werde ihn über mich ergehen lassen, ihn ertragen. Irgendwann werde ich aufwachen und alles wird wieder so sein wie früher. Solange muss ich einfach nur still da liegen und abwarten. Und ich liege still und lasse sie reden.
Ich muss mich der Realität stellen, darf nicht länger alles verdrängen. Ich muss mich öffnen. Und sie wird mir dabei helfen. Mit Sicherheit. So wird es sein.
Von diesem Tag an besuchte die Ballkönigin mich jeden Tag und beschloss schließlich, dass es das Beste für mich wäre, wenn ich in meine gewohnte Umgebung zurückkäme.
Gesagt, getan. Ich wurde für unmündig erklärt, hatte nichts zu entscheiden und wurde nach Hause verfrachtet.
Meine Familie benahm sich sehr merkwürdig. Ich bin sicher, dass sie taten, was sie konnten, um mir zu helfen, aber es muss sehr schwer gewesen sein. Noch immer ließ ich niemanden zu mir durchdringen.
Doch die bittere Wahrheit war gesagt worden. Sie stand nun im Raum und grinste mich verächtlich an. Da schwebte sie und schien mich auszulachen, wie ich benommen und wie betäubt in meinem Zimmer saß und nichts tun konnte, um ihr zu entkommen.
Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass es mich allen Mut gekostet hat, den ich nur irgendwo in meinem verdorrten Bewusstsein zusammenkratzen konnte, schließlich von meinem Stuhl aufzustehen und nach der Wahrheit zu greifen. Anstatt die Ballkönigin anzurufen, wie sie es sich wahrscheinlich gewünscht hätte und es mit Sicherheit auch erwartet hat, ging ich ins Wohnzimmer, wo meine Mutter gerade in ihr Buch vertieft war, um mich der Wahrheit - dem Leben - zu stellen.
Seit diesem regnerischen Dienstagmorgen sind sieben Jahre vergangen. Sieben lange Jahre. Die Wunden haben zu heilen begonnen, sind vernarbt, doch vergessen werde ich sie im Leben nicht, ganz gleich, wie viele Jahre noch vergehen.
In jener stürmischen Nacht hatten vier junge Mädchen einen tragischen Autounfall. Die unerfahrene Fahrerin war schwer angetrunken, verlor in einer engen Kurve auf dem regennassen Asphalt die Kontrolle über ihren Kleinwagen und schleuderte bei stark überhöhter Geschwindigkeit in einen Baum am Straßenrand. Drei der Insassinnen waren sofort tot, nur eine überlebte wie durch ein Wunder mit nur leichten Verletzungen....
Ich.
Der Grund für die Todesfahrt war, wie ich es von Anfang an vermutet hatte und später von anderen Gästen der schicksalhaften Party bestätigt bekam - ebenfalls ich. Ich war stark betrunken dem Zusammenbruch nahe gewesen, man hatte sich furchtbare Sorgen gemacht und mich möglichst schnell und sicher ins Krankenhaus bringen wollen....
Mit ihrer Selbstlosigkeit besiegelten meine Freundinnen nicht nur ihr eigenes, sondern auch mein Schicksal. Die Tragödie hat mein Leben für immer verändert, zunächst in eine selbstzerstörerische, isolationistische Richtung, doch nachdem ich mich der Realität gestellt hatte, begann ich, das Leben aus einer völlig neuen Perspektive zu betrachten.
Doch keiner soll glauben, dass es leicht für mich war. Ich hörte die Wahrheit, die schrecklichen Worte und mein erster Impuls war, alles wegzudrängen. Ich wollte zurücklaufen -in mein Zimmer, ins Vergessen, in den Tod.
Doch dazu war es längst zu spät. Seit dem Moment, in dem ich nach dem ersten Aufwachen in meiner Unwissenheit die Wahrheit zu nahe an mich heran gelassen hatte, war es zu spät gewesen. Die Wahrheit hatte mir die Finger versengt. Diese Wunde schmirgelte leise vor sich hin, hielt mich fest am Rande der Realität, ließ mich nicht gehen, hielt mich fern vom kühlen Paradies des Vergessens.
Jetzt, da ich die volle Wahrheit kannte, stand ich in Flammen und musste die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Unwissenheit für immer aufgeben. Es traf mich wie ein Schlag, meine schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden. Ich brach völlig zusammen. Worte können den verheerenden Gefühlsstrudel nicht beschreiben, in den ich geriet. Aber -und das war es, worauf es letztendlich ankam -ich fühlte. Das erste Mal seit Wochen verspürte ich etwas. Ich war wieder Mensch, die Welt hatte mich wieder. Und langsam, ganz
zögerlich zunächst, kamen sie -die Tränen. Wie ein Regen in der Wüste, so bahnten sie sich langsam ihren Weg, zunächst vereinzelt, nahmen sie schließlich in ihrer Anzahl zu und wurden zu unaufhaltsamen, prasselnden Strömen. Und wie der Regen den trockenen Wüstenboden wieder glatt und gesund macht, so sollten die Tränen auch irgendwann meine Seele heilen. Doch es sollte ein langer und steiniger Weg werden.
Die ersten Schritte auf diesem Weg waren hysterische Gefühlsausbrüche. Ich heulte und raste, ich tobte und wütete. In meiner Raserei zerstörte ich nicht nur alles, was mir in den Weg kam, sondern begann auch bald mir selbst Schaden zuzufügen. Ich sollte dafür büßen, was ich getan hatte, sollte bezahlen, jeden Tag und soviel es ging. Wenn ich spürte, wie das Teppichmesser durch die weiche Haut meiner Arme schnitt, dann stach mit dem Schmerz auch meine Befreiung durch meinen Körper, unaufhaltsam bis ins Herz. Keine
Grenzen, keine Reue mehr, ich litt ja selbst. Ich würde bezahlen. Jeden Tag, jedes Jahr, bis der Tag gekommen war, an dem ich frei sein würde, frei -und tot.
Mit solchen und ähnlichen selbstmörderischen Gedanken verbrachte ich die ersten Wochen meines neuen Lebens. Was mich schließlich davon abbrachte, kann ich heute nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht war es die Zeit, die Erleuchtung, meine Familie, meine Freunde, ich kann es einfach nicht mit Bestimmtheit sagen. Was mir aus dieser Übergangszeit jedoch auf markante Weise in Erinnerung geblieben ist, ist ein Bericht aus einer Zeitung. Es war ein Interview mit einer verurteilten Mörderin. Die inzwischen alte, grauhaarige
Frau hatte stumpfe hellgrüne Augen, die jeden Ausdruck verloren hatten. Was jedoch das für mich Ausschlaggebende war, war der letzte Satz des Interviews. Nach einem Fazit über ihr Leben gefragt, zögerte sie zunächst, nur um schließlich zu sagen, dass dies die wohl schwerste Frage sei, die ihr jemals jemand gestellt habe. Sie könne nicht anders als mit Scham auf das zurückblicken, was sich einmal ihr Leben genannt hatte. Sie war am Ende.
Und wie würde ich einmal auf mein Leben zurückblicken? Und vor allem auf was? Ich hatte mit gerade achtzehn Jahren den Tod von drei jungen Mädchen mitverschuldet. Aber es war ein Unfall. Ich hatte nicht absichtlich Leben zerstört. Aber ich war die Ursache gewesen. Und dann? Was hatte ich sonst noch anzubieten? War das wirklich alles? Was hatte ich an guten Taten vollbracht? Ich hatte einmal einer Obdachlosen etwas Geld gegeben. Der helle Wahnsinn. Andere Leute machen so etwas jeden Tag. Es war ein Armutszeugnis,
eines der erbärmlichsten, das ich mir nur irgendwie denken konnte. Man lebt vielleicht nur einmal....
Das durfte es noch nicht gewesen sein!
Das war wohl der rettende Gedanke, der Anker, der mich schließlich vor dem sicheren Untergang bewahren und etwas Unbezahlbares lehren sollte.
Es war nicht ausweglos zu Ende, ich konnte mein Leben noch immer selbst in die Hand nehmen, anstatt wehrlos und passiv im Selbstmitleid zu versinken. Ich hatte noch eine Chance bekommen. Und ich war es meinen Freundinnen schuldig, diese Chance auch zu nutzen.
Drei wunderbare Menschen waren bei dem Versuch mich zu retten ums Leben gekommen. Das darf nicht völlig vergeblich geschehen sein. Ich muss versuchen, durch mein Tun und durch meine Einstellung etwas zu bewirken. Und sei es nur im Kleinen, ich muss es tun, damit ich einmal zurückblicken und sagen kann, dass es sich gelohnt hat. Ich will wissen, dass mein Leben einen Sinn und Zweck hatte, dass ich etwas Gutes geschaffen oder erreicht habe, auf das auch meine Freundinnen stolz wären.
Egal in was für einer Situation ich gerade bin, es erfüllt mich jedes Mal mit Wut, wenn ich spüre, wie Selbstmitleid in mir aufsteigt. Ich habe den Bus verpasst und muss durch den Regen laufen. Ich habe meinen Geldbeutel verloren. Na und? Maria, Sophie und Sara können nie wieder mit dem Bus fahren, sie können auch nie wieder spüren, wie der Regen über ihre Gesichter strömt und wie schön es ist, sich anschließend zuhause in eine kuschelige Decke zu hüllen und einen heißen Tee zum Aufwärmen zu trinken. Für sie
ist es vorbei. Und ich lebe. Ich muss das Leben zu schätzen wissen, was auch passiert, ich muss es für uns alle vier auskosten. Ich muss den Verlust so gut es nur geht ausgleichen.
Ich weiß, dass, egal wem ich helfe, wie viele Menschen ich vielleicht glücklich machen kann, ich das Leben und das Glück meiner Freundinnen niemals aufwiegen kann. Doch bis zu dem Moment, in dem ich selbst meine Augen für immer schließe, werde ich nie aufhören es zu versuchen. Es ist meine Aufgabe, meine Pflicht .... mein Schicksal.
Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.