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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Nichts da was zu klären ist

© Susanne Bruschke


Das kleine Vampirmädchen sauste durch das Gestrüpp. Es war dämmerig geworden. Das Mädchen atmete auf, endlich wurde es dunkel. Vielleicht war die Luft inzwischen rein. Trisha, so hieß das Mädchen, hielt vor einem Strauch inne und lauschte auf die Geräusche vorbeifahrender Autos. Sie war nicht mehr weit von der Hauptstraße entfernt und das hieß, dass sie ihr Ziel bald erreicht haben würde. Das war das Eine. Das Andere war: Trisha wusste nicht so recht, ob es wirklich so gut war, jetzt schon den Rückweg anzutreten. Wie sie aussah! Ihre Kleidung hatte sie sich zerrissen, als sie durch die dichten Büsche gekrochen war. Und natürlich war sie von Kopf bis Fuß vollkommen verdreckt und schmutzig, außerdem hingen Blätter in ihrem zerzausten Haar. Nicht gerade das, was man unter unauffällig verstand. Aber irgendwo am Ende des kleinen Waldes, indem sie sich befand, dort hinten bei der Steinmauer, warteten ihre Freunde auf ihr Zeichen. Zwei Pfiffe, wenn die Polizei verschwunden war, drei Pfiffe, falls sie noch vor dem Supermarkt standen. Sie würde auf jeden Fall danach verschwinden. Dazu musste sie allerdings am Supermarkt vorbei, einen anderen Weg zu ihr nach Hause gab es nicht. Trisha verharrte noch kurz auf ihrem Fleck und seufzte, nahm dann aber allen Mut zusammen und schlich weiter durch die sich bereits lichtenden Büsche bis sie freien Blick auf die Hauptstraße hatte. Schräg gegenüber der Straße lag der Supermarkt, daneben eine Tankstelle und etwas weiter entfernt ihre Schule. Die kleine Seitenstraße, die neben der Tankstelle verlief, führte direkt zu ihr nach Hause und leider auch in eine Sackgasse. Trisha musste diesen Weg gehen, davor war ihr Angst und Bange. Sie hatte kein Glück, dass sah sie sofort, denn immer noch stand ein Polizeiwagen vor dem Geschäft. Doch was blieb ihr Anderes übrig? Mehr als verkleiden konnte sie sich nicht. Es würde schon klappen, wenn sie daran glaubte.
`Die, die durch die Dunkelheit schreiten, müssen das Licht sehen`, dieser Spruch kam Trisha in den Sinn, nachdem sie ihren Auftrag erfüllt hatte und die Böschung an der Hauptstraße hinunter kletterte. Wieso fiel ihr ausgerechnet jetzt dieser dämliche Satz ein? Sie kam erst nicht darauf, doch als sie an der Hauptstraße wartete, dass einer anhielt, um sie über die Straße zu lassen, wusste sie es wieder. Das war wieder so ein Spruch aus einem dieser schrägen Filme, zu denen ihr älterer Bruder Marco sie so oft überredete. Marco, der verrückte Spinner! Trisha musste unweigerlich grinsen, trotz seiner dummen Scherze mochte sie ihren Bruder sehr. Auch ihre Eltern, ihre kleine Schwester, ihre Oma und ihre Haustiere hatte sie unheimlich gern. Sie hatte ein warmes, gemütliches Heim, war gut in der Schule und hatte viele Freunde. Es gab wahrlich nicht viel Dunkelheit in ihrem Leben. Bei ihren beiden neuen Freunden von heute war es genau umgekehrt, sie hatten bis dahin noch nie ein Licht gesehen, nahm Trisha an. Deshalb waren sie so geworden, wie sie waren. Und deshalb tat Trisha das, was sie nun tat, auch wenn es nicht richtig war. Denn auf einmal war sie das Licht. Wie war es nur dazu gekommen?
Trisha erinnerte sich an gestern Nachmittag. Sie hatte in ihrem Zimmer auf dem Bett gelegen und Tiere und Landschaften gezeichnet, dabei konnte sie sich wunderbar entspannen. Doch dann polterte Marco in ihr Zimmer. "Hey, Transuse!" hatte er freundschaftlich zu ihr gemeint. "Was liegst du hier so herum? Morgen ist Halloween. Du kannst doch nicht immer nur als Paradiesvogel durch die heile Welt segeln. Auch die grausamen Dinge muss man gesehen haben." "Kein Problem," hatte Trisha ihm erwidert, "ich sehe dich ja bereits jeden Morgen vor dem Aufstehen, das ist mir an Grausamkeit genug." "Ach, komm schon! Sieh dir einen Film mit mir an" hatte Marco gebettelt. "Alleine Fernsehen ist Mist. Und Jeffrey und Chris haben keine Zeit." "Ist ja gut. Damit du mir bloß nicht noch in Tränen ausbrichst." Aber kein Wort zu den Eltern, klar? Der Film ist erst ab achtzehn." "Was auch sonst!" Trisha hatte die Augen verdreht. "Hoffentlich ist es wenigstens kein Film von Quentin Tarantino oder Robert Rodriquez. Die sind doch vollkommen durchgeknallt." "Pech gehabt" hatte Marco sie ausgelacht. "Der Film ist von beiden." "Du hast wohl Recht, die Welt ist nicht unbedingt gnädig" hatte Trisha ihm geantwortet. Doch den Film, den sie dann sahen, fand sie gar nicht mal so übel. Hinter all den Grausamkeiten und Spinnereien erkannte sie sie wieder - die Menschen und die Tiefen ihre Seele. War es nicht immer so gewesen? Es hatte sich in der Vergangenheit soviel Unaussprechliches zwischen den Menschen ereignet, doch wenn es darauf ankam hatten sie Mut und Stärke bewiesen und waren nach jeder noch so großen Niederlage nicht am Boden liegen geblieben. Was war nun gut und böse? Eigentlich gab es dafür keine sichere Definition, denn jeder Augenblick, indem etwas geschah, war relativ schnell vorbei. Auch verschwammen diese Momente meistens soweit, bis nur noch schwache Umrisse auszumachen waren. In dem Film erkannte sie das Alles wieder, es war unglaublich! Sie fühlte sich über Allem, ja sie schien die Zusammenhänge der gesamten Welt für den Bruchteil einer Sekunde zu begreifen. Eine Art Erleuchtung entstand in ihrem Kopf, aber sie währte nicht lange. Dann wurde es wieder dunkel. Doch das Gefühl war geblieben...
Sonst hätte sie heute wohl kaum den beiden jungen Männern geholfen, die ihren Überfall auf den umsatzstärksten Supermarkt ihrer Stadt falsch geplant hatten. Trisha hatte es geschafft, dass die Polizei sich täuschen ließ und die Täter in die falsche Richtung hin verfolgte. Doch leider suchte man nun auch sie, denn sie war den beiden Männern ganz offensichtlich hinterhergelaufen, als sie aus dem Supermarkt flüchteten, weil sie die Polizei kommen hörten. Viele Leute waren Zeuge dafür gewesen. Gott sei dank hatte Trisha sich schon für die Halloweenparty ihrer besten Freundin Hannah geschminkt und zum Glück hatte sie ihr Kostüm, das sie mitgenommen hatte, noch nicht angezogen. Das war perfekt. So hatte sie sich im Wäldchen umziehen können und das war eine gute Tarnung. Denn an diesem Abend liefen alle Kinder verkleidet durch die Gegend. Heute war dermaßen viel passiert, dass sie es selbst nicht fassen konnte. Seltsamerweise hatte sie sich nicht mal ein bisschen erschrocken, als die Männer den Markt stürmten und schreiend mit ihren Waffen herumfuchtelten. Sie wusste nicht, was in sie gefahren war, als sie den Männern folgte und ohne Scheu auf sie zuging. Aber sie bereute es auch nicht. Zwischen ihr und den Tätern hatte sich, so unwahrscheinlich wie das auch sein mochte, schnell ein freundschaftliches Verhältnis ergeben. Doch nun wollte sie nur noch nach Hause. Die Party ihrer Freundin hatte sie darüber hinaus total vergessen.
Endlich ließ sie jetzt einer über die Straße! Blitzschnell rannte Trisha los, überquerte flugs die Straße und lief dann am Supermarkt und anschließend an der Tankstelle vorbei. Erst als sie die Seitenstraße, die zu ihr nach Hause führte, erreicht hatte, merkte sie, dass niemand ihr gefolgt war. Aus irgendeinem Grund zog es Trisha zurück vor den Supermarkt. Gelangweilt stand ein junger Polizist vor dem Streifenwagen und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er nahm Trisha gar nicht wahr und auch sonst schien ihm Alles egal zu sein. Trisha wurde sauer. Verdammt noch mal, dachte sie, vorbei ist nie irgendwas, erst recht nicht diese elende Gleichgültigkeit. Das war weitaus das Schlimmste, viel schlimmer als Mord und Totschlag, denn es war schwieriger zu erkennen, dass das ebenfalls ein Verbrechen war. Wie Gift, so schleichend, sorgte doch diese Haltung dafür, dass sich nie etwas ändern konnte. Kein Wunder, dass Menschen so hasserfüllt werden konnten, es interessierte sich eh keiner für sie. Das wollte man ihnen nur vorgaukeln, was für eine miese Verarschung! Wieder fiel Trisha der Film ein. Sollte sie sich dem Feind stellen und es riskieren eine unangenehme Überraschung zu erleben? Oder sich lieber in der hintersten Ecke vor der Konfrontation verkriechen, der sie sich sowieso eines Tages stellen musste, wenn sie nicht ihr Leben als Weggucker oder Jasager verbringen wollte?
Lange zögerte Trisha nicht. Kühnen Schrittes ging sie auf den Polizeibeamten zu und starrte ihn provokant an. "Was ist?" fragte dieser sie genervt. "Gar nichts!" antwortete Trisha ihm patzig und spuckte ihm vor die Füße, wobei sie nur knapp seine Schuhe verfehlte. "Komm, verschwinde Mädchen!" meinte der Polizist daraufhin knurrig. Zu sich selbst sagte er dann lautstark: "Jeden Tag müssen einem alle auf den Nerven herumtrampeln. Vormittags die Penner und alten Querulanten, mittags die Taschendiebe und Raubtäter und abends die aufmüpfigen Kiddies. Also nein!" Trisha ging wieder zurück in Richtung Tankstelle. Triumphierend sah der Polizist sich nach den Leuten um, die als Letztes noch den Supermarkt verließen. Er hatte ein Heldentat für die Menschheit vollbracht, er hatte ein rebellisches Kind zurechtgewiesen, dass daraufhin sehr bald ein angepasster und eingeschüchterter Bürger werden würde. Doch da kannte er Trisha schlecht. Gerade als der Polizist sich wieder seiner Zigarette widmen wollte, drehte sich Trisha plötzlich noch einmal um und schrie so laut, dass den Leuten beinahe die Einkaufstaschen aus den Händen glitten: "Wissen sie, warum Leute wirklich Banken und Geschäfte überfallen?" Die verdutzten Passanten bekamen kein Wort heraus, während dem erschrockenen Polizisten die Zigarette aus dem Mund fiel. "Nein?!" keifte Trisha erneut, wartete diesmal aber keine Antwort mehr ab. "Nicht nur allein wegen euerm blöden Geld! Ihr Erwachsenen tragt zwar heute alle keine Kostüme, aber nur aus dem Grund, weil ihr sowieso schon Vampire seid. Ihr saugt Schwächere und Ärmere aus, um Kraft zu bekommen und glücklich fühlt ihr euch nur, wenn diese Welt dunkel ist. Am Tag seid ihr wandelnde Untote, die zur Arbeit kriechen und auf brav machen. Doch nachts lasst ihr die Sau raus! Da kommt ihr betrunken nach Hause und verprügelt eure Kinder oder bezahlt Frauen für Dinge, die ihr daheim niemals bekommen würdet, ganz einfach, weil sie viel zu widerlich sind. Und das nur, um zu überspielen, wie verletzlich und jämmerlich ihr in Wirklichkeit seid. Also erzählt mir bitte nicht, dass ein Bankräuber ein Ungeheuer ist!" Es trat ein, was Trisha als Allerletztes erwartet hätte. Die Leute und der Polizist schwiegen beschämt, keiner von ihnen wehrte sich gegen ihre harten Vorwürfe. Auch als sie sich wieder umdrehte und ging, gab es keinen Einspruch. Trisha blieb auf ihrem Heimweg nun nicht mehr stehen und sah sich auch nicht mehr um. Aber sie war sich todsicher, die Leute standen noch immer da wie angewurzelt.
Als sie zurück nach Hause kam, erwähnte sie mit keinem Wort, was los gewesen war. Marco saß mit seinen Kumpels Jeffrey und Chris auf der Couch und sah mit ihnen denselben Film, wie mit Trisha am Nachmittag zuvor. Obwohl sie nichts sagte und sich auch nicht anders bemerkbar gemacht hatte, drehte sich Marco plötzlich nach ihr um und lächelte. "Ich hoffe "From Dusk Till Dawn" war gestern nicht zu hart für dich." Trisha, die noch in der Tür stand, lächelte zurück. "Ich werde den Rest meines Lebens deswegen Alpträume haben!" Dann setzte sie sich zu den Jungs und sah sich den Film zum zweiten Mal mit an. Zufrieden blickte sie auf ihren älteren Bruder, der nun wieder gebannt auf den Bildschirm sah. Es war schon in Ordnung so.



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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