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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Anbruch eines neuen Tages

© Anja Ollmert


Es war wie jeden Morgen.
Das schrille Klingeln des Weckers entlockte ihr ein entnervtes Aufstöhnen und um ihm Einhalt zu gebieten, machte sie sich nicht einmal die Mühe, die Augen zu öffnen. Sekundenlang schwebte ihre Faust über dem Aus-Schalter, um dann mit voller Wucht darauf niederzusausen und dem ohrenbetäubenden Alarm den Garaus zu machen.
Wie stets folgte diese urplötzliche Stille, die sie fast noch weniger ertrug.
Obwohl sie die Antwort schon kannte, fuhr ihre Hand vorsichtig tastend über die Decke und bestätigte ihr den leeren Platz an ihrer Seite.
Sie schluckte schwer an dem Kloß in ihrem Hals und schwang dann endlich beide Beine aus dem Bett, wo sie am Boden nach ihren Schlappen angelte, bevor sie sich ganz aufrichtete.
Welcher Tag war heute eigentlich? Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und schüttelte sich kurz, wie ein nasser Welpe. Es musste wohl Freitag sein. Die Erinnerung daran kam mit den Szenen des gestrigen Fernsehprogramms zu ihr zurück. So wie sich alle ihre Tage gleich abspielten, diente auch diese Form der Erinnerung ihrer Orientierung - schließlich sah sie sich abends den üblichen Serienquatsch an, seit sich nur selten etwas anderes ergab, das sie unternehmen konnte. Eine Zeit lang nach seinem unerwarteten Abgang hatte man sie noch eingeladen, aber selbst dort, wo eine allein stehende Frau nicht als Gefahr für die funktionierenden Beziehungen galt, fand sie immer öfter eine Ausrede, um dem mitleidigen Getue auf den Parties zu entkommen.
Nun galt sie bei den früheren Freunden wahrscheinlich als Sonderling.
Neue Bekanntschaften zu schließen fiel ihr schwer. Sie war auch schon vorher eher zurückhaltend gewesen - heute glaubte sie, man müsse ihr ansehen, dass sie allein zurückgelassen worden war.
Sie versuchte, ihre Gedanken abzuschütteln und riss mit Wucht die Schlafzimmervorhänge auf, als könnte sie mit dieser Bewegung auch ihren Gedankenvorhang zerreißen.
Was vor dem Fenster zum Vorschein kam verstärkte ihre schlechte Stimmung - es regnete Bindfäden.
Auf dem Weg ins Bad öffnete sie die Knöpfe ihres Nachthemdes und ließ es schon vor der Türschwelle zu Boden gleiten. So war sie bereits nackt, als sie vor den großen Spiegel trat.
Ihr Urteil war vernichtend: Zu dicker Hintern, zu kurze Beine. Die Liste der eigenen Unzulänglichkeiten war ellenlang. Sie drehte das heiße Wasser der Dusche auf und trat in die Kabine. Das Wasser umfloss ihren Körper und sie genoss die warmen Streicheleinheiten, die mit ihm kamen, während sie Haut und Haare mit den letzten Tropfen des luxuriösen Duschgels einseifte, dass ihr noch vom letzten Weihnachtsfest - mit einer dicken Schleife verpackt - in Erinnerung war. So konnte sie sich auf einen langen Tag im Büro einstimmen. Nichts schien ihr augenblicklich so wichtig, wie ein ausgiebiges Duschbad. Es half ihr den letzten Schlaf zu vertreiben und bewahrte ihr einen Rest Körpergefühl, das sie vor dem Badezimmerspiegel so vermisste.
Energisch drehte sie den Wasserhahn zu - sie konnte schließlich nicht ewig hier stehen bleiben - und wickelte sich in das Badetuch.
So lief sie in die Küche, um den Kaffee anzustellen. Sie war bereits angezogen, als der aromatische Kaffeeduft die Schlafzimmertür erreichte.
Es blieb bewusst nie viel Zeit für ein ausgiebiges Frühstück, denn allein empfand sie daran kein Vergnügen. Und so kaute sie noch an dem letzten Bissen, den sie schnell hinunterschluckte, um den Morgengruß des vorbeieilenden Nachbarjungen zu erwidern, während sie die Wohnungstür ins Schloss zog. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal, mit einem gespielten Elan, den sie nicht empfand und riss mit Schwung die Haustür auf.
Sie übersah den Mann völlig, der plötzlich wie aus dem Erdboden gewachsen vor ihr aufzutauchen schien und ehe sie noch wirklich ihren Lauf bremsen konnte, prallten ihre Körper heftig gegeneinander, so dass
sich beide im Nu auf dem Straßenpflaster sitzend wieder fanden.
Schmerzend rieb sie sich mit einer Hand die linke Schulter und mit der anderen die Kehrseite, die so unangenehme Bekanntschaft mit dem Boden gemacht hatte.
Eine unfreundliche Bemerkung lag ihr schon auf der Zunge, als ihr Gegenüber mit zerknirschtem Gesicht gestand: "Verzeihung! Ich habe Sie nicht kommen sehen. Ich war so in Gedanken versunken."
Vor lauter Verblüffung antwortete sie nicht und bevor sie sich aufgerappelt hatte, stand er schon neben ihr und streckte seine Hand zur Hilfe aus. Nur zögernd griff sie zu und die zupackende Berührung traf sie wie ein Blitzschlag.
Und als sie sich so gegenüberstanden murmelte sie: " Kein Problem! Sonst stehe ich mir immer nur selbst im Weg. Nett, dass es heute mal jemand anderen trifft."
Er grinste und wies mit einer Handbewegung die Straße hinauf: " Also, der Weg ist jetzt frei - falls Sie ihn noch fortsetzen wollen."
"Was sollte ich sonst tun? Der Gang ins Büro wird mir wohl nicht erspart bleiben, auch wenn ich nicht mehr pünktlich ankomme", dabei sah sie schulterzuckend auf ihre Armbanduhr. Eigentlich hätte sie nun ihren schnellen Gang wieder aufnehmen können, aber irgendetwas hielt sie zurück.
"Kommen Sie sonst nie zu spät?", fragte er spitzbübisch.
"Ist eigentlich nicht meine Art", erwiderte sie, aber ihr Tonfall ließ ahnen, dass sie es weniger eilig hatte als je zuvor. Lieber wollte sie noch mit ihm reden, bevor er wie eine Seifenblase davon schwebte, um hoch in der Luft mit einem leisen "Plopp" zu zerplatzen. Er zückte ein Mobiltelefon und hielt es ihr auffordernd hin: "Ein Anruf bei Ihren Kollegen genügt und wir könnten unseren kleinen Zusammenstoß noch mit einem Kaffee begießen. Vorausgesetzt, es stört Sie nicht, dass Ihre Nylonstrümpfe ein wenig ramponiert sind", schloss er grinsend und wies mit ausgestrecktem Finger auf ihr rechtes Knie, das schmutzig durch ein großes Loch in ihrer Strumpfhose schimmerte.
Sie sah an sich hinunter und entdeckte an ihrer Kleidung noch einige Stellen, die den Sturz nicht unbeschadet überstanden hatten.
"Wollen Sie sich wirklich so mit mir sehen lassen?", staunte sie.
"Ich kann mir kaum etwas Netteres vorstellen", zwinkerte er ihr aufmunternd zu. "Los, erobern wir das Café an der Ecke und Sie rufen von dort an, dass es noch etwas dauern kann, bis Sie kommen."
Er war so herzerfrischend unkompliziert, dass sie nicht ablehnen konnte. Selbst wenn ihre Körperzellen nicht bei jeder seiner Berührungen Karussell gefahren wären, hätte sie das Angebot nicht ausgeschlagen.
Er hakte sie energisch unter und zog sie mit sich, so als wäre er heute nur aus diesem Grund an ihrer Haustür vorbeigekommen.
Der Regen war Schuld, dass im Café kaum noch ein Tisch unbesetzt war und sie quetschten sich in eine Ecke, die andere Gäste - wegen ihrer Enge - zuvor wohl gemieden hatten. So saßen sie einander an dem kleinen runden Tisch zugewandt und der Zauber, der beide ergriffen hatte, umhüllte sie fast sichtbar. Als die Kellnerin sich zu ihnen durchgekämpft hatte, gab er die Bestellung auf, ohne aufzusehen. Sie vergaß völlig, dass eigentlich noch die Entschuldigung im Büro fällig gewesen wäre.
Es war, als würden die beiden sich schon seit Ewigkeiten kennen und trotzdem gab es noch Unzähliges, das erzählt werden musste.
So vergingen zahllose Stunden, und schon längst traute sich die Bedienung gar nicht mehr, das seltsame Paar zu stören.
Als sie das nächste Mal auf die Uhr sah, hatte der Zeiger die Mittagszeit längst überschritten. Sie erschrak und sagte: "Ich glaube, ich kann nicht länger bleiben! Ich weiß gar nicht, was mein Chef sagen wird."
"Lass uns gemeinsam zu deinem Arbeitsplatz gehen und du sagst ihm, du
hättest heute den wichtigsten Zusammenstoß deines Lebens gehabt. Es gäbe da noch einiges zu klären, was die Folgen des Unfalls betrifft!", antwortete er mit glücklichem Lachen.
"Ja!", sagte sie schlicht. Und in vorrausahnenden Gedanken strich ihre Hand über eine imaginäre Bettdecke und fühlte die Wärme des darunter liegenden Körpers. Und als sie Arm in Arm draußen an den spiegelnden Schaufensterscheiben vorbeigingen, sah sie nicht auf die Auslagen darin, sondern auf die hübsche, junge Frau, die ihr aus dem Spiegelbild glücklich entgegenlächelte.



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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