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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Tür zur Hoffnung

© Petra Volkert


Gerda Böhringer seufzte leise. Ihr Bein schmerzte heute wieder einmal besonders, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als den Stock zu nehmen und sich darauf zu stützen. Gerda mied den Stock am liebsten, und in der Wohnung war das auch kein großes Problem. Doch wenn sie die Wohnung verlassen wollte, blieb ihr an Tagen wie diesem keine andere Wahl. Ohne Stock hätte sie nur wenige Meter gehen können.
Gerda seufzte noch einmal und überlegte, was sie heute zum Mittagessen anrichten sollte. Es war der 63-Jährigen sehr wichtig, ihre Mahlzeiten regelmäßig einzunehmen, auch wenn ihr das nicht wirklich etwas bedeutete.
Immer alleine am Tisch zu sitzen, war nicht leicht. "Ich sollte an dem Platz gegenüber einen Spiegel aufstellen", dachte sie mit leiser Ironie. Doch vermutlich würde es ihr keinen besonderen Spaß machen, in ihr eigenes Gesicht zu schauen und darin nach Spuren von Zuneigung zu suchen. Noch immer hatte sie Mühe mit dem Alleinsein, obwohl ihr Mann bereits acht Jahre tot war.
Nein, an dem Tisch in der kleinen Wohnküche wollte sie heute nicht sitzen.
Das Stehen fiel ihr sowieso schwer, und sie hatte keine Lust, sich ihr kleines Mahl selber zuzubereiten. Das war durchaus nicht ungewöhnlich. An solchen Tagen suchte Gerda eines der preiswerten Restaurants auf, die es in dieser Stadt zur Genüge gab. Für wenig Geld wurde dort ein komplettes Menü als Tagesgericht angeboten. Allerdings herrschte so kurz vor Monatsende auch in Gerdas Börse eine leichte Schwindsucht. Die Rente, die sie bezog, reichte für nicht viel mehr als das Notwendige.
Trotzdem. Gerda richtete sich entschlossen auf. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihr brauner Rock mit der beige gemusterten Bluse sah ordentlich aus. Sie zog die passende Strickweste über und schlüpfte in den Mantel. Auch wenn draußen die Sonne schien, wiesen die Temperaturen doch darauf hin, dass der Frühling noch keinen Einzug gehalten hatte. Missmutig betrachtete Gerda noch einmal ihren Stock. Aber es half wohl nichts: Heute kam sie ohne ihn nicht aus.
Dem kleinen Billigrestaurant eines Kaufhauses, das Gerda bald darauf betrat, haftete ein Hauch von Einsamkeit an. Die gelbbräunlich gestrichenen Wände wirkten ein wenig schmuddelig. Einige künstliche Blumen auf den Tischen versuchten vergeblich, dem Raum eine freundlichere Atmosphäre zu geben.
Die meisten Besucher saßen alleine an ihrem Tisch. Überwiegend waren es Männer, deren Glas Bier nie leer zu werden schien. Hätten sie sich dann doch ein neues Glas bestellen oder das Restaurant verlassen müssen. Doch für die meisten hätte es nur eine Veränderung des Raumes bedeutet. Die Einsamkeit hätten sie auch in ihre vier Wände mitgenommen. Da war es bedeutet besser, hier sitzen zu bleiben und die Augen über die anderen Anwesenden wandern zu lassen und darüber nachzusinnen, wie es dem einen oder anderen wohl ergehen mochte.
Die Schicksale der Menschen hier schienen sich zu ähneln. Einfach, manchmal sogar ärmlich gekleidet, strahlten die anderen Gäste des kleinen Restaurants die gleiche Einsamkeit aus wie der Raum. Oder waren sie selber es, die ihm dieses Gefühl der Leere gaben? War es ein Ineinander-Aufgehen von Raum und Menschen, dass den Besuchern das Gefühl vermittelte, auf einem anderen Planeten zu sitzen, weit entfernt vom brausenden Leben? Die anderen zum Greifen nah und doch Lichtjahre entfernt? Da spielte es auch keine Rolle, dass an einem Tisch ein älterer Mann mit etwas längerem Haar saß.
Ununterbrochen redete er auf die noch junge Frau ein, die den Stuhl im gegenüber eingenommen hatte und gelegentlich ihre Tasse zum Munde führte, auch wenn diese längst leer geworden war. Die Worte, die wie das beständige Murmeln eines Baches an die Ohren der anderen Besucher klangen, schienen damit auch zugleich verklungen zu sein. Unwesentlich, ohne einen Eindruck zu wecken, was offensichtlich auch für die junge Frau galt.
Gerda kannte diese eigentümliche Atmosphäre gut. Sie kam häufiger hierher, und manch einer der Besucher war ihr vertraut geworden. Nachdem sie ihren Blick über die kleine Runde hatte schweifen lassen, ging sie, fest auf ihren Stock gestützt, zur Theke. Sie bestellte sich ein kleines Schnitzel, dazu einige Kartoffeln, etwas Soße, lehnte das Gemüse jedoch ab. Sie schob ihr Tablett mit dem Teller auf der Ablage vor sich her bis zur Kasse, so dass sie es nicht tragen musste. Der Weg von der Kasse bis zum Tisch war weit genug für sie.
Während des Essens konzentrierte sich Gerda auf ihren Teller. Nicht, dass es besonders gut geschmeckt hätte. Aber man konnte satt davon werden. Dann ließ die Frau ihre Augen durch den Raum gleiten, bis sie wieder einmal mit denen Berthold Schreibers zusammen trafen. Er war ihr nicht unbekannt, denn auch sein Weg führte ihn häufiger in diesen trostlosen Raum. Er saß, wie die anderen Männer auch, vor einem Glas Bier. Berthold mochte ein wenig älter sein als Gerda. Er war ein wenig rundlich. Sein schütteres Haar hatte er nach hinten gekämmt. Unter dem gestreiften Pullover trug er wie immer ein weißes Oberhemd. In seinen braunen Augen sah Gerda - wie schon manches Mal zuvor - eine Spur Wärme, eine Art Verstehen, die sie merkwürdig anrührte.
Nie hatte sie darauf reagiert, obwohl dieser Blick sie wohlig berührte. Es war, als schüfe er eine Vertrautheit, eine Gemeinsamkeit, die in krassem Widerspruch zu der Einsamkeit des Raumes stand.
Doch heute zögerte sie, aufzustehen. Ein verlorenes Lächeln glitt über ihr Gesicht. Da war es, als öffne dieses Lächeln eine Tür, eine unbekannte Pforte, die in eine unbekannte Zukunft führte. Eine Tür, die aus der Einsamkeit herausführen konnte?
In diesem Augenblick erhob sich Berthold und tat die wenigen Schritte zu ihrem Tisch hin. "Guten Tag", sagte er leise. "Hat es Ihnen geschmeckt?"
"Ja, es ging", erwiderte Gerda. "Ich muss halt beim Essen vorsichtig sein, mein Magen, wissen Sie ..."
"Ja, ich verstehe es", sagte Berthold, und es klang verständnisvoll, aufrichtig, ehrlich. Es waren nicht nur leere Worte. "Darf ich Sie noch zu einem Kaffee einladen?" Gerda überlegte einen Augenblick. Dann stahl sich erneut das kleine, verlorene Lächeln über ihr Gesicht. "Ja, ja gerne", antwortete sie.
Berthold stand auf und ging zur Theke, um dort den Kaffee zu holen und anschließend zu zahlen. Gerdas Blicke folgten ihm. Sie fühlte sich wohlig beschützt; das Gefühl der Einsamkeit war wesenlos geworden. Sie sah nicht mehr die gelbbräunlichen Wände, die dringend einen neuen Anstrich gebraucht hätten. Sie bemerkte nicht mehr die einsamen Gestalten an den anderen Tischen. Die Worte des Mannes, der immer noch ununterbrochen redete, verhallten weiter ungehört.
Und Gerda war es auf einmal, als hätte sich ein Sonnenstrahl in diesen Raum verirrt. Sie ließ sich einfangen von dem mutmachenden Blick Bertholds. Er kam mit den beiden Tassen auf ihren Tisch zu, stellte sie dort ab, und während er sich setzte, legte er für eine winzige Sekunde seine Hand auf Gerdas Hand. Und beide wussten: Die Tür hatte sich für sie geöffnet. Sie würden in Zukunft nicht länger einsam sein.



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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