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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Zu Tisch

© Stefanie Stegmann


Sein Name war Ferdinand Futterknecht. Er sprach Polnisch, Russisch, Kroatisch, Deutsch und baute Zuckersilos in Osteuropa. Zum ersten Mal traf ich ihn im Motel Super Sechs, in einer Kleinstadt nicht weit von Reszow, Ostpolen. Ich war auf dem Weg in die Ukraine. Das Motel war in einem kleinen Gebäude untergebracht, lag etwas abseits der Durchfahrtsstraße, verfügte über weiß vertäfelte Einzel- und Doppelzimmer im Parterre, aufgeputzt mit Plastikblumen auf den kleinen Tischen unterhalb des Fernsehers. Neben dem bewachten Parkplatz lag ein Restaurant, das für 100 Leute Platz bot. Auf den Tischen standen Stoffservietten, stolz wie ein Pfau aufgefächert, bereit für ihren großen Tag. Hinter der Theke putzte die Kellnerin Gläser, aus denen nur selten jemand trank.
Ich stand an der Rezeption und wechselte zwischen Ukrainisch und Deutsch. Den Herrn in der Ecke hinter mir nahm ich nicht wahr, ich wurde erst auf ihn aufmerksam, als seine Stimme meine Wirbelsäule hinaufkletterte: "Sie sprechen Deutsch?" Ich wandte mich um und blickte in ein rundliches Gesicht, über das sich kleine rote Äderchen wie ein feines Haarnetz spannten. Über der Oberlippe wuchs ein dichter Schnurrbart, sein dicker Hals mündete in einen kompakten Körper mit kurzen Beinen und Armen, die mehr baumelten als hingen. Er lächelte. Sichtlich zu tun hatte er nichts.
Eine Stunde später saß ich Schaschlik essend mit Ferdinand Futterknecht am Tisch im Restaurant. Wir waren die einzigen Gäste. Die Kellnerin blickte von Zeit zu Zeit unsicher zu uns herüber. Ich hatte meine Frage lange hinausgezögert: "Sind Sie beruflich unterwegs?" Er antwortete: "Ja. Ich baue Zuckersilos in Osteuropa." Zuckersilos, warum nicht.
Ferdinand Futterknechts Hauptwohnsitz lag seit 12 Jahren irgendwo in Europa. Sechs Jahre Moskau, zwei Jahre Kroatien, dann Kiew, Minsk und jetzt Polen. Geboren und aufgewachsen war er in Österreich. Dort stach ein zweistöckiges Haus mit Erkern, großem Garten und Balkon in den burgenländischen Himmel. Bewohnt wurde es von seiner Tochter und ihrem Kind. Ungefähr ein Jahr lang lagern Tonnen von Zucker in den Silos, damit sie durchtrocknen. Ferdinand Futterknecht passte auf, dass der Bau voranschritt, dass die Bedingungen eingehalten wurden, dass das Lagern störungsfrei verlief. Seine Mission in Polen war fast vorbei, noch wenige Tage und er würde zu seiner Tochter nach Österreich fahren.
Seine Kaninchenaugen hefteten auf meinem Gesicht. Das Weiße in den Augen färbte sich mit dem dritten Bier rosa, rund um die Iris. Seine kurzen Finger konnten das Halbliterglas Bier kaum umfassen. Er zog die nächste Marlboro aus der Schachtel und zeigte mir seine ungepflegten Zähne, als er mich anstrahlte und mir ebenfalls eine Zigarette anbot. Zwischen den hinteren Backenzähnen saß ein Goldzahn. Mir war nicht nach Sex heute Abend.
Ich war dezent geschminkt und trug an dem Abend unauffällige, wenig körperbetonte Kleidung. Nicht ohne Grund hatte ich die Frage nach seinem Beruf hinausgezögert. Die Frage provozierte zu oft die Gegenfrage. Aber sie kam nicht. Vielleicht stand es mir auf der Stirn geschrieben, vielleicht verriet ich mich, ohne zu wissen, wie, ich wusste es nicht. Vielleicht interessierte es ihn in seiner Welt der Zuckersilos nicht. Ich umschloss mein Bierglas fest; es schwitzte. Kleine Tröpfchen siedelten sich in den Gruben meiner Fingergelenke an. Mein Mund war trocken. Die Lippen rissig. Draußen schneite es. Seit gestern fielen die Temperaturen kontinuierlich. Vereinzelt Böen, kündigte heute Nachmittag die Stimme im Radio an. Morgen war Weihnachten. Es war meine erste Reise in die Ukraine.
Meine Urgroßmutter kam aus der Bukowina, Westukraine, und beherrschte sowohl Deutsch, Ukrainisch, Russisch und Rumänisch fließend. Meine Großmutter wurde schon nicht mehr in Czernowitz, dem ehemals östlichen Vorposten der Habsburger Monarchie geboren, sondern in Cernauti, dem Czernowitz der Zwischenkriegszeit unter rumänischer Besatzung. Mit ihren beiden Töchtern jedoch sprach sie bis heute nur Deutsch. Sie waren vor langer Zeit aus finanzieller Not aus Schwaben ausgewandert, um weiter im Osten mit einem Stück geschenkten Land ein neues Leben zu versuchen. Meine Mutter wurde bereits im sowjetischen Tschernowitz der Nachkriegszeit geboren.
Mein Bruder und ich sind beide in Frankfurt geboren. Wie wir nach Deutschland gekommen sind, weiß ich bis heute nicht genau, aber 1990 siedelten wir von Frankfurt nach Berlin um. Meine Mutter bekam dort eine Stelle als Dolmetscherin. Ukrainisch und Russisch waren zu Hause in Berlin tabu. Geschichte selbst war tabu. Meine Mutter sagte, sie wolle nichts davon hören; jede Nachfrage von uns wurde mit Liebesentzug geahndet, so dass wir das Fragen irgendwann einstellten und uns damit abfanden, nun zufällig in Deutschland zu leben. Liebesentzug. Thema auch vieler Männer, die ich bediente. Etwas, was sie, mich und meine Mutter auf brutale Weise verband.
Mit 16 ging ich das erste Mal anschaffen. Von dem ersten selbst verdienten Geld kaufte ich mir eine Wärmflasche mit Tigerfellbezug. Meine Mutter war der Meinung, dass man niemals bei geschlossenen Fenstern schlafen dürfe, auch nicht bei minus 15 Grad im Berliner Winter. Natürlich hätte ich auch anders an die Wärmflasche kommen können. Ich komme weder aus einer Prostituierten- noch aus einer Drogendynastie. Mein Einstieg war ziemlich banal: Ein Junge aus der Parallelklasse ließ mich durch seinen Kumpel fragen, ob ich ihn für 20 Mark entjungfern würde. Er sei so schüchtern und wolle endlich wissen, wie das sei, Sex. Er habe nun endlich eine Freundin und Angst, als Anfänger entlarvt zu werden. Um ehrlich zu sein, ich war damals vor allem eines: neugierig. Dass ich selbst noch wenig Erfahrungen hatte, versteckte ich durch mein Aussehen, meine Kleidung, meine grobe und direkte Ansprache. Auf meine Mitschüler muss das überzeugend gewirkt haben. Ich ließ mich damals drauf ein und fand die Vorstellung, den armen Jungen für 20 Mark zu entjungfern, attraktiv. Ich schaute mir vorher noch ein paar Pornos mit meiner Freundin an, wiederholte meine Anatomiekenntnisse und dann trafen wir uns einige Tage später bei ihm in seiner Wohnung. Er wohnte nicht mehr bei seinen Eltern, sondern bereits in einer WG. Dass er um ein Vielfaches schüchterner als ich war, erleichterte es mir sehr. Ich öffnete zu Beginn nur seine Hose, erregte ihn mit meiner Hand und zog ihn erst später aus. Wir schliefen sogar noch ein zweites Mal miteinander. Er gab mir 30 Mark und ich kaufte mir die Wärmflasche und Zigaretten. Ich verschwieg die Art und Weise seiner Entjungferung und er meine Bezahlung. Abgemacht war abgemacht. Es sprach sich trotzdem herum.
Heute arbeite ich als gefragte Edelprostituierte. Nur ausgewählte Männer der deutschen Führungselite aus Politik und Wirtschaft haben meine Nummer. Ich habe mich mit ein paar meiner Kolleginnen selbständig gemacht, mit denen ich mir einen Teil des deutschsprachigen Marktes teile. Dass ich nun in die Ukraine reise, ist ein Stück weit Ironie des Schicksals, passieren doch sonst eher Ukrainerinnen illegal oder legal die Grenze, um als Billigprostituierte in Polen, oder, wenn sie weiter kommen, auch in Deutschland oder Tschechien zu arbeiten. Ich bin deutsche Prostituierte und reise in die Ukraine, um meinen Bruder zu suchen. Seit vier Wochen ist er untergetaucht.
Mein Bruder ist ein paar Jahre jünger als ich. Aus ihm ist beruflich bisher nichts rechtes geworden. Mit acht Jahren hat er aufgehört zu sprechen, bis heute. Meiner Mutter war es, glaub ich, immer noch lieber, als mit der Vorstellung zu leben, ihre Kinder würden eine slawische Sprache lernen. Vor zwei Wochen habe ich meinen letzten Kurs in Russisch abgeschlossen. In Berlin sollte es zwar kein Problem sein, auch auf der Straße Russisch zu lernen, aber ich musste die Sprache dennoch erst in der Volkshochschule lernen. Meine Mutter taxierte mich feindselig, als ich ihr vor zwei Jahren von meinem ersten Kurs erzählte. Sie legte damals ruhig die Gabel auf ihren Teller, ließ die Torte stehen und verließ das Café, in dem ich mich jeden Sonntag mit ihr traf. Ich hatte die unausgesprochene und unaussprechbare Grenze überschritten.
Morgen werde ich eine andere passieren, und zwar bei Krakovets. Eine Grenze, an der Ukrainer seit neustem ein Visum brauchen, wenn sie sich westwärts wenden. Eine Grenze, an der mein Bruder und ich ebenso ein Visum benötigen, egal, wie unsere Verwandtschaftsverhältnisse nun gelagert sind.
Der Zuckersilobauer bestellte das nächste Bier. Ich ein Wasser. Wir rauchten gemeinsam seine Zigaretten. Seine Füße hingen immer kurz über der Erde, sie reichten nicht ganz bis auf den Boden. Seine Wurstfinger spielten mit der Tischdecke. Die Kellnerin zapfte das Bier und putzte weiter Gläser, während sich langsam eine Schaumkrone im Glas bildete. Unsere Teller waren längst abgeräumt. Draußen hatte es aufgehört zu schneien. Im Restaurant lief keine Musik. In der Küche wurde das Licht gelöscht. Jemand hustete.
Ich dachte an meinen Bruder. Er war acht Jahre alt, als das Ungeheuerliche geschah. Es klingelte damals an unserer Haustür. Nicht bedrohlich, nicht schrill, nicht hektisch. Es klingelte ganz gewöhnlich, ruhig und unaufdringlich. Meine Mutter öffnete. Zwei Männer, dessen Sprache ich damals nicht verstand, drangen in die Wohnung. Sie warfen sie auf den Boden, packten sie an den Schultern. Man trat ihr ins Gesicht, zerriss ihre Kleidung und band sie auf dem Küchenstuhl fest. Mein Bruder saß am Küchentisch und rührte sich nicht. Er rührte sich auch nicht, als der zweite Mann seine Hose öffnete, den Kopf meiner Mutter packte und ihren Mund über sein erigiertes Glied schob, so lange, bis er sich in ihr entleert hatte. Mein Bruder sah, wie ein weißlicher Faden aus dem Mundwinkel meiner Mutter rann. Ich hockte steif auf der Toilette nebenan, traute mich kaum zu atmen, dort hinter der Tür. Durch den Spalt in der Tür beobachtete ich alles und verstand nichts.
Vor vier Wochen bekamen wir die neue Wohnzimmerschrankwand und mein Bruder stieß beim Ausräumen der Schubladen auf die Plakette. Er ging zu meiner Mutter mit der Bitte, die kyrillischen Buchstaben auf der Medaille zu übersetzen. Meine Mutter schlug ihm ins Gesicht, riss ihm die Medaille aus der Hand und schwieg. Mein Bruder schrie, wie Stumme schreien. Er schrie mit aufgerissenem Mund und kugelnden Augen, er schrie in hohen fiependen Tönen, den Lauten der Delphine ähnlich.
Ich wusste, dass er gehen würde. Er besorgte sich ein Visum und fuhr eine Woche später mit dem Zug nach Lemberg. Von dort rief er mich an und teilte mir wie immer über Klopfzeichen auf dem Hörer mit, dass er unseren Vater suchen werde. Er wird weiter nach Czernowitz gefahren sein, darüber war ich mir im Klaren. Unser Vater war auch dort geboren, soviel wissen wir. Ich machte mir Sorgen um ihn. Er konnte weder Russisch noch Ukrainisch lesen und schreiben und hatte lediglich die Kontaktadresse einer entfernten Verwandten aus Lemberg.
Ich bin auf der Suche nach meinem stummen Bruder. Was er von meinem Vater will? Ich weiß es nicht. Ob er einer der Männer von damals war? Ich glaube nicht. Es ist mir auch egal mittlerweile. Ich will nur nicht noch einmal auf der Kloschüssel nebenan sitzen. All das erzählte ich Ferdinand Futterknecht, nachdem er mich bei der vorletzten Zigarette aus seiner Schachtel plötzlich unvermittelt fragte, wie ich eigentlich zur Prostitution gekommen sei. Ich hatte es geahnt, dass wir uns kannten. Ich war noch jung im Geschäft, als ich ihn in Berlin auf einer seiner Durchreisen getroffen haben muss. Er war mit einem Wirtschaftsmagnaten befreundet, den ich regelmäßig bediente und der ihn damals mitbrachte. Ich hätte ihn nicht mehr erkannt.
Wir saßen bis tief in die Nacht an dem Tisch am Fenster im Motel Super Sechs, Ostpolen. Die Böen draußen nahmen zu. Der Wind drückte in unregelmäßigen Abständen gegen das Fenster. Die Kellnerin getraute sich nicht, uns hinauszuwerfen. Ihr Kopf lag in ihren verschränkten Armen auf der Theke. Das Handtuch hing noch immer in ihrer rechten Hand. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, dass ich damals, nachts in Berlin, die wenigen Dinge, die ich über meine Familie wusste, Ferdinand Futterknecht erzählte. Ich wusste nicht, dass seine Vorfahren aus Rumänien, Radautzi, kamen, nicht weit von Czernowitz entfernt. Und ich wusste nicht, dass er damals der Sache nachging. Er hatte vor ein paar Jahren versucht, herauszufinden, wo ich lebe, um mir meine Geschichte zurückzugeben, gab es aber nach einer Weile auf. Wir gingen auf sein Zimmer und er begann sie mir zu erzählen, Stück für Stück.



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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