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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Heimkehr vom Jagdausflug
© Stefan Falke
Der schwere Lederstiefel quetschte die zarten grünen Triebe des Mooses in die nasskalte Erde. Das ganze Gewicht des Mannes verlagerte sich auf seine Zehenspitzen. Er hob das andere Bein und machte einen vorsichtigen Schritt. Die kleinen Triebe des Mooses schnellten in die Luft und streckten sich wieder der kalten Sonne entgegen. Bei jedem Schritt machte die braune Wildlederhose ein kratzendes Geräusch. Langsam schlich er in gebückter Haltung seinem Ziel entgegen. Die glasig blauen Augen mit den erweiterten Pupillen
steckten wie Pfeile in seinem Opfer. Der rechte Zeigefinger lag konzentriert auf dem Abzug einer Pirschbüchse, während die linke Hand den Lauf auf das Opfer zielte. Lautlos schlich der Mann über den Moosboden. Seine Schritte wurden abgefederte wie von einem weichen Kissen. Der muskulöse Körper war hochkonzentriert. Ein leichter Wind strich über die vernarbte Wangenhaut, dann verfing er sich in dem dünnen, kinnlangen Haaren, befreite sich wieder und stieg hoch in die nebelverhangenen Baumspitzen.
Schritt für Schritt näherte sich der Mann seinem Opfer. Dann hielt er inne. Mit einer einzigen flüssigen Bewegung hob er die Büchse an seine Wange. Er brachte Kimme und Korn über sein Opfer. Sein Atem ging konzentriert langsam. Noch einmal holte er Luft. Vorsichtig korrigierte er seine Haltung. Er atmete langsam aus. Dabei presste sich sein Zeigefinger gegen das Metall. Ein lautes Krachen zerriss die Stille der Taiga.
Ohne noch ein Winseln von sich geben zu können, brach der Kojote zusammen. Der Körper des Mannes entspannte sich nur langsam. Er ging zu dem leblosen Körper. Das arme Tier hatte sich in einer Schlinge verfangen, die für Biber gedacht war. Der Mann zog ein Messer aus seinem Gürtel und schnitt die Schlinge durch. Er schob den Kojoten beiseite und baute die Falle erneut auf. Dann packte er das Tier an den Pfoten und trug es zu seinem Lager.
Als er dort ankam wartete bereits sein Sohn auf ihn.
"War ein Biber in der Falle?", fragte dieser.
"Nein, John. Nur dieser Kojote", sagte der Mann. Er warf das tote Tier in den Schatten. Vielleicht würde er es mitnehmen, das wusste er noch nicht.
"Das Essen ist gerade fertig", sagte der Sohn und zog einen schweren Topf aus dem Feuer.
Der Mann setzte sich auf eine Lederdecke und fing an sein Gewehr zu säubern und nachzuladen.
"Das kann ich doch machen", rief John schnell, als er bemerkte, was sein Vater tun wollte, dabei glänzten seine Augen erwartungsvoll.
"Du machst das seit 4 Wochen jeden Tag. Und du machst das wirklich gut. Ich will es auch mal wieder machen, sonst verlerne ich es noch", grinste der Vater.
Enttäuschung machte sich auf dem Gesicht des Jungen breit. Doch sie hielt nicht lange vor. Er kramte aus den Rucksäcken das Geschirr hervor und schöpfte großzügig Fleischbrühe auf die Teller.
"Morgen sind wir wieder daheim", murmelte der Vater. Er legte seine Büchse beiseite und aß genussvoll.
"Ja. Irgendwie traurig, aber irgendwie freue ich mich auch. Mutter hat mir gefehlt.", sagte John zwischen zwei Bissen.
Schweigend aßen sie weiter. Ab und zu warfen sie sich Blicke zu und der Vater blinzelte seinem Sohn zu.
Nach dem Essen spülte John das Geschirr mit etwas Wasser aus und verstaute es dann wieder in den Rucksäcken.
Die Sonne war bereits untergegangen und die ersten Sterne funkelten zwischen den Baumwipfeln durch. Der Vater ließ sich auf die Decke sinken. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sein Blick strich über die Tannenzweige hoch über ihm und über den dunkelblauen Himmel. Wie sehr liebte er es hier draußen in freier Natur zu sein.
John schlich derweil um das Lager herum. Er suchte nach der Pirschbüchse. Schließlich fand er sie und kontrollierte die Arbeit seines Vater. Doch dieser hatte sie sehr gründlich geputzt und bereits wieder nachgeladen. Der Sohn hielt die schwere Waffe in beiden Händen. Er legte sie an die Schulter und zielte auf imaginäre Ziele.
"Bämm!", machte und tat so als hätte er geschossen. Er visierte ein neues Ziel an und schoss wieder: "Bämm!". Dann nahm er die Waffe herunter und lud sie scheinbar nach. Er füllte das Schießpulver nach und legte zwei Kugeln in den Lauf. Mit einer ruckartigen Bewegung verschloss er die Waffe. Der Lauf rastete mit einem lauten Klicken ein. Blitzschnell legte er die Waffe wieder an und feuerte zwei weitere Schüsse ab.
Der Vater lachte.
"Ja, mein Sohn, eines Tages hast du dein eigenes Gewehr und dann darfst du auf die Jagd gehen."
John ließ die Waffe sinken.
"Ja, eines Tages...", sagte er und sein Blick wanderte in weite Ferne.
"Aber das Töten ist kein Spaß", sagte der Vater ernst.
Doch John war in Gedanken und hörte die Worte seines Vaters nicht.
Schließlich riss er sich von seiner Traumjagd los. Er legte die Büchse neben seinen Vater und setzte sich auf seine Lederdecke. Er sammelte einige umherliegende Sachen ein und verstaute sie in seinem Rucksack. Dann legte auch er sich hin. Eine Weile lagen sie da und schauten in den Himmel. Immer mehr Sterne kamen jetzt hervor. Das weiße Band der Milchstraße spannte sich quer über den Himmel. In der Ferne hörten sie einen Kojoten jaulen. Schließlich machten sie ihr Nachtlager fertig und legten sich schlafen.
Bereits mit den ersten Sonnenstrahlen wachte John auf. Er blinzelte mit müden Augen. Der Duft des morgendlichen Waldes stieg ihm in die Nase und er war sofort hellwach. Leichter Tau hatte sich auf die Sträucher gelegt. In ihm brach sich das Sonnenlicht und schillerte in allen Farben.
John krabbelte aus seinem Schlafsack. Er streckte sich und gähnte. Sein Blick wanderte durch den morgendlichen Wald und fiel schließlich auf seinen Vater.. Dieser lag noch in seinem Schlafsack, hatte aber bereits die Augen geöffnet.
"Guten Morgen, Vater. Schnell steh auf. Unser letzter Tag in Freiheit. Ab morgen müssen wir uns wieder von Mutti herumkommandieren lassen", grinste er.
"Wohl war." Sein Vater lachte laut. Er schlug die Decke zurück und stellte sich neben seinen Sohn. Gemeinsam ließen sie ihren Blick durch den Wald ziehen.
"Das ist herrlich, nicht wahr?", sagte der Vater und deutete mit der Hand durch den Wald. "Nie könnte ich mir vorstellen ohne dies zu leben." Tief sog er die Luft ein.
"Ich auch nicht.", sagte John und sog ebenfalls tief die frische, nach feuchter Erde duftende, Luft ein.
So standen sie eine Weile und genossen diesen letzten Moment.
Dann klopfte der Vater seinem Sohn auf die Schulter.
"Gehen wir", sagte er und drehte sich um.
Gemeinsam verstauten sie ihre Sachen in den Rucksäcken. Noch einmal prüften sie ihren Lagerplatz, ob sie auch nichts vergessen hatten. Der Vater warf noch einen letzten Blick auf den toten Kojoten, der in einiger Entfernung lag. Er entschied sich dagegen ihn mitzunehmen, sie hatten auf ihrem Ausflug genug Felle gesammelt. Sollten sich die Waldbewohner um den Leichnam kümmern.
Seit 4 Wochen waren sie gemeinsam in den Wäldern unterwegs gewesen. Der Vater war ein leidenschaftlicher Fallensteller und Jäger. Seit kurzem nahm er seinen Sohn regelmäßig auf seine Jagdausflüge mit. John bewunderte seinen Vater und hatte ihm lange Zeit sehnsüchtig hinterher gesehen, wenn dieser auf die Jagd ging. Bis er schließlich eines Tages mit durfte. Beide genossen diese Ausflüge in freier, wilder Natur. Der Vater stellte Schlingfallen auf, um darin Biber zu fangen, deren Felle er verkaufte. Die Jagdausflüge
waren nicht sonderlich gefährlich. Wenn sich nicht gerade ein Kojote in eine Falle verirrte, hörten sie diese scheuen Tiere nur in weiter Ferne jaulen. Zwar gab es in dieser Gegend Bären, aber auch diese waren scheu und liefen davon, bevor sie sie auch nur zu Gesicht bekamen. Wären die Jagdausflüge gefährlicher gewesen hätte die Mutter nie erlaubt, dass ihr gerade 10jähriger Sohn mitgehen durfte. Und auch der Vater wäre nie bewusst auf die Idee gekommen seinen Sohn einer Gefahr auszusetzen.
Sie folgten einem Wildwechsel. Nach einiger Zeit verließen sie den Wald und kamen auf eine endlose moosige Wiese, die sich von Horizont zu Horizont spannte und sich in sanften Wogen an das Kalksteingebirge anschmiegte. Der Vater ging voran und John trottete hinterher. Dabei ließ er seinen Blick über die weite Landschaft schweifen. An manchen Stellen brach der nackte Fels hervor. Alt und mächtig wirkte seine scharfkantige, spitze Form. Sie überquerten gerade einen Hügel, als der Vater plötzlich stehen blieb. John
konnte noch im letzten Moment ausweichen, bevor sie zusammenstießen.
"Was ist los? Warum bleibst du stehen?", fragte er.
Der Vater kniete sich nieder und starrte aufmerksam auf den Boden. Seine Hand berührte leicht den Boden, als zeichne sie einen Umriss nach. John kniete sich ebenfalls nieder und versuchte zu erkennen, was sein Vater sah. Plötzlich wurde es ihm bewusst. Die Hand seines Vaters zeichnete einen riesigen Pfotenabdruck nach. Der Abdruck war fast doppelt so groß wie die Hand seines Vaters.
"Weißt du was das ist?", fragte der Vater und betrachtete den Abdruck ehrfurchtsvoll.
John überlegte. Für einen Biber oder Kojoten war der Abdruck viel zu groß. Dann fiel es ihm plötzlich ein.
"Ist das...", begann er aufgeregt, "ist das ein Bär?"
Der Vater nickte. "Ja. Und wohl der Größte überhaupt."
Beide sahen sich um. War der Bär vielleicht noch in der Nähe? Doch sie konnten ihn nirgends sehen.
"Der Abdruck scheint frisch zu sein", vermutete der Vater.
"Was ist wenn wir ihm begegnen?", fragte John.
"Nun, hoffen wir dass er satt ist", scherzte sein Vater. John lächelte gequält. Zwar hatte er gehofft eines Tages mal einem Bären zu begegnen, aber nun, wo es tatsächlich passieren könnte, war er nicht mehr so mutig.
"Lass uns weitergehen", sagte der Vater, "Der Bär ist bestimmt schon weit weg."
Sie gingen weiter, hielten aber beide die Augen offen. Sie suchten die weite Landschaft ab. Dann senkten sie den Blick und hielten nach Fußspuren Ausschau. Lange Zeit gingen sie weiter und entdeckten keine Spur des Bären.
"Was schätzt du, was für ein Bär das war?", fragte John.
"Ich tippe auf einen Grizzly. Schwarzbären werden nicht so groß."
Ihr Weg führte sie wieder über einen kleinen Hügel. Als sie oben ankamen ließen sie ihren Blick schweifen. Dann entdeckte der Vater plötzlich etwas.
"Da!", sagte er und zeigte auf den gegenüberliegenden Hügel.
John suchte den Hügel ab. Er wusste nicht was sein Vater gesehen hat. Doch dann entdeckte auch er es.
Auf dem gegenüberliegenden Hügel befand sich ein riesiges Gebüsch. An dessen linkem Ende befand sich ein kleiner Birkenbaum. Inmitten des Gebüschs saß ein großer, brauner Bär. Er saß auf seinen Hinterpfoten und knabberte genüsslich die Beeren aus dem Strauch.
Der Vater kontrollierte den Wind. Er kam von Norden, aus der Richtung des Bären. Dieser konnte ihre Witterung somit nicht aufnehmen.
"Das ist genau unsere Richtung", sagte der Vater, "Hoffen wir, dass er schnell verschwindet, sobald er satt ist. Doch bis dahin können wir nur warten."
Der Vater nahm seinen Rucksack von den Schultern und setzte sich auf die moosige Wiese. Sein Sohn tat es ihm nach.
"Dann essen wir auch eine Kleinigkeit", sagte John und suchte in seinem Rucksack nach Trockenfleisch. Er reichte seinem Vater ein Stück und schnitt sich selbst auch ein großes Stück ab. Sie kauten genüsslich und beobachteten den Bären.
"So groß sieht er gar nicht aus", kaute der Sohn.
"Das wirkt nur so. Er ist noch ein ganzes Stück weit weg. Warte mal, wenn er vor dir steht.", grinste der Vater.
Lieber nicht, dachte John.
Der Bär machte keine Anstalten das Gebüsch zu verlassen. Er zupfte die Beeren von den Ästen. Dann gähnte er genüsslich. Sie dachten schon, er würde sich jetzt hinlegen und schlafen. Doch der Bär stand auf und ging zu dem Birkenbaum. Er kratzte sich den Rücken an dem Bäumchen. Der kleine Baum schwankte fürchterlich hin und her. Fast drohte er unter dem Gewicht des Bären zu zerbrechen. Doch dann ließ sich der Bär auf alle Viere fallen und trottete langsam davon.
Der Vater hörte auf zu kauen. Mit seiner linken Hand griff er nach dem Arm seines Sohnes, um ihn auf den Bären aufmerksam zu machen.
"Ich glaube er verschwindet", sagte der Vater.
Und tatsächlich. Der Bär trottete in nördlicher Richtung davon.
"Dann können wir ja weitergehen", meinte der Sohn und verstaute die Reste ihres Mahls in seinem Rucksack. Sie standen auf und hoben sich die Rucksäcke auf die Rücken. Dann gingen sie eiligen Schrittes zu dem Gebüsch. Sie beobachteten den Bären genau. Dieser stieg den Hügel hinauf. Doch als er an die Grenze zwischen Wiese und Felsen kam, hielt er inne. Er schaute sich schnauben um. Da entdeckte er wieder das Gebüsch, das so viel saftiger und leckerer war, als der trockene Felsen. Er stand da und schien
zu überlegen. Er entschied sich schließlich für das Gebüsch und machte sich wieder auf den Rückweg.
Der Vater erkannte die Gefahr. Schnell rannten sie zu dem Gebüsch. Er wies seinen Sohn an sich darin zu verstecken. Dann zog er sein Gewehr aus der Halterung an seinem Rucksack. Er kontrollierte die Ladung. Zusätzliches Pulver und Patronen befanden sich in einem Säckchen an seinem Gürtel. Er warf seinen Rucksack in das Gebüsch.
"Siehst du den Felsen da vorne?"
Etwa dreißig Meter von dem Gebüsch entfernt ragte ein großer Felsen steil aus der Wiese hervor. Der Felsen war breit genug, um einem Mann dahinter Schutz zu bieten.
"Ich werde mich hinter dem Felsen verstecken und versuchen den Bären zu vertreiben, falls er zu nahe kommt. Du bleibst hier und hältst dich versteckt." Der Vater sah seinen Jungen eindringlich an. Das war die Situation die er gefürchtet hatte. Hoffentlich ging alles gut. Er würde einen Warnschuss abgeben, falls der Bär nicht von allein die Richtung wechselte. Der Schuss würde ihn vertreiben.
Er sah seinen Sohn lange an. Dann lief er los. Er erreichte den Felsen und kauerte sich dahinter. Der Bär hatte ihn gesehen. Er hielt seine Schnauze schnüffelnd in die Luft. Ein tiefes Grollen entrang seiner Kehle. Der Vater presste sich an den kalten Felsen. Seine Knöchel waren bereits weiß, so fest hielt er die Büchse umklammert. Er konnte seinen Herzschlag in seinen Ohren dröhnen hören. Einige Male holte er tief Luft, um seinen Atem wieder zu beruhigen. Dann schaute er hinter dem Felsen hervor und suchte den
Bären.
Dieser war ein gutes Stück den Hügel herab gekommen. Aber er war noch weit von dem Gebüsch entfernt. Wieder hielt er schnüffelnd seine Schnauze in die Luft. Sein Blick fiel auf den Felsen hinter dem sich der Vater versteckte. Langsam, mit bedächtigen Schritten kam er darauf zu. Der Vater sah dem Bären in die kleinen, schwarzen Augen. Der Bär kam ein paar Meter heran, drehte sich dann wieder dem Gebüsch zu und lief in dieser Richtung weiter.
"Hey! Bär!", schrie er.
Der Bär riss seinen Kopf herum. Er entdeckte den Vater. Ein tiefes Grollen entfuhr seiner Kehle. In drohenden Schritten kam er auf ihn zu. Der Vater hob sein Gewehr in die Luft.
Plötzlich zerriss ein Jaulen das angespannte Duell. Der Vater und der Bär rissen ihre Köpf herum und starrten zu dem Gebüsch. Inmitten des Gebüschs stand ein kleiner Bär. Der Vater bekam Panik. John war in höchster Gefahr. Sein Blick sprang zwischen den beiden Bären hin und her. Lange Zeit, schier endlos standen beide da und machten keine Bewegung. Dann plötzlich setzte sich der Bär auf dem Hügel in Bewegung und trottete auf das Gebüsch zu. Der Bär im Gebüsch senkte den Kopf. Wahrscheinlich um Beeren zu fressen.
Die beiden Bären gehören zusammen, dachte der Vater, ansonsten hätten sie sich schon längst angegriffen.
Doch diese Situation war noch gefährlicher.
"Wenn das Mutter und Kind sind und wir beide dazwischen, dann ist das keine glückliche Wendung", murmelte der Vater.
John hatte den kleinen Bären bemerkt, bevor dieser gejault hatte, doch er wusste nicht, was er tun sollte. Also presste er sich an einen Strauch und machte sich so klein wie möglich. Aber der Bär kam immer näher. Seine schnuppernde Schnauze war schon ganz nah und rupfte die Beeren von den Zweigen. Schließlich entdeckte er das Bein des Jungen. Er schnupperte heftig an dessen Stiefel. Doch John konnte das Bein nicht weiter anziehen. Der Bär knabberte schließlich an dem Stiefel. John bekam Panik. Wo war sein Vater?
Er hatte Todesangst. Dann, als der Bär gerade in den Schuh beißen wollte, nahm er all seinen Mut zusammen und trat nach der Schnauze des Bären. Dieser jaulte laut auf. Aber der Bär blieb nicht lange fern. Erneut schob sich seine Schnauze durch das Gebüsch. Ohne auch nur zu zögern trat John wieder nach dem Bären.
Der andere Bär und der Vater zuckten zusammen, als sie den Bären erneut jaulen hörten. Der Bär lief nun schneller auf das Gebüsch zu. Und auch der Vater musste nun zu dem Gebüsch. Doch wenn er den Felsen verließ, lief er direkt auf den großen Bären zu. Er hob sein Gewehr an die Schulter. Das war die einzige Möglichkeit. Seine Waffe war viel zu klein, um einen Bären mit dem ersten Schuss zu erlegen, aber er hatte keine Wahl. Mittlerweile war er sich sicher, dass es sich bei den Bären tatsächlich um Mutter und
Kind handelte. Er legte an. Der kleine Bär in dem Gebüsch, war die größere Gefahr für John. Also zielte er auf diesen. Seine Hand war nervös. Er holte tief Luft. Langsam atmete er aus und zielte. Dann drückte er ab. Ein krachender Schuss zerriss die Stille. Der große Bär zuckte zusammen und sah in Richtung des Vaters. Laut heulte der kleine Bär auf. Der Schuss hatte ihn an der Schulter getroffen. Der Vater zielte erneut. Mit einem Seitenblick versicherte er sich, dass die Bärin nicht auf ihn zukam. Doch diese
lief eiligen Schrittes zu ihrem Jungen. Wieder zielte der Vater. Doch dann stellte er fest, dass sich die Bärin zu schnell dem Gebüsch näherte. Er hatte nur noch einen Schuss, bevor er nachladen musste. Also zielte er auf die Bärin. Der Schuss krachte durch die Luft. Die Bärin winselte. Der Schuss hatte sie in den Hinterlauf getroffen und ihr waren die Beine weggebrochen. Langsam rappelte sie sich wieder auf. Der Vater lud eilig und mit zitternden Händen die Büchse nach. John kauerte sich immer noch an den Strauch.
Er ließ den kleinen Bären nicht aus den Augen. Blut tropfte von dessen Schulter. Er senkte wieder seine Schnauze und versuchte erneut, diesmal energischer in den Stiefel zu beißen. Noch einmal schlug John kräftig zu. Doch diesmal verfehlt er sein Ziel. Er streifte den Bären nur harmlos. Blitzschnell schlug dieser mit seiner Pranke nach dem Fuß. John schrie laut auf als sich die Krallen des Bären in seinen Fuß bohrten. Der Bär packte den Stiefel und zerrte daran.
Endlich hatte der Vater das Gewehr nachgeladen. Mit zitternden Händen und in voller Angst um seinen Sohn zielte auf den kleinen Bären und drückte ab. Blut spritzte aus der Wunde, die die Kugel am Hals gerissen hatte. Der Bär röchelte und ließ von John ab. Dieser versuchte nun aus dem Gebüsch zu krabbeln.
Als der Vater sah, wie der Sohn das Gebüsch verlassen wollte, rannte er zu ihm. Die Bärin hatte sich wieder aufgerappelt und bemerkte John. Sie lief direkt auf ihn zu. Der Vater rannte so schnell er konnte. Ein paar Meter vor der Bärin hielt er an. Er legte seine Büchse an und schoss. Die Bärin brach zusammen.
"Lauf John, lauf", schrie der Vater, während er erneut die Büchse nachlud, "lauf zu dem Felsen!"
John versuchte sich aus dem Gebüsch zu befreien, doch die vielen Äste hielten ihn fest. Er zog und zerrte, bis er endlich frei war. Er sah auf. Nur ein kurzes Stück vor ihm lag die große Bärin. Sie hatte die Augen offen. Ihr Atem ging schwer. Der Junge erstarrte bei dem Anblick dieses riesigen Tieres.
"Lauf!", schrie sein Vater.
Plötzlich machte die Bärin einen Satz nach vorne und warf mit einem mächtigen Hieb ihrer Pranke den Jungen zu Boden. Noch ehe dieser verstand, was gerade geschehen war, schlug die Bärin ihre Krallen tief in das Bein des Jungen und zog ihn zu sich.
Der Vater legte blitzschnell sein Gewehr an. Er zielte auf den Kopf der Bärin und drückte ab. Doch nichts passierte. Der Vater war entsetzt. Er hatte schlecht nachgeladen. Er sah wie die Bärin seinen Sohn immer näher an sich heranzog. Schon lag er unter ihr. Gleich würde sie ihn mit einem kräftigen Biss in den Hals töten. Der Vater zielte. Diesmal muss es klappen. Er drückte ab.
Der Kopf der Bärin stürzte auf den Jungen herab. Und blieb dort liegen. Die Bärin war tot.
Der Vater rannte zu seinem Sohn. Er ließ die Bärin nicht aus den Augen. Doch sie war keine Gefahr mehr. Er schob den leblosen Körper von seinem Jungen. Als dieser begriff, dass die Gefahr vorüber war fing er an zu weinen.
"Mein Bein...", japste John, "Es tut so weh!"
Der Vater sah auf die blutverschmierte Hose. Eilig zog er sein Hemd aus und presste es auf Johns Bein. Notdürftig verband er die Wunden. Dann lud er sich den Jungen auf den Rücken und lief los. Sie hatten es nicht mehr weit bis nach Hause.
"Wir werden es schaffen", sagte der Vater mehr zu sich selbst.
John stöhnte bei jeder Erschütterung. Er wurde fast ohnmächtig vor Schmerz, nur das ständige Rütteln hielt ihn bei Bewusstsein.
"Nicht einschlafen", sagte der Vater, "wir sind gleich da. Da vorne hinter dem nächsten Hügel ist unsere Hütte. Siehst du?"
"Mama", wisperte der Junge.
"Waren die Bären...", begann er.
"Mutter und Kind?", vollendete der Vater die Frage. "Ja, das waren sie."
"Sind sie..", keuchte der Junge.
"Ja, sie sind beide tot", sagte der Vater mit tonloser Stimme. Er machte sich schwere Vorwürfe. Sein Sohn war in Lebensgefahr geraten. Er hätte die Situation besser abschätzen müssen. Und er hatte zwei Bären getötet. Er war nicht stolz auf seinen Tat. Hätte er besser aufgepasst und die Spuren besser gelesen, wäre das alles nicht passiert.
Endlich sahen sie ihre Blockhütte. Die Mutter stand vor dem Haus, als hielte sie Ausschau. Als sie die Beiden entdeckte kam sie ihnen entgegengelaufen.
"Was ist passiert?", fragte sie mit besorgter Miene.
"Wir sind zwei Bären begegnet. John ist verletzt.", antwortete der Vater knapp.
"Dann waren die Schüsse von euch?", fragte sie. Gemeinsam liefen sie zur Hütte. "Mein armer Johnny..." Die Mutter kämpfte mit den Tränen. Dabei streichelte sie über den Kopf des Jungen.
Der Vater nickte.
In der Hütte legten sie John in sein Bett und versorgten seine Wunden. Der Junge wurde ohnmächtig. Nachdem sie die Blutung gestillt und die Wunden verbunden hatten, ließen sie ihn schlafen. Drei Tage schlief er durch. Nur kurz wachte er zwischendrin auf. Dann flößten ihm seinen Eltern wenige Schlucke Tee ein, bevor er wieder einschlief. Als er am dritten Tag aufwachte standen seine Eltern an seinem Bett. Er sah in ihre Gesichter.
"Johnny", sagte seine Mutter und drückte seine Hand.
"Mama", sagte John mit schwacher Stimme "ich hatte einen schlimmen Traum. Ich wurde von einem Bären angefallen."
"Das war leider kein Traum", sagte der Vater.
John sah ihn erstaunt an. Dann spürte der die Schmerzen in seinem Bein und die Erinnerungen kehrten zurück. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen.
Seine Mutter ging in die Küche, um ihm etwas zu trinken zu holen. Mit einer Hand hielt sie seinen Kopf, während sie ihm langsam den Tee einflößte.
Dankbar lächelte John seine Mutter an.
"Bald bist du wieder gesund", flüsterte sie ihm zu und drückte dabei fest seine Hand.
"Bis wir auf den nächsten Ausflug gehen, sind alle Wunden verheilt.", sagte der Vater aufmunternd.
Doch John antwortete nicht. Lange Zeit schien er zu überlegen. Schließlich schaute er seinen Vater an.
"Vater?"
"Ja."
John sah seinen Vater wieder lange an.
"Ich will kein Jäger mehr werden."
Der Vater strich seinem Sohn über das Haar.
Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.