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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ich wünschte, ich könnte nur halb so gut schreiben …

© Michael Köppl


Es war ein verregneter Samstagnachmittag, als ich William Stokes kennen lernte. Schon Tage vorher hatte ich Lieferanten bemerkt, die immer wieder Kartons und Möbelstücke in das Haus gegenüber schafften, hatte mir aber keine großen Gedanken darüber gemacht, wer wohl mein zukünftiger Nachbar sein würde. Früher oder später würde ich ihn oder sie kennen lernen. Ich gebe zu, neugierig zu sein, aber ich will mich eben überzeugen, keine Psychopaten als Nachbarn zu haben. Meist gebe ich ihnen drei, vier Tage Zeit um sich einzurichten, dann schlendere ich hinüber, eine Flasche Wein in der Hand und stelle mich höflich vor. Oft frage ich auch, ob ich beim Einzug behilflich sein kann, meist lehnen die Leute sowieso ab. Niemand lässt sich gern von seinem Nachbarn helfen, die Unterwäsche oder die Pornosammlung zu verstauen.
An eben diesem Samstag schlenderte ich also hinüber, eine Flasche Rotwein bei mir. Das Haus auf der anderen Straßenseite war groß, weiß und alt. So alt, das man es in zehn Jahren wahrscheinlich unter Denkmalschutz stellen würde. In unserer Siedlung wirkte es deplaziert, wie ein Brandfleck auf einem frischgewaschenen weißen Laken. Der ungepflegte Rasen hatte einen hässlichen Braunton angenommen und wucherte vor sich hin. Woran es genau lag, dass niemand sich die Mühe machte, das Haus komplett zu renovieren weiß ich nicht. Wahrscheinlich war das Ding einfach zu groß. Wer hatte schon soviel Zeit und Geld, um aus diesem hässlichen Entlein einen Schwan zu machen? Die Leute sahen es sich an, manchmal blieben sie auch für ein paar Wochen, strichen die Fensterrahmen oder die Tür, aber dann gaben sie auf und kurze Zeit später stand wieder das 'Zu vermieten' Schild auf dem Rasen. Auf mich wirkte das Haus immer etwas unheimlich. Es strahlte eine beklemmende Ruhe aus, als wäre es eine Schlange, die den richtigen Moment abwartet, um zuzuschnappen.
Als ich vor der Tür stand, fiel mein erster Blick auf das Namensschild über der Klingel. 'W.Stokes' stand dort in schlichten Druckbuchstaben. Bei dem Namen Stokes läutete etwas in meinem Kopf, aber es war mehr wie ein Scherz. So, als wenn Sie 'Clinton' auf dem Namensschild eines McDonalds-Verkäufers lesen. Es war ebenso klar, dass es sich dabei nicht um den Ex-Präsidenten handelte, wie auch genauso wenig William Stokes mein neuer Nachbar sein konnte. Aber es war nett … vielleicht kannte der Kerl den Stokes und ich könnte das Gespräch, falls es ins Stocken geriet, in diese Richtung lenken.
Ich drückte den Klingelknopf, hörte aber kein Bimmeln im Inneren des Hauses. Noch etwas, das repariert werden musste, dachte ich. Ich klopfte dreimal und wartete gespannt auf eine Reaktion.
Als sich die Tür öffnete und ein Mann um die Fünfzig seinen Kopf herausstreckte, war ich zuerst so perplex, dass ich beinahe die Weinflasche fallengelassen hätte. Er trug eine Brille, sein Haar war etwas anders als auf den Fotos, aber es war der Stokes. William Stokes, erfolgreicher Schriftsteller.
"Ja?", fragte er misstrauisch. Vermutlich dachte er, ich wäre ein Vertreter oder ein Fan, der um ein Autogramm betteln wollte, aber als er die Flasche in meiner Hand sah, entspannten sich seine Gesichtszüge.
"Mr. Stokes? Hi! Mein Name ist Harry, Harry Richards, ich wohne gegenüber". Ich streckte ihm meine Hand entgegen, unsicher, ob er sie ergreifen würde. Ich hatte noch nie einen Prominenten getroffen, aber vermutlich war es normal, dass man sich klein und schäbig vorkam, wenn man einer berühmten Person, die man nur aus der Zeitung oder dem Fernsehen kannte, plötzlich gegenüberstand. Aber er schüttelte meine Hand ohne zu zögern und war offenbar erfreut über meinen Besuch.
"Freut mich Sie kennenzulernen, Mr. Richards."
"Oh, nennen Sie mich Harry, Mr. Richards nennen mich nur Leute, die mir etwas verkaufen wollen".
Er lächelte und das Eis schien gebrochen. Seltsam, wie schnell man jemanden als sympathisch oder oft auch als unsympathisch einschätzen kann, nur aufgrund der Gestik und der Ausstrahlung.
"Kommen Sie rein, ich kann Sie doch nicht mit so einem exzellenten Wein im Regen stehen lassen. Vorausgesetzt natürlich, Sie haben vor, ihn mit mir zu teilen".
"Sehr gerne", antwortete ich und meine Befangenheit löste sich langsam. War das zu fassen? William Stokes … manche Kritiker bezeichneten seine Romane als großen Schund, für andere war er neben Barker und King der Horror-Autor schlechthin. Ich kannte alle seine Bücher und hatte sie im Lauf der Jahre lieben gelernt. Sie waren wie alte Freunde, die man immer wieder gern aus dem Regal nahm, auch wenn man sie schon zigmal gelesen hatte. Ich erinnerte mich an sein letztes Werk 'Das Tor zur Hölle' und an das Foto auf dem Umschlag. Stokes Haare waren seitdem lichter geworden und sein Vollbart hatte die Farbe von braun zu schneeweiß gewechselt, aber die zusammengekniffenen Augen und sein jungenhaftes Grinsen verrieten seine Identität. Als ich so darüber nachdachte, fiel mir ein, dass sein letzter Roman bereits vor über acht Jahre erschienen war. Er hatte zwischendurch eine Biographie veröffentlicht, aber sein letztes richtiges Buch lag tatsächlich fast ein Jahrzehnt zurück.
Stokes führte mich durch die Eingangshalle, wo immer noch Kartons standen und in ein großes Wohnzimmer. Es schien bereits komplett eingeräumt zu sein und wirkte sehr gemütlich. Trotzdem hätte es das Zimmer einer x-beliebigen Person sein können, keine Luxusgegenstände, kein Perserteppich auf dem Boden. Ich konnte ihn mir bildhaft vorstellen, wie er mit einem Buch in der Hand, oder vielleicht einem Laptop auf dem Schoß in einem der großen Sessel saß.
"Freut mich, dass Sie vorbeischauen. Ein bisschen Abwechslung kann ich gut gebrauchen. Wie Sie sehen, bin ich immer noch nicht ganz eingerichtet."
Er holte zwei Gläser aus dem Wohnzimmerschrank und wir setzten uns. Mir lagen tausend Fragen auf der Zunge: "Warum wohnen Sie ausgerechnet hier und nicht in einer Villa? Wo ist Ihre Frau? Wann veröffentlichen Sie einen neuen Roman?", aber ich wollte ihn nicht überrumpeln und mich als Fan outen, dazu hatte ich noch genügend Zeit … vorausgesetzt, Stokes hatte vor, länger als ein paar Wochen in dem alten Haus zu bleiben.
"Wohnen Sie schon lange in der Gegend?", fragte er und zündete sich eine Zigarette an. Er hielt mir ebenfalls die Packung hin, ich winkte aber dankend ab.
"Kann man so sagen, ja. Meine Frau und ich hatten das Haus 1986 gekauft, und nach unserer Scheidung vor zwei Jahren hatte ich eigentlich vor, in ein Apartment zu ziehen … aber ich hänge an dem Ding, auch wenn es viel zu groß für einen einzelnen Menschen ist". Zu groß und zu leer dachte ich, wollte ihn aber nicht mit meinen Problemen belästigen.
"Kann ich verstehen", meinte er.
"Meine Frau und ich leben ebenfalls getrennt. Schon komisch, so viele Zimmer zu haben, aber sie mit niemandem teilen zu müssen.". Er lächelte schwach, und ich meinte, tiefe Traurigkeit in seinem Gesicht zu sehen.
"Sie sind getrennt? Tut mir leid, das wusste ich nicht."
"Muss Ihnen nicht leid tun", sagte er. "Es wurde damals in der Presse nicht sonderlich breitgetreten, worüber ich mehr als froh bin. Der Vorteil eines Schriftstellers ist es, dass sich die Leute mehr für die Schauspieler und Sänger interessieren. Ich bin schließlich nicht Brad Pitt, sondern nur ein Mann, der langsam in die Jahre kommt.
Er wusste, dass ich ihn erkannt hatte und ich fühlte mich geschmeichelt, dass er keinen Hehl um seine Identität machte, sondern mir Details aus seinem Leben verriet. Und das, obwohl wir uns erst zehn Minuten kannten.
"Lassen Sie uns anstoßen", sagte er und hob sein Glas.
"Auf gute Nachbarschaft, Harry!".
Ich nickte und stieß mit ihm an, meine Befangenheit hatte sich endgültig in Luft aufgelöst und mir kam es vor, als würde ich ihn seit Jahren kennen. Es tat gut, mit einem Mann in meinem Alter zu plaudern und es tat gut, überhaupt mit jemandem zu plaudern. Seit Ellas Auszug war ich mehr denn je zu einem Einsiedler verkommen, der nach der Arbeit allein vor dem Fernseher saß.
Die nächste Stunde tratschten wir wie alte Weiber über die restlichen Nachbarn, das Wetter, über den Krieg im Osten und während draußen der Regen prasselte und wir gemütlich mit dem Wein in der Hand in den bequemen Sesseln saßen, fühlte ich mich wohl wie seit langem nicht mehr. Schließlich siegte doch meine angeborene Neugier und ich beschloss, Stokes die Fragen zu stellen, die mich von Anfang an interessiert hatten.
"Darf ich Ihnen eine Frage stellen?", fragte ich.
"Das haben Sie gerade getan", erwiderte er augenzwinkernd.
"Tun Sie sich keinen Zwang an".
"Was hat Sie in diese Gegend verschlagen? Sie könnten sich doch ein schönes Leben auf Hawaii machen, oder nicht?".
Für zwei Sekunden sah er mich nur an, dann bahnte sich ein Lachen tief aus dem Bauch heraus den Weg ins Freie. Gerade als ich, selbst lachend, fragen wollte, was denn so lustig daran wäre, beruhigte er sich.
"Oh Harry", sagte er und nahm seine Brille ab, um sie zu putzen.
"Sie lesen zu viel Zeitung. Denken Sie, jeder, der ein paar Bücher herausbringt, kann sich ein Leben im Paradies leisten?". Er gluckste ein letztes Mal und wurde dann wieder ernst.
"Zwei Gründe haben mich dazu gebracht, dieses Haus hier zu mieten. Eigentlich hängen beide Gründe zusammen. Erstens: ich bin so gut wie pleite.". Er sah mich an, wohl um abzuwarten, ob nun ich lachen würde, aber abgesehen von einem skeptischen Blick lies ich mir nichts anmerken.
"Wie Sie wahrscheinlich selbst wissen, kostet eine Scheidung Geld. Viel Geld. Je mehr Sie besitzen, um so mehr müssen Sie davon abgeben. Aber ich gab es ihr gern, verstehen Sie?".
Eigentlich verstand ich es nicht, aber ich wollte ihn nicht unterbrechen.
"Eine Frau, die einen Schreiberling wie mich zum Mann hat, muss viel Geduld aufbringen. Letztendlich war es auch mein Beruf, oder besser meine Leidenschaft, die zu unserer Trennung geführt hat. Ich glaube sie hat das Geld verdient". Während er erzählte, wurde sein Blick wieder wehmütig, und ich konnte mit ihm mitfühlen.
"Der zweite Grund baut auf dem ersten auf: ich will wieder schreiben. Ich muss wieder schreiben, weil es das Einzige ist, was ich kann und weil ich das Geld brauche".
Die Situation wurde mir langsam etwas peinlich. Da saß eines meiner Idole, dessen Bücher ich sammelte und erzählte mir von Geldsorgen. Ich dachte an meine eigenen Versuche als Schriftsteller und an meine Träume von Reichtum und Berühmtheit, obwohl ich nichts weiter als einige Kurzgeschichten (die Betonung liegt auf kurz) vorzuzeigen hatte, die verstaubt in meinem Nachtkästchen lagen. Entweder tischte mir dieser Mann gerade einen Bären auf, oder meine sämtlichen Illusionen eines Romanschriftstellers waren mit einem Mal zerstört worden.
"Lesen Sie?", fragte er und riss mich damit aus meinen Gedanken. Ich erklärte ihm, dass ich sehr gerne Horrorromane las und er zu meinen Favoriten (neben King und Koontz) zählte.
"Dann wissen Sie sicher auch, dass mein letzter Roman lange zurückliegt. Genau genommen habe ich seit meiner Scheidung keine einzige Geschichte zustande gebracht. Schreibblockade nennen wir Schreiberlinge das.".
Ich nickte, da ich selbst davon betroffen war. Nur rührte meine Blockade wohl eher daher, dass ich wusste, nie etwas halbwegs Gutes zustande bringen zu können. Wahrscheinlich nicht mal gut genug, um in einer Zeitschrift für Hobbyautoren abgedruckt zu werden.
"Haben Sie sich deshalb dieses Haus ausgesucht?", fragte ich und machte eine ausschweifende Handbewegung.
"Sie meinen weil es wie ein Spukhaus in einem drittklassigen Horrorfilm aussieht? Nein. Ich bin sicher, hier finden Sie genauso so wenig Geister, wie Pelzverkäufer in der Wüste, aber es ist die Phantasie auf die es ankommt, das ist alles".
Ich hatte eine ungefähre Vorstellung von was er sprach und nickte deshalb. Der Wein und der bequeme Sessel unter meinem Hintern hatten mich schläfrig gemacht.
Aus dem Gefühl, etwas Fachkundiges sagen zu müssen, erzählte ich ihm von meinen eigenen Schreibversuchen und den vielen guten Ideen, die ich gerne in einer Geschichte umsetzen würde. Während er mir lauschte, lächelte er, vielleicht nur aus Höflichkeit, aber ich denke, mein Ehrgeiz (der teils vorgetäuscht, teils echt war) erinnerte ihn an seine eigene Zeit vor dem Durchbruch.
"Mann … ich wünschte, ich könnte nur halb so gut schreiben wie Sie…", sinnierte ich vor mich hin. Ich erwartete wohl ein 'Danke, das hört man gern', aber sein Lächeln stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen und er verzog das Gesicht, als hätte sich der Wein in Essig verwandelt.
"Hab ich was Falsches gesagt?", fragte ich und das Gefühl des Wohlbefindens verschwand. Ich kam mir plötzlich wieder klein und schäbig vor, als hätte ich Stokes, dem berühmten Schriftsteller einen falschen Hasen serviert.
"Nein, alles in Ordnung", murmelte er und sah dann auf die Uhr wie ein Mann, der noch einen Termin hatte.
"Tut mir leid Harry, aber ich habe noch viel zu tun, wie Sie an dem Chaos im Flur sehen können. Warum treffen wir uns nicht in ein paar Tagen zum Abendessen?". Mit diesen Worten stand er auf und bugsierte mich zur Tür. Sein Gesicht hatte wieder den misstrauischen Ausdruck angenommen, mit dem er mir geöffnet hatte. Ich verabschiedete mich und er schloss die Tür hinter mir, entließ mich zurück in den Regen. Etwas verwundert über seine plötzliche Hektik und leicht geknickt überquerte ich die Straße zu meinem eigenen Haus, das still und unbeleuchtet vor sich hinschlummerte.
Die darauf folgenden Wochen verliefen routinemäßig und ereignislos. Ich erzählte niemandem von meinem neuen Nachbarn und auch er schien seinen Umzug nicht an die große Glocke gehängt zu haben, keine Photographen, kein Kamerateam, nicht mal das eines Lokalsenders. Ich rechnete eigentlich nicht mehr mit weiteren Abenden zusammen mit William Stokes, denn anscheinend hatte ich mich ihn ihm getäuscht und er war doch so, wie man sich allgemein einen Schriftsteller vorstellte: eigenbrötlerisch und etwas verschroben. Ich vermutete, dass er einfach die Abgeschiedenheit einer anonymen Wohnsiedlung suchte und mein überraschender Besuch ihn zur Höflichkeit gezwungen hatte. Nie im Leben hätte ich erwartet, dass Stokes mich ernstnahm … ja, gar als guten Bekannten einstufte. Als es an der Tür klingelte, war ich daher mehr als erstaunt, dass er auf meiner Fußmatte stand und mich anlächelte.
"Hi Harry! Entschuldigen Sie, dass ich Sie so überfalle, aber ich sah Licht brennen und dachte, heute wäre eine gute Gelegenheit, um zusammen zu essen, finden Sie nicht?" Er schien nervös und trotz seiner zweiundfünfzig Jahre (ich hatte sein Geburtsdatum nachgeschlagen) wirkte er aufgeregt wie ein kleiner Junge unterm Weihnachtsbaum.
Ich zögerte keine Sekunde mit meiner Zusage, holte abermals einen guten Jahrgang aus dem Keller und begleitete ihn zu seinem Haus. Stokes führte mich in eine große Küche, in der es bereits verlockend nach gebratenem Fleisch und gedünstetem Gemüse roch und bat mich, an dem gedeckten Tisch Platz zu nehmen. Er war höflich und zuvorkommend, ganz der perfekte Gastgeber und ich tat mich schwer, diesen völlig normalen Mann mit dem verschrobenen Schriftsteller, der über dreiköpfige Monster schrieb, zu verbinden. Gutgelaunt und ohne besondere Tischmanieren berichtete er von seinen kleinen Renovierarbeiten, wollte wissen wie es in meiner Arbeit lief und lästerte über die Regierung.
Nach dem Essen verriet er mir schließlich den Grund für seine gute Laune.
"Ich schreibe wieder", grinste er und sprach es so leise, als hätte er Angst belauscht zu werden.
"Gut, es werden noch Monate vergehen, ehe ich das fertige Ding meinem Lektor vorlegen kann, aber ich habe die Geschichte bereits komplett im Kopf. Begonnen habe ich bereits und wissen Sie was? Ich denke, dass wird der beste Roman, den ich je geschrieben habe!".
"Von was handelt Ihr neues Buch?", wollte ich wissen, was ihn zum Lachen brachte.
"Oh Harry … ich wäre ein schlechter Schriftsteller, wenn ich Ihnen das verraten würde, noch bevor ich es selbst sicher weiß".
Verwirrt sah ich ihn an. "Sagten Sie nicht, Sie hätten es im Kopf bereits geschrieben?".
"Das stimmt, aber zwischen dem Kopf und dem Blatt Papier liegen Welten, Harry."
Ich dachte an meine eigenen Geschichten und nickte zustimmend. Man hatte eine Idee, einen tolle Geschichte mit lebensnahen Charakteren … aber wenn man die Gedanken auf das Papier bannen möchte, nehmen sie Abzweigungen mit denen man nicht gerechnet hätte. Selbst ein Hobbyautor wie ich wusste das.
Stokes zündete sich eine Zigarette an und hielt mir sein Glas entgegen.
"Harry, ich bin froh einen Nachbarn wie Sie zu haben. Warum lassen wir nicht das Gesieze?".
"Sehr gern, William", lächelte ich und stieß mit ihm an. Wir plauderten noch ein wenig, aber er schien nicht ganz bei der Sache zu sein, wahrscheinlich dachte er an seine Geschichte. Eine Frage bedrückte mich aber noch, und ich beschloss, sie ihm zu stellen.
"William …"
"Bill bitte, William nennt mich meine Mutter"
"Bill … als ich letztes Mal sagte, dass ich froh wäre, nur halb so viel Talent wie du zu besitzen … warum hat dich das so schockiert?"
Er nahm einen tiefen Zug von seiner Marlboro und sah mich ernst an.
"Das was du Talent nennst, Harry, ist Phantasie. Und Phantasie ist etwas Wunderbares, sie kann Dinge erschaffen von denen wir nur zu träumen wagen … aber sie kann auch zerstörerisch sein."
Ich hatte zwar keine Ahnung von was er sprach, aber ich beließ es dabei. Der Abend war bisher zu angenehm verlaufen, als dass ich ihn mit meinen dummen Fragen verderben wollte.
Es wurde ziemlich spät und ich verabschiedete mich, schließlich hatte ich einen Job mit normal geregelten Arbeitszeiten.
Zurück in meinem eigenen Haus, das leer und trostlos wirkte, konnte ich lange nicht einschlafen. Zu viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Ich dachte an Stokes, seine Karriere und an meine eigenen Ergüsse, die zerknittert in einer Schublade lagen. Als ich aufstand um mir ein Glas Wasser zu holen, sah ich aus dem Fenster und bemerkte Licht im Haus gegenüber. Stokes hatte die Rollläden nicht herabgelassen und ich fühlte mich wie ein Spanner, als ich ihn in seinem hell erleuchteten Arbeitszimmer sah. Er saß an seinem Schreibtisch, eine Schreibmaschine vor sich. Soviel zum Thema Laptop. Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand, seine Finger beobachtete, die rastlos wie von einer Batterie betrieben auf die Tasten hämmerten, aber sein Anblick gab mir das Gefühl von Hoffnung. Dieser Mann weckte meine eigene Leidenschaft für das Schreiben, wie es tausend 'Ratgeber für Autoren' nicht geschafft hatten. Konnte auch ich irgendwann Erfolg mit meinen Geschichten haben? Ideen formten sich in meinem Kopf wie Figuren aus Lehm in den Händen eines Künstlers. Fast hätte ich mir einen Stift und Papier geholt, wenn ich nicht plötzlich gespürt hätte, nicht mehr allein in meinem Schlafzimmer zu sein. Ich fühlte die Anwesenheit eines Fremden in meinem Rücken und doch wagte ich es nicht, mich umzudrehen. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber ich meinte zu spüren, dass es kälter wurde. Erschrocken drehte ich mich um, suchte in Gedanken bereits nach einem Gegenstand, mit dem ich mich gegen den Eindringling wehren konnte. Er oder es stand in einer Ecke des Zimmers aber mehr als Schatten und einen vagen Umriss konnte ich nicht erkennen.
"Hallo?". Meine Stimme krächzte wie im Stimmbruch und ich zitterte, als stünde ich barfuss und in kurzen Hosen im Eisstadion. Ich zwinkerte ein paar Mal, in der Hoffnung meine Augen würden mir einen Streich spielen, aber das Ding stand immer noch reglos in der Ecke wie ein unartiger Schüler.
Ich tastete nach der Nachttischlampe, doch bevor ich den Knopf finden konnte, hörte ich Motorengeräusch auf der Straße. Scheinwerferlicht durchflutete für einen kurzen Moment mein Zimmer und mein nächtlicher Besucher wurde geblendet wie ein Schauspieler im Rampenlicht.
Als ich es sah wollte ich schreien, weglaufen, mich wie ein Kind unter dem Bett verstecken, trotzdem blieb ich wie angewurzelt stehen und brachte keinen Ton über die zitternden Lippen. Dieses Ding, dieses Wesen … ich bin sicher, dass nie jemand zuvor etwas vergleichbares gesehen hatte. Es war ein Wesen aus einer anderen Welt, ein Wesen, das direkt dem Alptraum eines Geisteskranken entsprungen war.
In dem kurzen Moment, in dem ich es sah, registrierte mein Verstand zwei Dinge: das Etwas hatte weder Arme, noch Beine. Es schien sich allein auf seinem wulstigen Körper, wie eine riesige Schnecke fortbewegen zu können. Fünf blutrote Augen starrten mich aus einem von Stacheln besetzten Kopf an und eine Zunge, schwarz wie Kohle schnellte aus einem Maul, das zu grinsen schien.
Dann schrie ich wirklich. Bis zu diesem Tag wusste ich nicht, dass ich überhaupt so eine kräftige Stimme besaß, aber wäre in diesem Moment jemand auf der Straße unter mir spazieren gegangen, hätte er mit Sicherheit die Polizei gerufen. Nur ein Mensch in Todesangst brachte so einen Schrei hervor. Panisch griff ich nach der Nachttischlampe, stieß dabei Taschenbücher vom Kästchen und knipste das Licht an, als wäre es eine Wunderwaffe.
Voll von Angst, die mich in Hitze- und Kältewellen zugleich durchströmte, drehte ich mich wieder um. Und sah … nichts. Das Zimmer war genauso leer wie immer seit der Trennung von meiner Frau.
Ich durchsuchte das ganze Haus, bewaffnet mit einem Küchenmesser. Ich sah im Schrank nach, unter der Treppe, sogar unter meinem Bett, als würde sich das Monster vor mir verstecken wollen. Zwischendurch warf ich einen kurzen Blick aus dem Fenster, hinaus auf die helle, sichere Straße, sah aber auch dort nichts Ungewöhnliches. Für einen kleinen Moment überlegte ich, ob ich rüber zu Stokes gehen sollte, doch was sollte ich ihm sagen? Sollte ich dem Horror-Schriftsteller erzählen, dass ich ein Monster gesehen hatte? Ich ging hinunter und kontrollierte die Eingangstür. Natürlich war sie immer noch verschlossen. Herrgott, das Ding hatte nicht mal Arme, wie hätte es das Schloss aufbrechen sollen? Plötzlich klopfte es an der Tür. Ich zuckte zusammen und konnte nur knapp einen erneuten Schrei unterdrücken.
"Harry? Ich bin es, William Stokes". Wie gut tat es, die Stimme eines Menschen zu hören, auch wenn es bereits zwei Uhr morgens war.
Erleichtert riss ich die Tür auf. Stokes sah mich an und dann wanderte sein Blick hinter mich, als wollte er sich vergewissern, dass ich alleine war. Er sah besorgt und selbst ein wenig ängstlich aus.
"Alles in Ordnung? Ich dachte ich hätte jemanden schreien hören, sah dann das Licht in deinem Haus und bin rübergekommen. Man kann ja nie wissen, Einbrecher und so."
Ich bat ihn herein, froh nicht mehr alleine im Haus sein zu müssen.
"Herrje, du zitterst ja, was ist passiert?". Er sah mich bestürzt an und wirkte selbst sehr angespannt.
Sollte ich ihm von einem Alptraum erzählen, den ich nie hatte? Oder sollte ich die Wahrheit erzählen? Wenn nicht ein Horrorautor, wer dann würde mir glauben?
Verlegen berichtete ich ihm von meiner Schlaflosigkeit, erwähnte aber nicht, dass ich ihn beobachtet hatte. Ich erwähnte auch nicht, dass dieses Ding keine Beine hatte und sein Kopf stacheliger als ein Kaktus gewesen war, sondern sagte nur, dass ich jemanden in meinem Zimmer gesehen hätte und dieser Jemand geflohen wäre, als ich das Licht einschaltete.
"Hast du die Polizei gerufen?".
Ich schüttelte den Kopf.
"Gut. Darf ich?". Er nahm sich einen Stuhl, setzte sich und holte seine Zigaretten heraus. Er bot mir die Packung an und dankend nahm ich mir eine. Ich hatte seit sieben Jahren nicht mehr geraucht, aber in dieser Nacht schmeckte die Kippe besser als jedes Bonbon.
"Ich will, nein ich muss mit dir reden Harry." Bedrückt sah er mich an, aber mehr durch mich hindurch.
"Ich glaube du verschweigst mir etwas … ist es nicht so? Dieser Schrei … keine tausend Einbrecher veranlassen einen Mann zu so einem Schrei.". Diesmal sah er mir in die Augen und er sah alt und verbraucht aus, als wäre er achtzig und nicht zweiundfünfzig.
"Weißt du noch, was ich heute Abend über Phantasie gesagt habe? Darüber und das man nie weiß, was sie hervorbringt?".
Ich dachte, er wolle darauf hinaus, dass ich mir alles nur eingebildet hätte und genervt sog ich die Luft ein.
"Ich weiß natürlich nicht, was du gesehen hast, aber ich sehe sie auch".
"Ich weiß nicht wovon du sprichst", erwiderte ich ernst und versuchte gefasst zu wirken.
"Ach wirklich?". Seine Antwort klang sarkastisch und ich wusste, dass er mir nicht glaubte. Meine Angst hatte sich gelegt, auch wenn sie im Moment nur schlummerte wie ein betäubter Bär und ich war müde und gereizt.
"Wahrscheinlich habe ich nur lebhaft geträumt. Soll vorkommen". Dies war mein Haus, es war spät, ich musste morgens früh raus und da saß ein alternder Schriftsteller in meiner Küche und glaubte, mich verstehen zu können.
"Danke dass du vorbeigekommen bist, aber ich muss jetzt wirklich schlafen, du verstehst das doch sicher".
Übertrieben gähnte ich, obwohl ich in dieser Nacht mit angezogenen Knien im Bett saß, zur Zimmerecke sah und auf das Klingeln des Weckers wartete.
"Klar. Komm doch morgen nach der Arbeit rüber, okay? Vielleicht erinnerst du dich dann an mehr Details aus deinem … Traum".
Völlig übermüdet kämpfte ich mich durch den Arbeitstag und fiel zuhause angekommen sofort auf die Couch. Als ich irgendwann wach wurde, war es bereits dunkel und ich dachte an Stokes Vorschlag, heute bei ihm vorbeizukommen. Die letzte Nacht steckte mir noch in den Knochen, außerdem machten mir Stokes Worte Sorgen. 'Auch ich sehe sie'. Was hatte er damit gemeint und wollte ich wirklich mehr davon hören?
Mein Abendessen bestand aus einem faden Mikrowellengericht und ich rollte mich auf die Couch und glotzte Columbo. Die Erinnerung an das Ding in der Ecke verblasste langsam und ich dachte, dass es wohl besser wäre, den Kontakt zu Stokes abzubrechen. Vorübergehend zumindest. Ich hatte mich hinreißen lassen, hatte darüber nachgedacht mich ebenfalls voll und ganz auf die Schriftstellerei zu konzentrieren, aber konnten mich beschriebene Blätter ernähren? Es war besser, mich wieder mehr in meinem Job zu engagieren und ein paar Überstunden einzulegen. Geschichten zu schreiben … ich dachte, man muss dafür geboren sein, so wie Stokes.
Als ich in dieser Nacht zu Bett ging, ließ ich das Licht trotzdem brennen und holte meinen alten Baseballschläger aus dem Keller. Nachdem ich mich zwei Stunden hin- und her gewälzt hatte, stand ich auf und sah, wie in der Nacht zuvor, aus dem Fenster. Wie ich nicht anders erwartet hatte, saß Stokes im ersten Stock in seinem Arbeitszimmer und schrieb. Aber er war nicht alleine. Als ich es dort im Rücken dieses Mannes stehen sah, kam die Angst zurück. Unbewusst schrie ich seinen Namen und wollte ihn warnen, "Pass auch, hinter dir!", und merkte dabei nicht, dass er mich durch das geschlossene Fenster und gefangen in seiner Schreibwut nicht hören konnte. Gedanken wirbelten durch meinen Kopf wie Laub in einem Sommersturm. Sollte ich die Polizei rufen? Sollte ich ihnen wirklich erklären, dass William Stokes, der Schriftsteller von einem Monster bedroht wurde? Nein, selbst wenn sie mir glauben würden, würde es zu lange dauern. Außerdem … was, wenn ich wirklich verrückt war und das Ding weder gestern in meinem Zimmer, noch jetzt bei Stokes war? Ich traf eine Entscheidung und stürmte, bewaffnet mit meinem kümmerlichen Baseballschläger aus dem Zimmer. Bis heute kann ich es nicht glauben, dass ich tatsächlich solchen Mut aufbrachte.
Die nächsten Ereignisse überschlugen sich förmlich und ich kann sie nur bruchstückhaft wiedergeben.
Ich lief über die Straße und läutete Sturm, doch dann erinnerte ich mich an die defekte Klingel. Mit dem Schläger zertrümmerte ich das Küchenfenster, achtete nicht auf die scharfen Zacken und kletterte durch den Rahmen. Im Haus war es dunkel und ruhig, ich hörte weder Hilferufe noch das Klappern der Schreibmaschine, nur mein eigener Herzschlag dröhnte mir laut in den Ohren. Ich tastete mich langsam an der Wand entlang, suchte den Lichtschalter und erleichtert drückte ich ihn. Als das Licht die Küche flutete, war ich so überrascht, dass mir der Schläger aus den Fingern glitt und polternd auf dem Boden aufschlug. Nur zwei Meter von mir entfernt stand ein Wesen, mit dem ich am allerwenigsten gerechnet hätte. Es war Ella. Lächelnd stand sie vor mir, nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet. Mit einer Hand stützte sie sich lässig am Türrahmen ab, welcher zweifellos in den ersten Stock hinauf führte, die andere Hand hielt sie hinter dem Rücken verborgen.
"Ella? Was zum Teufel machst du hier? Wir müssen hier raus, hörst du?". Ich war zu verwirrt und angsterfüllt, als dass ich in diesem Moment mehr als das sagen konnte. Die Frage, ob sie ein Verhältnis mit meinem prominenten Nachbarn hatte, drängte sich kurz durch den Nebel der Angst, aber selbst wenn es so wäre, konnte ich Stokes nicht im Stich lassen. Ich wollte mich an ihr vorbeizwängen, die Treppe hinauf, als Ella mich plötzlich packte und in die Ecke schleuderte. Sie warf meine fünfundneunzig Kilo mühelos, als wäre ich nicht schwerer als eine Schaufensterpuppe. Krachend prallte ich an den Küchenschrank, Teller schepperten im Inneren. Ich sackte zu Boden wie ein angeschlagener Boxer, spürte warmes Blut im Mund. Als ich hochsah, kam Ella auf mich zu und ich konnte erkennen, was ihre Hand vor mir verborgen hatte. Es war ein großes Küchenmesser, dessen Klinge im hellen Licht wie ein Kristall schimmerte. Ihr Lächeln hatte sich in blanken Hass verwandelt und dagegen schien selbst das Ding in der Ecke nicht furchteinflößender als ein Scherzartikel.
"Ella?". Ihren Namen in Verbindung mit diesem blanken Wahnsinn zu hören, klang für mich wie Gotteslästerung. Warum sollte die Frau, die es nicht übers Herz brachte einen Käfer zu zertreten, mich töten wollen?
Benommen lag ich am Boden, als sie über mir stand, das Messer hoch über dem Kopf erhoben.
"Harry!". Ella drehte den Kopf und ich sah, dass Stokes die Treppe herabgestürzt kam. Sein Gesicht spiegelte das pure Entsetzen wider, das ich selbst verspürte. In diesem Moment sauste das Messer herab und hätte ich mich nicht in letzter Sekunde weggedreht, hätte es meine Kehle, anstatt meinem linken Schulterblatt durchbohrt. Schmerz, heiß wie ein glühender Schürhaken durchzuckte meinen Körper und ich sah Stokes Küche wie durch regengesprenkeltes Fensterglas. Es war mein eigenes Blut, das meine Augen benetzte.
Schreiend krümmte ich mich auf dem Boden, das Messer steckte wie eine seltsame Antenne in meiner Schulter.
Ich sah Stokes, wie er sich auf meinen Baseballschläger stürzte und auf Ella losstürmte. Obwohl ich glaubte sterben zu müssen, brüllte ich ihn an, sie in Ruhe zu lassen und das ich ihn umbringen werde, sollte er meine Frau verletzen.
Seine Augen drückten für den Bruchteil einer Sekunde Mitleid aus, dann schwang er den Schläger wie ein pensionierter Baseballprofi und schlug auf Ella ein. Nach dem ersten harten Treffer verzerrte sich ihr Körper wie ein unscharfes Fernsehbild und was sich vor meinen Augen verformte, hatte nichts mehr mit meiner Frau gemeinsam. Es war wieder das Ding, das Wesen ohne Arme und Beine und seine schwarze Zunge schnellte aus dem Maul wie ein Fangarm, schnappte nach dem Schläger. Ich schrie, bis meine Kehle brannte wie Feuer und mein Kopf wie ein Luftballon anzuschwellen schien. Kreischend kroch ich tiefer in die Ecke der Küche, wollte mich verstecken wie eine Maus vor dem Kater und stieß dabei mit der Schulter gegen die Wand. Das Messer bohrte sich noch tiefer hinein und die Ohnmacht senkte sich über mich wie ein Leichentuch.
Als ich wieder zu mir kam, saß ich auf einem von Stokes bequemen Sesseln im Wohnzimmer. Er saß mir rauchend gegenüber und beobachtete mich besorgt. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als ich meine Augen aufschlug und sie auch offen blieben.
"Harry!".
Immer noch voll Angst wollte ich aufspringen, aber er stand auf und drückte mich sanft zurück in den Stuhl.
"Ruhig Harry, ruhig. Du solltest dich nicht bewegen, sonst fängt die Wunde erneut an zu bluten".
Das Messer steckte nicht mehr in der Schulter, stattdessen berührten meine Finger einen weichen Verband.
"Sah schlimmer aus als es ist. Du hast verdammt Glück gehabt."
Stokes sprach ruhig wie zu einem kleinen Kind mit mir und drückte tröstend meine Hand.
"Das Ding, Ella … ist es tot?", fragte ich.
"Nein", sagte er und erschrocken sah ich mich um.
"Nein, es ist nicht tot, aber es ist wieder dort, wo es hingehört … im Reich der Phantasie."
Verständnislos sah ich ihn an, als würde er eine fremde Sprache sprechen.
"Weißt du noch, was ich dir über Phantasie erzählt habe? Sie kann wunderbare Dinge erschaffen … aber auch sehr grausame. Das Wesen das du in der Küche, und wahrscheinlich auch gestern in deinem Haus, gesehen hast, ist ein reines Phantasieprodukt".
Wieder war ich mir nicht sicher über meinen Geisteszustand, lies ihn aber weitersprechen.
"Willst du den wahren Grund hören, warum meine Frau mich verlassen hat, Harry? Diese Wesen waren es. Sie konnte es nicht länger ertragen, dass die Dinge über die ich schreibe, real werden. Ich kann sie nur dafür bewundern, dass sie es überhaupt so lange ausgehalten hat. Du denkst sicher ich bin verrückt … aber du hast es gesehen und du bist verletzt, der beste wenn auch schmerzvollste Beweis. Weißt du … diese Dinge … sie können einem nicht gefährlich werden, solange man sie nicht beachtet. Kehr ihnen einfach den Rücken und schreibe weiter. Und behandle sie nie, als wären sie real. Denn das sind sie nicht, jedenfalls nicht in unserer Welt. Nur deine Phantasie kann sie lebendig werden lassen."
Verblüfft sah ich ihn an. Konnte das alles wahr sein? Aber ich hatte Ella gesehen, und das Ding, in das sie sich verwandelt hatte.
"Lange Zeit, acht Jahre um genau zu sein, dachte ich, ich selbst könne nicht mehr mit dieser Gabe, wenn man es so nennen will, leben. Aber man kann seine Phantasie nicht einfach abschalten wie ein Radio. Du hast es selbst erlebt."
"Wie meinst du das?", fragte ich.
"Diese Frau, wahrscheinlich deine Ex-Frau, das war dein Produkt, verstehst du? Mein neues Buch handelt von einem Wesen, das die Gestalt des größten Alptraums seiner Opfer annimmt. Durch mich gelang es in unsere Welt und durch dich wurde es zu deiner Frau, die dich töten wollte".
Wir sprachen noch lange in dieser Nacht, oder besser gesagt, Stokes sprach und ich hörte ihm zu, als würde er mir eine Gruselgeschichte am Lagerfeuer erzählen. Aber es gab noch zwei Dinge, die ich wissen musste, deshalb fragte ich ihn danach.
"Wie kam dieses Ding in mein Haus? Ich hab mir das abscheuliche Schneckenwesen sicher nicht ausgedacht".
Stokes sah unbehaglich drein, als wäre ihm etwas peinlich.
"Ich hab es nicht unter Kontrolle, verstehst du? Ich denke du hast mich gestern Abend beobachtet, richtig? Und was denkt man, wenn man einen schreibenden Menschen beobachtet? Man überlegt, was der alte Knabe da wohl tippen mag, oder? Du liest deiner Phantasie freien Lauf und das hat es in dein Haus gelockt". Er seufzte und fuhr sich durch das graue Haar.
"Es war ein Fehler hierher zu ziehen. Scheiße, du hättest sterben können, und das nur, weil ich alter Narr ein Buch schreibe."
"Bill … bist du der Einzige, dem so was Verrücktes passiert?", fragte ich bedrückt.
Er schwieg kurz und rieb sich nachdenklich den Bart.
"Nein, nein das bin ich nicht. Ein alter Freund, ebenfalls Schriftsteller, hatte das gleiche 'Problem'. Allerdings gab er das Schreiben vor langer Zeit auf und fing an Golf zu spielen. Ich denke es passiert einigen, nicht allen, aber jenen die phantasievoll genug sind, jenen die eine Geschichte nicht nur schreiben, sondern sie selbst durchleben.". Er zündete sich eine weitere Zigarette an, obwohl er die alte noch nicht zu Ende geraucht hatte.
"Als du sagtest, dass du gerne so gut wie ich schreiben würdest … weißt du, ich habe nicht um diese Gabe gebeten, auch wenn sie mir viel Geld gebracht hat. Aber manchmal wünschte ich, ich könnte nicht mal einen Einkaufszettel ordentlich schreiben."
Als ich mich irgendwann spät nachts (oder frühmorgens) verabschiedete, drückte er mir die Hand und sah mich kameradschaftlich an.
"Danke Harry. Danke, dass du mein Freund warst.". Ohne dass er es aussprach, wusste ich, dass wir uns nicht wieder sehen würden.
"Lass dir eines sagen: du hast Talent, großes Talent. Die Wunde an deiner Schulter ist der beste Beweis dafür. Aber überlege es dir gut, auf was du dich einlässt, wenn du Welten erschaffst".
Die nächsten Tage meldete ich mich krank und blieb zuhause. Niemand erfuhr von dem Vorfall und die Wunde verheilte ganz gut, soweit ich das beurteilen konnte. Ich war nicht überrascht, aber traurig, als ich am Fenster stand und auf dem Grundstück gegenüber das "Zu vermieten"-Schild sah. Das alte Ungetüm von einem Haus lag verlassen wie so häufig in der schwachen Herbstsonne und ich dachte darüber nach, wo mein alter Freund in diesem Moment wohl sein möge. Ich lies meine Gedanken schweifen und sah deutlich das Bild einer alten Blockhütte, irgendwo in den Wäldern Kanadas vor mir. Darin saß ein Mann, eine Schreibmaschine vor sich, das Kaminfeuer prasselte gemütlich im Hintergrund. Welche Ungeheuer belauerten ihn wohl in diesem Moment? Welche Welten erschuf er in seinem Kopf und ließ sie für kurze Zeit zur Wirklichkeit werden? Ich bewunderte ihn und jedes Mal, wenn ich einen neuen Roman von William Stokes in den Buchregalen stehen sehe, frage ich mich, wie ein Schriftsteller über Jahre hinweg mit den Dämonen in seinem Kopf leben kann, ohne verrückt zu werden. Ich selbst schrieb nie wieder eine Geschichte und wenn ich lese, sehe ich mich jede Minute unruhig im Zimmer um. Stokes hatte mich gelehrt, dass das Schreiben eine Gabe, aber auch eine große Bürde ist. Ich könnte nicht damit leben, nicht für alles Geld der Welt.



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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