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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Schritte

© Anne Nordmann


Eis und Frost zerstachen die Luft über den gelben, renovierungsbedürftigen Häuserfassaden auf der anderen Straßenseite, die im Sonnenlicht schienen, wie Sonnen- licht, das von dieser Seite der Straße beschmutzt wurde.
Ich saß auf einer blanken, unlackierten Parkbank, die dem Park entflohen war, neben dem überlaufenden Plätschern eines Brunnens, das dem November entflohen war, und das von den Beinen dieser Leute ungehört blieb, die wie in einem rostigen Weißblechtopf zusammengemischt durch die Polenstadt rannten und nur zum Anstarren gut waren, ohne dass es mich, da ich saß und die bleischwere Kugel der Kälte am Bein spürte, sonderlich interessierte, wohin sie rannten, was sie im Rennen dachten oder wer gelegentlich den Löffel in die Hand nahm und die ganze Beinpampe im Topf einmal umrührte, damit sie nicht am Straßenpflaster anbrannte.
Zum Anstarren waren sie gut, diese Leute, denen die Beine bis zum Hals standen, denen die Beine aus den Ohren raushingen, diese Leute, an denen nichts dran war, außer den Beinen, gut genug, um ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich im Wettlauf mit dem Sonnenuntergang verrannten.
Sie kamen, es stand ihnen im Gesicht geschrieben, vom Fußballplatz, aus dem Wald, vom Frisör oder aus dem Stadtpark, diese Beine, denen das Aufstehen Unmengen an Schweiß gekostet haben musste und denen die Müdigkeit in jeder vergeudeten Minute in den Augen brannte, sie kamen, ohne sich an das Gestern erinnern zu können, um das Heute zu bewerten, sie kamen und wussten nicht, ob sie jemals etwas Gutes an diesem Generationen überdauernden Spiel mit der Zeit finden würden. Diesen Beinen war das Gesicht und alles darin Geschriebene eingefroren, diese Beine stöckelten nur noch, sie rollten, von klagenden Plattfüssen abgestützt, durch verlaufene Pubertätsintuitionen, die nach Begegnungen schrieen, denen sie bisher nicht begegneten, deren Schrei jedoch im Plätschern jenes Brunnens verklang, der sie auf die Flucht vor dem November mitnahm.
Unermüdliche, dürre Beine sah ich, vom Kugelschleppen ausruhend, an der Parkbank, die dort, wo sie stand, wo ich auf ihr saß, einfach Fehl am Platze war und deshalb als solche, als Sitzgelegenheit nicht erkannt wurde, vorüberhetzen, Beine in Strumpfhosen, die es eilig hatten, ins Warme zu kommen, die ledernen Beine einer Posterdomina, leichtfüßige Beine, die sich lautlos an der Papierkulisse der Polenstadt fest- krallten, als sie tiefer fielen, als sie je gewagt hätten, hoch zu fliegen und dabei einen weißen, klaffenden Riss hinterließen, Beine, die von uniformierten, in Stahlkappenschuhen versinkenden Beinen verfolgt wurden, gekrümmte O-Beine, die am Stock gingen und sich selbst im Wege standen, strapsige Beine, die durch den tiefen, sperrigen Schlamm der Alltagskrätze gingen, Beine, die ziellos umherirrten und sich dabei selbst überholten, Beine, die all ihre Kräfte auf dem Fußballplatz gelassen hatten, als ihnen die Worte für ein Aber fehlten, Beine, die den Dreck des halben Waldes mit sich herumschleppten, Beine, die dem Frisör den Pickel der eigenen, nicht endenden Pubertät ausgedrückt hatten, Beine, die im Stadtpark überfallen worden waren und nun wie besessen schienen, von der Angst vor einer zutiefst gestörten, psychopatischen Welt, die verstolperten Beine der Kopffüßler, die sich gegenseitig nach dem Weg in die große Fickerei fragten, Beine, die über eine leere Bierdose fielen, Beine, die über Leichen gingen, Beine, die tagelange Nächte durchschlafen würden, müde, wie sie waren, Beine, die haltlos unter den biochemischen Experimenten zusammenbrachen, die sich in ihren Herzen abspielten,
Beine, die wie Steinblumen am Straßenrand standen, weil ihr Segelflugzeug verreist war, angespannte Steinblumenbeine in der Gosse, die sich in der Schaufensterscheibe auf der anderen Straßenseite im Vorübergehen sanft berührten, Steinblumenbeine, neben denen schwarze Plastiktaschen lustlos baumelten, die von andersfarbigen Plastiktaschen gefragt
wurden: Warum so schwarz? Warum immer nur dunkel?
Steinblumenbeine, die sich gegenseitig wund scheuerten, weil sie so gehetzt waren, wie die scheuen Rehe der Gegenwart, die im Morast einer selbstgebauten Quarantäne verschwanden, die steinigen Beinblumen eines blinden Alten, die jeden Schritt ausgiebig zu überdenken schienen und den Asphalt dabei in Grund und Boden küssten, Beine auf Füssen, die nicht sahen, dass sie in Taubenkacke badeten, Beine auf geschmolzenen Steinfüßen, die sich mit geschlossenen Augen voranfühlten und nach deren Schritten man die Uhr hätte stellen können, wenn man mehr Zeit bräuchte, Blindenbeine, die sehr schnell wieder untergetaucht waren, in dem Gewühl, dem Gedränge, dem Geschiebe durch die Polenstadt. Zum Anstarren waren sie gut.
Eis und Frost zerstachen die Luft über den gelben, renovierungsbedürftigen Häuserfassaden auf der anderen Straßenseite, die im herabsinkenden Sonnenlicht schienen, wie Sonnenlicht, das von dieser Seite der Straße kaltblütig abgedunkelt wurde, wie tief hängendes Sonnenlicht, das langsam in der nahenden Nacht versank und die ungehörte Brunnenfontäne halberfroren in der unausweichlichen Novemberkälte zurückließ.
Regenreste, die an den Schaufensterscheiben auf der anderen Straßenseite klebten, wurden sichtbar, und die überschäumende Wut in den Augen der Tauben spiegelte sich darin, als von dem Sonnenlicht am Himmel nichts zurückblieb, als eine Erinnerung in der Atmosphäre, die Erinnerung an irgendetwas, vielleicht daran, dass dieser Tag, der dreizehnte dieses Monats, November, nur ein einziger, bewegungsloser Atemzug war, der auf einer blanken, unlackierten Parkbank saß und der Polenstadt, der Straße, den Leuten, den Beinen dabei zusah, wie sie vom Sonnenuntergang eingeholt wurden. Wie leergefegt war die Straße und das Plätschern des Brunnens erstarrte in zunehmender, polnischer Dunkelheit.
Ich saß, mit der Kugel der Kälte am Bein, die sich in Eis und Frost nicht ablegen ließ, neben meinem eigenen, verfluchten Atemzug auf der Parkbank, die sich in den Park zurücksehnte und atmete weiter, alleine, atmete die Atmosphäre dieser Erinnerung, und die Straße, schließlich wirklich leergefegt, stieg wie gleitender Nebel zu den Traumgenossen verkaufter Abgötter auf, als der Sonnenuntergang, noch immer unvollendet, einen Streifen Licht zwischen den Häuserfassaden und den Straßenseiten ablegte, der aus dem Gestern kam und ins Morgen wanderte, einen Streifen Licht, der mir die Straße neu zurechtpflasterte.
Als lebte es in wartenden Lichtjahren auf den richtigen Zeitpunkt für einen Schrei zu, zersprengte das untergehende Licht die Kugel und die Kette, die mein Bein an die parkende Bank fesselte, und die verkauften Abgötter der Nebelstraße tröpfelten ein paar Perlen jenes Schreis auf den Weg, die das Gesicht meiner Schritte wie im Schein der Sonne einer fernen Nacht erkannten. Ich stand auf und ging.



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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