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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ruiniert

© Anna-Luise Jordan


Oben auf dem Berg über dem Porphyrsteinbruch und dem Dorf stehen die Reste der Burg. Zwischen ihren Mauern wächst Gras, dort wo einmal Fußböden aus Stein waren, wo in sicheren Gemächern getafelt und gebechert wurde. Gruppen, Familien und Paare wandern an sonnigen Tagen durch die Weinberge und den Wald hinauf bis zu dieser Ruine. Manchmal werden hier nachts Grillfeuer angezündet und man schaut nach Westen in die endlose Ebene mit ihrem Meer von Lichtern.
Ein idealer Platz war das vor sechs- oder siebenhundert Jahren, um den Feind schon von weitem heranrücken zu sehen. Damals stritten sich der Kurfürst und der Bischof um die Macht und um diese feste Burg mit ihren Türmen, bis im April 1460 alles von kurfürstlichen Söldnern zerstört wurde. Das Dorf wurde geplündert, die Burg geschleift und die Steine der Mauern über den Platz verteilt. In den Jahren und Jahrhunderten die folgten, wurden Steine von hier und aus den Mauerresten geholt, um woanders neue Häuser zu bauen. Als der Fortschritt mit neuen Fabriken um sich griff, begnügte man sich nicht mehr mit dem, was man fand, sondern begann Porphyr im großen Stil zu brechen, direkt aus dem Berg, denn man brauchte sehr viel mehr Steine für Häuser als je zuvor und für breite Straßen. Große Brocken wurden aus dem Berg geschlagen und gesprengt, mit langen Stangen schafften die Männer des Dorfes die Felsstücke hinunter in die Ebene, bis man eine Seilbahn baute. In der Ebene wurde das Gestein abtransportiert zwischen den Weinbergen auf der einen Seite und den Feldern, wo Weizen wuchs oder Tabak, auf der andern. Im Frühling blühten unzählige Kirschbäume und im Herbst trugen die Reben im Hang viele Trauben. Über den Weinbergen wurde der Berg immer stärker angegriffen, schließlich sogar mit Dynamit. So entstanden nach vielen Jahrzehnten wild gezackte Felsen, und als man begann Filme zu drehen, fand man in den Steinbrüchen eine ideale Wildwestlandschaft für Indianerfilme.
Die Burgruine hatte so nah am Steinbruch gestanden, dass sie zusammen mit dem Berg zur Hälfte weggesprengt worden war. Eines Tages nach den großen Kriegen im 20. Jahrhundert besann man sich auf ihren historischen Wert. Von da an wurde nicht mehr abgebaut, sondern aufgebaut. Der Steinbruch wurde geschlossen, Freiwillige aus dem Dorf sicherten die Mauern der Burg, befestigten lose Steine, legten Grundmauern frei und zeichneten Grundrisse auf. Wissenschaftler kamen und Leute vom Denkmalamt. Es wurde gezeichnet, archäologisch geforscht und gesammelt. Von der Aufsichtsbehörde kam Ingo Helford. Er überwachte das muntere Treiben des örtlichen Heimatpflege- und Denkmalschutzvereins, dessen freiwillige Helfer viel Spaß bei der Arbeit hatten und sich nicht von Ingo Helford stören ließen, wenn er neben ihnen stehen blieb und jeden Handgriff beobachtete.
In der Ebene baute man immer noch Weizen an, dazu Mais, Tomaten, Erdbeeren, Salat und es gab Blumenfelder aber fast keine Kirschbäume mehr, und auch die Tabakfelder waren weniger geworden. Ludwig Lorenz, einer der wenigen Bauern, die noch Tabak anbauten, staunte über den Rummel um die Ruine und machte Witze über das amtliche Interesse. Er war kein Mitglied im Heimatpflege- und Denkmalschutzvereins des Dorfes. Auch keiner seiner Stammtischbrüder gehörte dazu. Tagsüber arbeitete Ludwig Lorenz auf seinem Hof und den Feldern. Da gab es viel zu tun, wenn es auch wenig einbrachte. Abends saß er am Stammtisch und am Wochenende ruhte er sich aus. Von einem Fenster im obersten Stockwerk seines Hauses konnte er zur Burg hinaufscheuen und von ferne die Fortschritte vergleichen, die die freiwilligen Helfer gegenüber dem Vorjahr erreicht hatten. Mal wuchs die Burg rechts ein Stückchen in die Höhe, dann sah er die Leute wieder an einer anderen Stelle Hand anlegen.
Für Ludwig Lorenz gingen die Geschäfte schlecht, denn der Tabak, der auf seinen Feldern wuchs, brachte kaum noch Geld ein, und jedes Jahr nach der Ernte überlegte Ludwig Lorenz sich den Tabakanbau aufzugeben. Aber was dann? Auch der Preis für Weizen war schlechter als früher. Mit solchen Überlegungen war er nicht allein. Viele fanden, es wäre weit bequemer irgendwo in der Stadt zu arbeiten anstatt sich mit Saat und Ernte, dem Hochbinden von Tomaten und Bohnen, mit landwirtschaftlichen Maschinen und dem Großmarkt zu plagen. Die jungen Leute redeten nicht nur davon, sie arbeiteten wirklich in der Stadt. Fast alle hatten irgendeinen Büroposten in der Verwaltung oder arbeiteten im Verkauf. Die Alten redeten fast jeden Abend beim Stammtisch über nichts anderes.
Eines Abends, nachdem Ludwig Lorenz die Tabakernte zum Trocknen in der Scheune aufgehängt hatte, ließ sich der rostige Schlüssel, ein Ungetüm von Unterarmlänge, wieder einmal nur mit Mühe im Schloss des Scheunentors umdrehen und Ludwig Lorenz fluchte. Der verdammte alte Schlüssel war so verrostet wie das Schloss und sah aus als hätte man ihn schon zu Zeiten des Kurfürsten benutzt. "Blödes Mistding", schimpfte er. Doch dann zog plötzlich ein schelmisches Grinsen über seine Backen, als er den Schlüssel näher anschaute. Das Grinsen wurde immer breiter, je näher er dem Gasthaus an der Ecke kam und als er am Stammtisch den Schlüssel neben sein Weinglas legte, wunderten sich Peter, Dieter, Karl-Heinz und die anderen. "Was willst du denn damit?" Mit den Stammtischbrüdern heckte Ludwig Lorenz einen Plan aus, der alle Eingeweihten noch spät nachts auf dem Weg nach Hause grölend lachen ließ.
Auf der Burg wurde weitergearbeitet, jeden Tag ein bisschen. Irgendwann kam Ingo Helford wieder einmal angereist, um den Fortschritt der Arbeiten persönlich in Augenschein zu nehmen und kluge Ratschläge zu geben. Er ging mit langen Schritten zwischen den Mauern und den Helfern vom örtlichen Heimatpflege- und Denkmalschutzverein herum. Nachdem die freiwilligen Arbeiter einen der Türme um ein paar gemauerte Reihen erhöht hatten, war ein großer Teil der Grundfesten freigelegt worden, wobei alle immer sorgsam auf Scherben oder Münzen achteten, die in der Erde verborgen sein konnten. Bisher hatte es keine nennenswerten archäologischen Funde gegeben. Die Truppen des Kurfürsten hatten 1460 ganze Arbeit geleistet und restlos alles beseitigt, was an Gebrauchsgegenständen dagewesen sein mochte. "Schön wäre es, wenn man endlich etwas finden würde, was ein wenig Beachtung in der Fachwelt erregt", sagte Ingo Helford zum Bürgermeister, der ihn begleitete. Inzwischen fanden die Grabungen vor dem ehemaligen Burgtor statt an der Stelle, wo die Zugbrücke gewesen war. Vielleicht war einem der Fliehenden damals ein Säckchen mit Gold auf den Boden gefallen und die Nachfolgenden hatten es in den Schlamm getreten. Vielleicht hatte irgendwas die Jahrhunderte überdauert, das Anlass zu einem Artikel im archäologischen Fachblatt sein konnte, hoffte Ingo Helford. Er inspizierte zusammen mit dem Bürgermeister das Areal und ließ sich zeigen, was seit seinem letzten Besuch alles erneuert worden war, was man gefunden hatte an wertlosen Scherben. Er sah sich alles prüfend an und machte ein nachdenkliches Gesicht. Da kam einer der freiwilligen Helfer auf den Bürgermeister zu und sagte im tiefsten Dialekt etwas, was der Bürgermeister anschließend auf Hochdeutsch wiederholte. "Man hat den Schlüssel zum Burgtor gefunden."
Hastig stürzte Ingo Helford an die Stelle, wo die Leute ehrfürchtig wie auf einem Friedhof um den frisch ausgegrabenen Schlüssel standen, der riesengroß und rostig noch zur Hälfte in der Erde steckte. Aufgeregt rief Ingo Helford, dass nichts mehr angerührt werden dürfe, alles müsse abgesperrt werden, ein wissenschaftliches Team herbeigerufen, alle Laienarbeiten eingestellt.
So geschah es. Die freiwilligen Helfer gingen nach Hause, Wissenschaftler und Studenten kamen, Fotos wurden gemacht, Zeichnungen angefertigt, der Schlüssel wurde sorgfältig vermessen und ins Labor geschickt zur weiteren Prüfung. Ingo Helford bereitete seine Behörde auf eine Sensation vor. Er konnte das Ergebnis der Untersuchungen kaum abwarten. In allen Fachzeitschriften würde er Beiträge über den sensationellen Fund veröffentlichen, er würde zu Kongressen eingeladen, um über die Grabungen zu berichten - über den Moment, als man auf den großen Burgtorschlüssel stieß. Und das sogar in seinem Beisein.
Der Bürgermeister hoffte, dass nun Ausflügler und Feriengäste kommen würden, um die Ruine zu besuchen. Die ehemalige Burg und das Dorf würden vielleicht berühmt werden, wenn erst in allen Zeitungen von dem Schlüssel berichtet würde, der Jahrhunderte überdauert hatte. Alle warteten gespannt auf das Untersuchungsergebnis, auch Ludwig Lorenz und die gesamte Stammtischrunde. Die Stammtischbrüder grinsten und nickten und behaupteten, es wäre wirklich grandios, wenn jetzt Busladungen von Burgtouristen kämen. Ludwig Lorenz kündigte an, er werde dann Eintrittskarten verkaufen und den ganzen Tag in einem Häuschen aus Holz sitzen neben dem Eingang zur Burg. Dann nahm er sein Glas und zwinkerte seinem Nachbarn zu. Man würde ein Museum einrichten und der eine oder andere redete davon, dass er anstatt auf dem Feld in Zukunft auf der Burg arbeiten und Führungen durch die Ruine machen würde. Der Wirt des Gasthauses überlegte, dass er wohl ausbauen müsste oder ein zweites Gasthaus errichten, wenn viele Touristen kämen.
Nach Wochen schließlich kam das Ergebnis der Schlüsseluntersuchungen. Die Stammtischrunde schlug sich lachend in die Hände, aber einige waren auch enttäuscht, dass keine Ausflügler und Touristen kommen würden. Doch immerhin hatte man seinen Spaß gehabt. Nur der Wirt und der Bürgermeister fanden die Sache nicht zum Lachen. Am schlimmsten fühlte sich Ingo Helford, der nicht erkannte hatte, dass man ihm einen Streich spielte. Er ließ sich nie wieder sehen und die freiwilligen Helfer des Heimatpflege- und Denkmalschutzvereins sicherten und zogen weiter Mauern hoch ohne seine Einmischung. Hin und wieder schaute ein Mitarbeiter von Ingo Helford vorbei, denn die Behörde durfte die fröhlichen Dorfbewohner bei ihrer Denkmalschutzarbeit nicht ganze ohne Aufsicht lassen.
Jedem Handgriff folgt der junge Mann misstrauisch mit bebrillten Augen, während der Aufbau weitergeht und an sonnigen Wochenenden wandern Gruppen, Familien und Paare durch die Weinberge und den Wald hinauf bis zur Ruine. Manchmal werden nachts Grillfeuer angezündet und man schaut weit nach Westen in die endlose Ebene mit ihrem Meer von Lichtern.



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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