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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Asylum

© Andreas Erdmann


Tok. Tok. Tok! klopfte es eines Abends an deine Kellertür: Tok. Tok! und noch einmal: Tok! - und du standest im Flur, standest da auf den Dielen wie angewurzelt. Du horchtest, hieltest den Atem an, und dein Herz (bom bomm bommm) schlug hinauf bis zum Hals: Wer konnte das sein? Wer besuchte dich dort aus dem Keller? Und wer rief jetzt mit dumpfer Stimme von jenseits der Tür, rief dich - deinen Namen - durchs Holz?
Du fasstest Mut, tratest vor und riefst zurück: "Ja?!" - und: "Herein!" Ein Klacken der Klinke. Wer... irgendwer drückte und zog, stemmte sich gegen die Holzfläche: "Geht nicht. 'S ist abgeschlossen." "O Entschuldigung!", sagtest du und drehtest den Schlüssel im Schloss. Im nächsten Moment sprang die Türe auf, sprang einen Spalt weit nach innen, schwang weiter - dabei knarrte und knaaatschte sie laut in den Angeln - und vor dir öffnete sich der finstere Einstieg zum Keller. Du spähtest hinein und hinunter, konntest zunächst niemanden entdecken. Dann jedoch stieg dir ein säuerlich fauliger Atem entgegen, und du erkanntest den Umriss eines alten, buckligen Männleins in einem pechschwarzen Pelz, den Kragen hoch aufgestellt und die Fellmütze tief ins Gesicht heruntergezogen: "Guten Abend!", krächzte es aus dem Dunkel, "mein Name ist Kurz. Mein Meister schickt mich, Sie abzuholen für Ihre Reise nach Ea!" "Nach Ea? Na, dann warten Sie kurz, ich hole mir Stiefel und Jacke." "Neinein", meinte Kurz, "nicht nötig, die brauchen Sie nicht in Ea." "Einen Moment noch, ich mache uns Licht!", sagtest du, fingertest schon nach dem Lichtschalter.
"Lassen Sie das!", patschte der kleine Mann dir auf die Hand: "Kommen Sie, folgen Sie mir auf der Stelle!" "A-aber... man sieht dort unten ja nichts." "Ich, für meinen Teil, sehe genug, und mein Meister verabscheut künstliches Licht", knurrte er, kehrte sich um und stieg bereits vor dir die Treppe hinunter.
In deinen Hausschuhen tratest du auf den ausgetretenen Stein der obersten Stufe und hörtest von unten: "Vergessen Sie nicht, die Türe hinter sich abzuschließen!" Die Türe... warum? dachtest du noch. Doch dann langtest du nach dem Schlüssel, zogst den Flügel der Türe ins Schloss und stecktest den Schlüssel hinein, drehtest ihn dreimal herum. Du verstautest ihn in deiner Hosentasche; anschließend legtest du die Hand auf den Lauf des Geländers und folgtest dem Fremden hinab in das gähnende Dunkel.
Stufe um Stufe ging's hinab in die Tiefe. Spinngeweb streifte dein Haar - du ducktest dich. Die felsige Decke schwebte hernieder, der Gang wurde enger und enger. Mit einem Mal wich der Felsen zurück, und sowie du nun von der Treppe in das Kellergewölbe eintratst, wehte dir aus dem offenen Schwarz ein kühlerer Lufthauch entgegen. Du hieltest inne und lauschtest, vernahmst von drüben das Rauschen der Quelle, die im tiefsten Grunde des Kellers entsprang.
"Vorwärts, vorwärts! nicht stehenbleiben!" drängte der Alte, und weiter ging es auf steinigem Boden. Das Gewölbe kam dir tiefer vor als gewöhnlich - ihr hättet längst bei der hintersten Mauer anstoßen müssen - die Kellerdecke erschien dir viel höher als sonst, und als du den Blick nach oben lenktest, konntest du in der Finsternis etwas erkennen: Du sahst - sahst, dass der Raum grenzenlos war, sahst in der Höhe die blinzelnden Sterne! - Sterne, Sterne blinzelten auch um dich her und tanzten dort auf dem Wasser, das du plötzlich drunten zu deinem Füssen erblicktest: Sternlichter tanzten weit, weithin auf den Wellen eines rauschenden Meeres, und in der Ferne über der wogenden Flut erhob sich lautlos die weiße Sichel des Mondes.
"W-w- wo sind wir?", fragtest du.
"Fragen Sie nicht, folgen Sie mir!", kraxelte Kurz durch die Klippen zum Ufer. Auf einmal erspähtest du eine Fähre, die unten am Steg zur Abfahrt bereit lag - und am Ende des Stegs sahst du den Fährmann in einem langen, luftig flatternden Mantel: Er stand da mit wehendem Haar und schaute hinaus auf die endlose See.
"Halt!", schnellte Kurz auf der untersten Klippe herum, "geben Sie mir jetzt den Fährlohn!" Da suchtest du in deinen Hosentaschen und brachtest einige klimpernde Münzen zum Vorschein.
"Oh nein, das reicht nicht", meinte der Alte: Geben Sie mir alles!" "Alles?" "Nun", grinste er, "wenn Sie erst drüben in Ea sind, brauchen Sie ja nichts mehr." Daraufhin gabst du ihm all dein Geld.
"Das reicht noch nicht hin", bekamst du zu hören. Du leertest die Taschen vollends und gabst ihm gar deinen Schlüssel, drücktest ihm auch deine goldene Uhr in die Hand.
"Nein, geben Sie alles, was Sie beschwert, was Sie mit sich herumschleppen und an Ihrem Leib tragen!" "A-aber - es ist so kalt und windig hier..." "Jammern Sie nicht!" So stiegst du aus deinen Pantoffeln, schlüpftest aus Hemd und Hosen und reichtest dem Mann all deine Sachen. Völlig unbekleidet standest du da - und er forderte obendrein: "Legen Sie auch Ihre Maske ab!" So kam es, dass du dein Lächeln abgabst, jedweden Ausdruck von Freude und Zuversicht und sogar deine Hoffnung.
"Danke, das reicht!", sagte der Fährgehilfe.
Und nackt, wie du warst, stiegst du ihm nach, von der Klippe auf die wankenden Bretter vom Bootssteg. Der Fährmann hatte euch wohl gehört, fuhr herum und kam dir entgegen. - "Guten Abend!", grüßtest du ihn. Er erwiderte nichts.
"Nun können wir aufbrechen", sagtest du freundlich, und er herrschte dich an: "Sie haben hier gar nichts zu sagen! Die Stunde des Aufbruchs bestimme ich. Ich - ich allein kenne das Wetter, kenne die Gefahren der Nacht und das Kommen und Gehen der Flut." "Ja, aber..." "Schweigen Sie!", schrie er dich an. Und du schwiegst.
Kurz darauf - "Eeeja hooo!" - erteilte der Fährmann das Zeichen zum Aufbruch. Du folgtest den beiden Männern ins Boot und stiegst durch allerlei Tand und Zeug, das an Deck durcheinanderlag, bis zum Bug vor. Der Fährmann stellte sich achtern ans Steuer. Sein Fährknecht hievte den Anker an Bord, löste die Leinen und zog das Segel am Mast auf. "Fääähre ahoi!" rief es vom Steuer, und schon fuhr der Wind in das Segeltuch, die Fähre setzte sich in Bewegung und trieb nun von Sternen umwogt hinaus auf das offene Meer.
Du lehntest im spitzen Winkel des Bugspriets, spähtest voraus und sahst bald, wie die Sterne erloschen. Dein Auge verlor sich im Nichts. Der Himmel war ganz verhangen. Ein dichtes Gewölk hatte sich vor euch zusammengebraut, und ihr steuertet geradewegs darauf zu.
"Ferge, wir müssen einlenken!", riefst du nach hinten.
"Schweigen Sie!", schroffte es da vom Heck. "Ich bin der Käpt'n und ich bestimme den Kurs! Sie aber kennen ja weder den Weg noch das Ziel Ihrer Reise." Schneller und schneller brach das Gefährt durch die Wogen. Der Bug stach ins Wasser und warf hohe Wellen auf, von unten her peitschte die Gischt. Dann fuhr ein Ruck durch das Boot. Es schnellte blitzartig nach vorn, und du fielst herum an den Fockmast, schlangst die Arme ums Holz und schriest nach hinten: "Wir müssen zurück! Zurück!"
"Das ist unmöglich!", tönte es aus der tosenden Brandung. "Es gibt kein Zurück in den Schnellen der Zeit!" Schon stürzte das Boot in einen Strudel. Ein Sog erfasste es, zog es durchs brennende Wasser, das im wilden Wirbel über dem Segel zusammenklatschte. Auf einmal ein flammender Blitz! Sofort rollte und grollte der Donner heran. Und schlagartig setzte ein Wolkenbruch ein: Wassermassen prasselten von droben aufs Deck. Der Boden bebte, alles umher rutschte und rasselte im reißenden Strom durcheinander. Du wurdest vom Mast weg nach achtern geschleudert, rudertest mit deinen Armen, wolltest noch mit der Hand nach den schlagenden Tauen vom Ladebaum greifen - langtest ins Leere, stolpertest. Stürztest kopfüber, schlugst der Länge nach auf die Bohlen. Am Grunde ein Bersten. Vom Kiel reißt es das Boot in die Höhe, und du schlitterst bäuchlings zum Heck - saust auf den Fährmann zu, der sich dort fest an das Steuerrad klammert.
Über dir steht er, mit flatterndem Mantel, sein kantiger Schädel grell im Gewitter, und aus den schattigen Augenhöhlen sticht eine Flamme: "Zum Teufel mir dir, verfluchte Fähre!", vernimmst du noch seine feurige Stimme: "Fahr doch zur Hölle, zur Hölle!" - dann fällst du herum, knallst mit der Stirn vor die Bordwand und plötzlich - urplötzlich - ist's stille.
Stille.
Aus einem verschlungenen Schlaf kamst du zu dir und fandest dich, einen entsetzlichen Alptraum vor Augen, auf den Bohlen liegend am Backbord wieder.
Du hobst den Blick, sahst dich sogleich geblendet, hangeltest dich an der Bordwand hinauf und blinzeltest über die Reling: Es war hell am Tag. Die See stand still, und die Fähre ankerte auf einem schwelenden Nebel in einem gleißenden Licht, in dem alles umher erstrahlte.
"Wir sind in Ea!", vernahmst du den Fährmann irgendwo aus dem Glast, und der Fährknecht raunzte dir zu: "Also los, geh'n Sie an Land! Worauf warten Sie noch!?" In der grellen Lichtflut aber konntest du kein Land entdecken.
"Ach, laßt mich doch bleiben!", flehtest du nun. "Ich fürchte mich so vor dem Tod - und fürchte vor allem das Sterben!" "Sterben, ach was!", sprach der Fährmann. "Bislang ist noch niemand gestorben. Niemand stirbt. Niemand erblickt den Tod. Sehen Sie: wenn jemand stürbe, wäre er doch gar nicht mehr da, um dem Tod ins Auge zu blicken." "Hmmmm", machtest du, und der Fährmann fuhr fort. "Anders gesagt: Mein Herr, Sie können unmöglich sterben, denn - Sie sind ja schon lange tot!" "Omeingott! Ich bin - tot?", du - tief erschrocken.
"Tja, tot. Tot sind Sie. Tot waren Sie, waren es immer. Sie leben nicht, leben nicht wirklich und haben nie - niemals - wirklich gelebt. Sie haben von Anfang an das Leben versäumt. Das Leben hat Sie geliebt, Sie aber liebten es nicht und begaben sich nicht in seine Hand. Sie suchten sich wohl hier und dort in der Welt - aber haben sich nirgends gefunden. So verstrich Ihre Zeit, und Sie blieben ein Außerirdischer auf Ihrem eigenen Planeten." "Ich? Ich war niemals ich?" "Bis auf den heutigen Tag! Somit sind Sie auf seltsame Weise unsterblich geworden. Denn wie könnten Sie sterben, ohne gelebt zu haben - ja, ohne jemals geboren zu sein?!" "Ich verstehe. Also stirbt am Ende niemand." "Am Ende stirbt nur der Tod", sagte er noch und drängte sodann: "Nun. Es ist höchste Zeit, Sie müssen von Bord!" Er streckte dir noch seine Hand entgegen - "Hier, den werden sie brauchen!", sagte er und überreichte dir deinen Schlüssel.
Verwundert nahmst du ihn an dich, da hieß es auch schon: "Also, auf Nimmerwiedersehn!" "Ja dann, auf Nimmerwiedersehn!", riefst du den Fährleuten zu und stiegst auf das Brett, das dem Ausstieg anlag. Und nackt, wie du warst, gingst du im Licht auf dem wackligen Holz, das dich von der Fähre zu einem felsigen Grund hinüberführte.
"Willkommen in Ea!" sprach der Stein, auf den du jetzt tratest. Und du gingst weiter, bis du im Licht einen Schatten erkanntest. Du gingst in den Schatten ein und sahst dich jetzt vor der steinernen Treppe, die aus dem hell erleuchteten Kellergewölbe hinauf in deine Wohnung führte. Und wie du den Fuß auf die unterste Stufe der Treppe setztest, war dir, als hörtest du in deinem Rücken aus der Tiefe des Kellers noch einmal die Stimme des Fährmanns: "Gehe hinauf in dein Leben, Mensch - Lebewohl! Und nun lebe!
Lebe!"



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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